Agilität in der öffentlichen Verwaltung
Inhaltsverzeichnis
Die Komplexität der Fälle nimmt zu
Plötzliche Herausforderungen sind immer häufiger der Fall
Die Dynamik insgesamt nimmt zu
Schere zwischen arm und reich öffnet sich weiter
Zunehmender Extremismus und Terrorismus
Die Finanzausstattung der öffentlichen Hand wird schlechter
Die zunehmende gesellschaftliche Polarisierung
Bürger fordern Einbeziehung in Entscheidungen
Die „Vergreisung“ des öffentlichen Diensts schreitet fort
Die Notwendigkeit zur silo-übergreifenden Zusammenarbeit
Die Weisungsgebundenheit wird zum Hindernis
Die Digitalisierung erfüllt nicht die an sie gestellten Erwartungen
Komplizierte Zuständigkeitsregeln
Resümee
„Agilität und öffentliche Verwaltung – das passt doch nicht zusammen.“ Das hören wir im Forum Agile Verwaltung öfter, wenn wir unser Forum vorstellen. Das wir das anders sehen ist offenkundig, sonst hätten wir uns nicht im Februar 2016 in Karlsruhe zusammengefunden, um eben dieses Forum aus der Taufe zu heben. Damals waren wir eine Runde aus 6 Praktikern aus kleinen und großen Ämtern, Behörden und Dienstleistern, die eng mit der öffentlichen Hand zusammenarbeiten. Uns einte die Erkenntnis, dass die Herausforderungen, denen sich die öffentliche Verwaltung jetzt und in Zukunft stellen muss, nur noch bedingt mit den tradierten Herangehensweisen lösen lassen.
Die öffentliche Verwaltung agiert nicht losgelöst von der Gesellschaft und dem Umfeld, in die sie eingebettet ist, sondern ist eng mit den sie umgebenden Systemen verbunden. Komplexe Systeme, die sich immer schneller wandeln und verändern und damit auch eine agilere „Anpassung“ von der öffentlichen Verwaltung verlangen.
Im Rahmen unseres Gründungsworkshops 2016 entwickelten wir 13 Thesen, um die Notwendigkeit zu untermauern und die wir auch nach über zwei Jahren für aktueller denn je halten:
Die Komplexität der Fälle nimmt zu
Auch die öffentliche Verwaltung hat immer öfter mit komplexen Fällen, Vorgängen und Projekten, aber auch Themen zu kämpfen, die oft erst kurzfristig sichtbar werden und kaum vorhersehbare Problemstellungen erzeugen.
2016 – der eine oder andere erinnert sich vielleicht noch – war das Thema der Flüchtlinge extrem akut und ist es bis heute, wenn bei Weitem nicht mehr so dringlich, als kurzer Hand Sporthallen in Notquartiere umgewandelt wurden. Eine – seit Jahren nicht mehr da gewesene – Anzahl Flüchtlinge musste untergebracht und versorgt werden. Die sogenannte Flüchtlingskrise ist bis heute das Exempel par excellence, denn es war ein in erster Linie eine Verwaltungskrise. Die öffentliche Verwaltung war in dem Moment mit der Herausforderung vollkommen überfordert, da ihre Struktur auf derartig unterwartete Herausforderungen nicht ausgerichtet ist.
Die Bürgerinnen und Bürger waren es, die weiten Teilen zeigten, wie eine agile Organisation dieser Herausforderung lösen kann, während die öffentliche Verwaltung in einem heillosen Durcheinander an Kompetenzgrenzen stieß und in ihrer Reaktionsfähigkeit eingeschränkt war.
Plötzliche Herausforderungen sind immer häufiger der Fall
Plötzliche „Krisen“ wie die Finanzkrise oder der Flüchtlingsstrom kommen unvorhergesehen und verlangen sofortiges Handeln. Und sie sind häufiger der Fall als noch vor wenigen Jahrzehnten. Auch dies das Ergebnis einer sich verändernden, immer schneller im Wandel befindlichen Welt der Umbrüche, in der eine dauerhafte Stabilität des Umfelds immer seltener wird. Die Globalisierung und ihre Auswirkungen machen nicht vor der öffentlichen Verwaltung halt. Auch dort ist das Zeitalter der globalen Interdependenzen spürbar. Es gilt schon lange nicht mehr, dass es uns in Deutschland nicht zu interessieren braucht, wenn ein Sack Reis in China umfällt. Ganz im Gegenteil, denn das Erdbeben ist heute weltweit spürbar.
Die Dynamik insgesamt nimmt zu
Neben den plötzlichen Herausforderungen einer globalisierten Wirtschaft und den globalen Auswirkungen politischer und ökologischer Krisen, lässt sich eine Beschleunigung der gesellschaftlichen Änderungen feststellen. Unserer Gesellschaft wird nicht nur älter, sie wird auch bunter. Während wir es noch vor wenigen Jahrzehnten mit wenigen gesellschaftlichen Milieus zu tun hatten, haben wir es heute mit einer vielfach fragmentierten Milieustruktur mit vielfältigeren Bedürfnissen, Wünschen und Problemlagen zu tun. Die einstige Großfamilie existiert schon lange nicht mehr und auch die einstigen nachbarschaftlichen Beziehungen, das soziale Gefüge, hat sich durch die wachsende Mobilität massiv verändert. Das Ganze hat Auswirkungen auf viele Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge und der öffentlichen Infrastruktur. Von der Städteplanung und dem Städtebau bis hin zur Gestaltung öffentlich-rechtlicher Dienstleistungen wächst der Bedarf, auf diese Bedürfnisse und Wünsche zu reagieren. Gerade die Städte und Gemeinden spüren diesen Veränderungsdruck, denn sie sind diejenigen, die den Bürgern mit ihren Alltagsproblemen am nächsten stehen.
Schere zwischen arm und reich öffnet sich weiter
Diese Entwicklung kann zu Ghettoisierung und Subkulturisierung führen, auch wenn es bislang in Deutschland noch kaum Ghettos wie bspw. in französischen Vorstädten gibt. Die Tendenz dazu ist deutlich erkennbar und das ist eine Herausforderung für den Städtebau und die Stadtplanung. Aber auch die Themen Altersarmut, Kinderarmut und gesellschaftliche Teilhabe spielen hier hinein. Diesen Herausforderungen muss sich auch die öffentliche Verwaltung stellen, um ihrer Rolle als öffentlicher Aufgabenträger im Namen der Bürgerschaft gerecht zu werden und ein Miteinander der unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen zu ermöglichen.
Zunehmender Extremismus und Terrorismus
Die Politik und Verwaltung, auch auf kommunaler Ebene, tut sich schwer mit Antworten auf Phänomene wie „Wutbürger“ und Pegida. Das kommunale Klima wird davon aber stark geprägt. Die im kommunalen Umfeld häufig zu beobachtende sachpolitische Orientierung der Kommunalpolitik wird damit nicht nur infrage, sondern auch das Miteinander in der Stadt- und Dorfgemeinschaft auf eine ernst zu nehmende Probe gestellt. Der soziale Zusammenhalt, der im sozialen Miteinander Konflikte gar nicht erst entstehen hat lassen und der den Ausgleich der Interessen befördert hat, schwindet. Die Verwaltungen werden zusätzlich zunehmend mit Phänomen wie der Reichsbürgerbewegung konfrontiert, die zusätzlich Belastungen mit sich bringen, auf die es keine einfachen Antworten gibt.
Die Finanzausstattung der öffentlichen Hand wird schlechter
Der Kostendruck nimmt weiter zu. Bereits heute haben gerade die Kommunalverwaltungen ihren Personalbestand extrem reduziert und dringend erforderliche Investitionen in die Infrastruktur weit über das vertretbare Maß hinausgezögert. Viele Städte und Gemeinden, insbesondere in strukturschwachen Regionen, haben bereits Probleme kommunale, freiwillige Aufgaben zu erfüllen, da sie die Finanzmittel für die Pflichtaufgaben benötigen. Die öffentliche Infrastruktur leidet. Frei- und Hallenbadschließungen, der desolate Zustand mancher Schulgebäude sind nur einige der vielen Beispiele. Auch Bund und Länder – wie, die Tagesberichterstattung in Print und Hörfunk immer wieder durchblicken lässt – haben mit knappen Kassen der öffentlichen Hand zu kämpfen. Daran wird sich in absehbarer Zeit nichts ändern. Selbst bei wachsenden Steuereinnahmen, der Investitionsstau lastet schwer auf den öffentlichen Kassen. Es steht sogar zu befürchten, dass der Trend sich weiter verstärken wird – unter anderem auch die Belastungen der Pensionen, die durch die großen Pensionierungswellen zu erwarten sind. Statt jedoch auf die Verbesserung der eigenen Strukturen mit einer Einbindung der Nutzer in die Entscheidungsprozesse und der Flexibilisierung der Prozesse zu setzen, antwortet die öffentliche Hand noch immer reflexartig mit Privatisierung öffentlicher Aufgaben und verstärkter Regulierung.
Die zunehmende gesellschaftliche Polarisierung
Wir beobachten in der Gesellschaft zugleich eine zunehmende Polarisierung. Auf der einen Seite steht die Forderung nach Stabilität und Sicherheit, auf der anderen wird der Ruf nach mehr Agilität in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik in allen Lebensbereichen immer lauter. Der Ruf nach höherer Professionalisierung von immer mehr Bereichen des Lebens, geht einher mit einem sinkenden Ansehen zahlreicher Berufe. Der Beruf des Verwaltungsmitarbeiters wird bspw. immer häufiger mit dem Bild des regelverliebten, unflexiblen und nach Vorschrift arbeitenden Bürokraten gleichgesetzt. Mit der wachsenden Professionalisierung geht zusätzlich eine immer stärkere Spezialisierung einher, die wiederum die bestehenden Silostrukturen verstärkt. Gleichzeitig gewinnen jedoch immer mehr Querschnittsthemen an Bedeutung und der Bedarf nach interdisziplinärer Zusammenarbeit über die Silogrenzen hinweg wächst zunehmen. Projektarbeit soll es richten, diese steht aber viel zu oft im Konflikt mit der ausgeprägten Hierarchie in Organisationen, die Entscheidungsprozesse in Projekten „aufblähen“ und schnelle Anpassungen erschweren.
Bürger fordern Einbeziehung in Entscheidungen
Die Systemgrenzen verändern sich, sie werden weicher. Wir erleben eine weniger „schubladentreue“ Politik. Man kann zumindest die Politiker aus etablierten Parteien weniger den bisherigen „Lagern“ zuordnen: Konservative propagieren „progressive“ Lösungen, „linke“ Politiker äußern „rechte“ Standpunkte. Die Differenzierung auf verschiedenen Ebenen (politisch, behördlich, Markt) nimmt zu. Gleichzeitig fordern die Bürger ein verstärktes Mitspracherecht bei Entscheidungen. Sie wollen unmittelbar bei den Themen mitsprechen, die sie betreffen und nicht mehr länger passive Objekte des Verwaltungshandelns sein. Zugleich ist die Verwaltung zunehmend auf die Kooperation der Betroffenen im Aufgabenvollzug angewiesen.
Die „Vergreisung“ des öffentlichen Diensts schreitet fort
Das Durchschnittsalter der Mitarbeiter im ÖD nimmt deutlich zu. Die Attraktivität des Öffentlichen Dienstes droht abzunehmen. Es gibt zu wenig Nachwuchs, der die ausscheidenden Mitarbeiter ersetzen wird. Bereits jetzt spürt die öffentliche Hand in einigen Teilen, was auf sie in Zukunft zukommen wird. Erzieherinnen für Kindergärten, IT-Spezialisten und technische Berufe – sie sind bereits jetzt schwer gefragt und schwer für den öffentlichen Dienst zu gewinnen. In den nächsten Jahren wird eine große Pensionswelle Breschen in die Belegschaft nahezu aller Behörden und Ämter schlagen, die nur schwer zu schließen sein und die Herausforderung noch weiter vergrößern wird. Gleichzeitig wird diese Pensionswelle erhebliche finanzielle Belastungen für die öffentliche Hand nach sich ziehen, da gerade Bund und Länder in den seltensten Fällen ausreichend Rückstellungen für Beamtenpensionen gebildet haben. Etwas besser stehen die Städte und Gemeinden dar, die bereits seit Jahren Rückstellungen bilden. Aber auch diese dürften kaum ausreichen, den Finanzbedarf dauerhaft zu decken, so dass sich das Finanzproblem der öffentlichen Hand erheblich erhöhen wird.
Die Notwendigkeit zur silo-übergreifenden Zusammenarbeit
Immer öfter wandelt sich die Organisation öffentliche Aufgaben von der klassischen Ämterstruktur hin zu einer funktionalen Spezialisierung der Organisationsstruktur. Fachbereiche werden aus Rationalisierungsgründen neu „zugeschnitten“, Querschnittsfunktionen zusammengefasst. Wenn z. B. die Zuständigkeit für die Schulgebäude aus Rationalisierungsgründen von Schulgebäude zur Liegenschaftsverwaltung wandert, dann führt das umgekehrt zu mehr Kooperationsbedarf zwischen beiden Ämtern, bei denen aber die Zuständigkeitsgrenzen zum Hindernis werden und im extremsten Fall zu vermeidbarem Kompetenzgerangel führen.
Die Weisungsgebundenheit wird zum Hindernis
Es mag so manchen Außenstehenden im ersten Moment verwundern, aber auch die öffentliche Verwaltung stöhnt schwer unter der wachsenden Regelungswut gesetzlicher Normen. Die Normengebundenheit der öffentlichen Hand, lange Zeit Garant für das rechtmäßige Handeln der öffentlichen Verwaltung, wird immer mehr zum Hindernis, weil sie in Regelungswut und Überregulierung zu enden droht. Der Normendschungel wird dichter, gesetzliche Vorschriften immer widersprüchlicher, die Rechtsprechung komplizierter. Was schon von einem erfahrenen Verwaltungsmitarbeiter nur schwer durchschaut wird, ist für den Bürger kaum noch nachvollziehbar. Handlungsspielräume werden immer enger gefasst, das individuelle Eingehen auf Besonderheiten eingeschränkt und das kurzfristige Durchdringen der komplizierten und zunehmend auch komplexen Materie, sich häufig widersprechender gesetzlicher Regelungen zeitintensiver und fehleranfälliger.
Die Digitalisierung erfüllt nicht die an sie gestellten Erwartungen
Trotz der – häufig bei Politik und hohen Entscheidungsträger der öffentlichen Verwaltung verbreiteten Meinung – führt Digitalisierung nicht „automatisch“ zu einer besseren Zusammenarbeit zwischen Verwaltung und Außenwelt. Flexible Workflowsysteme tauchen zwar als Vision am Horizont auf, aber es ist oft unklar, welches der konkrete Nutzen sein soll und ob sie zu weniger oder mehr Hektik in den Arbeitsabläufen führen. Ein Großteil der bisherigen Ansätze ist wenig bis kaum nutzerfokussiert und bezieht weder Mitarbeiter noch Bürger bei der Entwicklung von Ideen oder der Umsetzung selbiger ein, sodass an den Bedürfnissen der Anwender vorbei Lösungen geschaffen werden. eGovernment verkommt dabei allzu häufig zum Prestigeobjekt, bei dem die „politische“ Außenwirkung im Vordergrund steht, das tatsächliche Potential aber nicht gehoben wird.
Komplizierte Zuständigkeitsregeln
Nicht nur die Überregulierung ist – gerade in Deutschland – ein großes Problem, sondern auch die Rückkehr/ Verfestigung von Kleinstaaterei und Kirchturmdenken. Aufgaben sind in der Regel einzelnen Verwaltungsebenen zugeordnet und die Beharrungskräfte an diesen Aufgaben festzuhalten sind stark ausgeprägt, weil auf diesem Wege (Zuständigkeitsprinzip, kommunale Selbstverwaltung) die eigenen Interessen vor das Allgemeinwohl gestellt werden können. Das sehen wir auf allen Ebenen. So gelingt es auf der europäischen Ebene nicht, das Flüchtlingsproblem als gemeinsame und überstaatliche Aufgabe anzugehen. Auch auf der mittleren Ebene ist die Aufgabenzusammenführung zwischen Kommunen und BAMF nur mühsam in Gang gekommen. Und auch die interkommunale Zusammenarbeit scheitert meist daran, dass niemand etwas von seiner Zuständigkeit abgeben möchte. Dann werden Zweckverbände mit riesigen Gremien gebildet, die kaum entscheidungsfähig sind. Das bedeutet, dass Gesetze sowohl durch materielle Regelungen als auch durch Zuständigkeitsregeln effiziente Arbeit erschweren können.
Resümee
Auf diese Herausforderungen kann die öffentliche Hand nur mit Werkzeugen reagieren, die für die steigende Komplexität geschaffen sind. Ihr muss es dabei gelingen, die Endanwender als Mitstreiter ins Boot zu holen und durch iterativ-inkrementelle Vorgehensweisen ihre Handlungsfähigkeit wieder zu gewinnen. Die agile Denk- und Arbeitsweise erfüllt diese Bedingungen. Sie kann einen wertvollen Beitrag dazu leisten, die öffentliche Hand fit für die Zukunft zu machen und ihr ermöglichen, auch in Zukunft das zu sein, für was sie geschaffen wurde: Dienstleister für die Bürger und stabilisierender Ordnungsrahmen in einer chaotischen Welt.
Hinweise:
Interessieren Sie sich für weitere Tipps aus der Praxis? Testen Sie unseren wöchentlichen Newsletter mit interessanten Beiträgen, Downloads, Empfehlungen und aktuellem Wissen.
Unter https://agile-verwaltung.org/ finden Sie weitere Informationen zum Forum Agile Verwaltung.
Thomas Michl hat im t2informatik Blog weitere Beiträge veröffentlicht, u. a.
Thomas Michl
Thomas Michl ist Dipl.-Verw.Wiss. und MBA. Zehn Jahre lang war er im öffentlichen Dienst tägig, bevor er 2018 für borisgloger consulting GmbH und im Anschluss für die Exxeta AG arbeitete. Heute ist der leidenschaftliche Agilist für die FourEnergy GmbH als Senior Business Consultant aktiv.
Thomas Michl zählt zu den Gründungsmitgliedern des Forums Agile Verwaltung und ist Vorstandsmitglied des Trägervereins. Das Forum Agile Verwaltung wird ehrenamtlich getragen und hat sich zum Ziel gesetzt, die Idee des Agilen Manifests in die öffentliche Verwaltung zu tragen, in dem es eine Plattform für den Austausch und die kollegiale Beratung bietet.