Agilität beginnt im Herzen

Gastbeitrag von | 15.08.2019

Vor kurzem hatte ich einen schrecklichen Albtraum.

Ich träumte, ich hätte eine prima Idee, die unser Projekt voranbringen und die Arbeit in den Teams wesentlich vereinfachen könnte. So weit so gut. Also ging ich zu unserem Produktmanager. Ich erläuterte ihm meine Idee. Zuerst hörte er aufmerksam zu. Allerdings wurde sein Gesicht immer mehr … Ich weiß nicht wie es beschreiben soll, immer mehr … zu einem Excel-Sheet. Er fragte mich, ob ich schon ein Budget beantragt hätte. Das hatte ich natürlich noch nicht, ich wollte ja meine Idee mit ihm besprechen. Einige der Excel-Zellen in seinem Gesicht  färbten sich rot. Dann fragte er mich, ob ich denn meine Idee mit den anderen Projekten und ihrem Vorgehen abgeglichen hätte. Schließlich könnte ja nicht jeder einfach machen, was im gefällt. Weitere Zellen in seinem Gesicht färbten sich orange und rot. Ich nannte ihn insgeheim „EXCELLARATOR“.

Da er keine Entscheidung treffen wollte, schickte er mich zu unserer Systemarchitektin. Früher war sie die verantwortliche Projektleiterin. Aber nun waren wir agil – und da gibt es keine Projektleiter mehr. Sie fragte mich nach dem Status des Projekts in unserem Team – und da wir ja nicht wirklich grün seien, bräuchten wir auch keine neuen Ideen. Wir sollen doch erst mal mit dem Projekt fertig werden. Sie betonte wie weit das Projekt hinter dem Zeitplan hinterherhinke – da können wir uns keine Extrabonbons leisten. Ihre Bonuszahlung hängt schließlich davon ab. Ich könne ja machen, was ich wolle und bekäme mein Geld. Aber bei ihr hängt ihr Geld unmittelbar vom Erfolg des Projekts ab. Sie könne darauf nicht verzichten, wo sie doch gerade ein Haus gebaut hat. Ich solle nochmal kommen, wenn das Projekt grün ist. Für mich hatte sie die „STATUSRITITIS“.

Aber ich wollte immer noch nicht aufgeben. Ich hatte von unserem Epic-Owner immer einen guten Eindruck. Obwohl ich mit ihm noch nie ein persönliches Wort gesprochen hatte. Ich hatte ihn einige Male bei offiziellen Veranstaltungen des Projekts gesehen. Überraschenderweise nahm er sich für mich Zeit. Ein gutes Zeichen dachte ich. Also erläuterte ich ihm meine Idee. Aber nach ungefähr einem Viertel meiner Rede (die nicht länger als zwei Minuten dauerte) unterbrach er mich. An technischen Einzelheiten wäre er nicht interessiert. Auch er hielt mir sofort den Zieltermin des Gesamtprojekts vor. Wir müssen liefern und nicht ständig neue Sachen ausprobieren. (Das war mir nun wiederum neu – neue Sachen hatte ich im gesamten Projekt noch nicht ausprobiert.) Er verbot mir regelrecht, über neue Sachen auch nur nachzudenken. Er erschien wie ein übermächtiger „GENERAL“ mit goldenen Schulterklappen.

Ich beschloss also zum CIO zu gehen. Er hatte schließlich die agile Organisation gepredigt. Ich stehe vor seiner Bürotür und höre ihn laut telefonieren …

Aber dann wachte ich schweißgebadet auf.

Wir wollen agiler werden

Mein Traum beschäftigte mich noch eine ganze Weile. Ich dachte viel darüber nach. Was wollte mir mein Unterbewusstsein sagen? Ging es nur um mein Ego, dass niemand meine Idee hören möchte? Fühlte ich mich unverstanden? Ging es um meine persönliche Auffassung von Agilität und Zusammenarbeit? Nach Wikipedia bedeutet Agilität: „Agilität ist ein Merkmal des Managements einer Organisation, flexibel und darüber hinaus proaktiv, antizipativ und initiativ zu agieren, um notwendige Veränderungen einzuführen.“¹ Nach Flexibilität und Proaktivität hörten sich der Excellarator, die Statusrititis-Infizierte und der General wirklich nicht an. Laut dem agilen Manifest geht es bei Agilität um Individuen, um die Reaktion auf Veränderung, um Zusammenarbeit und nicht zum Schluss geht es um laufende Software. Wir wollen agiler werden. Für ein klassisches Management bedeutet „agil“ einfach: Wir werden eher fertig. Im Kern bedeutet es aber lediglich, sich auf Veränderungen einzulassen und nicht einfach einem vorher festgelegten Plan zu folgen. Daraus folgt aber auch, sich von festgelegten Projekt-Timelines zu lösen und sich für Produkt-Gedanken zu öffnen. Eine Gegenüberstellung dieser beiden Denkschulen findet sich in der folgenden Tabelle:

Vergleich Projekt - Produkt²

Die Sehnsucht nach Kreativität

Wenn ich eine Idee habe, dann wünsche ich mir einen Zuhörer und Tippgeber. Einen Ansprechpartner der Kreativität und neue Ideen fordert und fördert. Aber wieso Kreativität?

Nach meiner Überzeugung ist Softwareentwicklung ein zutiefst kreativer Prozess. Wir erschaffen mit unserer Technik, eine digitale Repräsentation der Geschäftsprozesse, die vorher so noch nicht da war. Das heißt aber auch, dass Kreativitätsblockaden, wie

  • der Konformitätsdruck des EXCELLARATORS
  • oder seine extreme Budgetorientierung,
  • die eingeengte Erfolgsorientierung und der Zeitdruck der STATUSRITITIS-Infizierten,
  • und die Denkverbote des GENERALS

aus der (Projekt-)Welt verschwinden müssen.

Kreativität in den cross-funktionalen Teams der heutigen Software-Entwicklung zu ermöglichen, heißt letztlich den Teams und den Individuen in den Teams Freiräume zu schaffen, die neue, unkonventionelle Ideen ermöglichen. Und gleichzeitig die Freiheit diese Ideen auch umsetzen. Das schließt natürlich auch Scheitern ein. Dieses Scheitern muss akzeptiert sein. Ansonsten sind neue Ideen schlichtweg nicht möglich. Kreativität ist möglich, wenn der Einzelne im Team und das Team im Projekt Anerkennung für seine bzw. ihre Leistungen erfährt. Und das heißt dann, nicht nur Agilität „von oben“ zu verordnen, sondern wirklich bereit sein, Agilität zu leben.

Agilität leben

Agilität zu leben, heißt Zuhören. Ich muss auf die Mitarbeiter, Teamkollegen zugehen, ihren Ideen lauschen und ihre Meinungen ernst nehmen. „Ernst nehmen“ heißt dann eben auch, Änderungen herbeizuführen. Bloße Lippenbekenntnisse helfen hier nicht. Ob ein Team ernst genommen wird oder nicht, wird von den Mitarbeitern sehr schnell wahrgenommen. Ehrlichkeit ist in jeglicher Beziehung gefragt.

Agilität zu leben, heißt auch Neues bewusst aufzunehmen und zu zulassen. Neue Ideen brauchen Platz. Sie können in der Regel nicht in enge Projekt-Westen gezwängt werden. Aussagen wie „Bauchen wir das denn? Wir haben doch schon xyz.“, sollten sich von selbst verbieten. Die Angst unnötig Geld auszugeben und Ressourcen einzusetzen, bestimmt unser Denken. Schon der Begriff „Ressourcen“ ist fürchterlich verkehrt. Man erreicht keine Kreativität mit Ressourceneinsatz, sondern mit Menschen.

Kreativität braucht Freiheit. Allerdings hemmt grenzenlose Freiheit auch Kreativität. Teams brauchen klare Rahmenbedingungen, in denen sie agieren können. Dazu gehört die freie Entscheidung über zu verwendende Technologien – innerhalb der Rahmenbedingungen. Dazu gehört die freie Entscheidung der im Team verwendeten Definition of Done – ohne andere Teams in ihrer Arbeit zu begrenzen. Und dazu gehört auch, das Teams gemeinsam definieren können, welche übergreifende Gremien, wie ein Architektur-Board oder eine UX Community sie benötigen.

Wenn wir wirklich eine agile Organisation wollen, sollten wir keine individuellen Ziele vorgeben. Diese konterkarieren in sehr unangenehmer Art und Weise unsere gemeinsamen Team-Ziele. Wenn jemand ein Projekt zu einem bestimmten Zeitpunkt liefern muss, um seinen Bonus zu erhalten, wird er wahrscheinlich immer egozentrisch und nicht team-zentrisch handeln. Statusrititis ist verzeihbar und verständlich, aber sie bildet einen grundlegenden Konflikt in einer agilen Organisation. Dieser Konflikt muss gelöst werden. Team-Ziele zu formulieren und auch das Team gesamthaft zu prämieren, unterstütz die Ziel einer agilen Organisation deutlich besser.

Alle diese Anforderungen laufen im Kern auf ein und dasselbe hinaus: Empathie. Wir müssen uns mit Empathie begegnen, um wirklich Großes gemeinsam zu schaffen. Und Empathie bedeutet Herz. Ich muss in meinem Herzen bereit sein, Agilität zu leben. Ich muss meinen eigenen inneren Excellarator, meine eigene Statusrititis, meinen eigenen General überwinden. Ich mache mich dadurch transparent und angreifbar. Und das gilt dann auch innerhalb der Teams und der gesamten, agilen Organisation.

Aber wir gewinnen gemeinsam ein Projekt oder Produkt, das Spaß macht, Neues hervorbringt und letztlich auch wirtschaftlich erfolgreich sein wird. Davon bin ich hundertprozentig überzeugt.

 

Hinweise:

Interessieren Sie sich für weitere Tipps aus der Praxis? Testen Sie unseren wöchentlichen Newsletter mit interessanten Beiträgen, Downloads, Empfehlungen und aktuellem Wissen.

[1] Wikipedia: Agilität (Management), https://de.wikipedia.org/wiki/Agilit%C3%A4t_(Management), abgerufen 9.8.2019
[2] Aus: Frommelt, A., Junker, A.: Von Design Thinking bis DevOps, Vortrag WJAX 2019, München 11/ 2019

Dr. Annegret Junker hat im t2informatik Blog weitere Beiträge veröffentlicht:

t2informatik Blog: Sinnvolle Grenzen für selbstverantwortliche Teams

Sinnvolle Grenzen für selbstverantwortliche Teams

t2informatik Blog: Design Thinking, Domain Storytelling und API-Entwurf

Design Thinking, Domain Storytelling und API-Entwurf

t2informatik Blog: Vom Monolithen zu Microservices

Vom Monolithen zu Microservices

Dr. Annegret Junker
Dr. Annegret Junker

Dr. Annegret Junker arbeitet als Chief Software Architect bei der codecentric AG. Seit über 30 Jahren ist sie in der Software-Industrie in verschiedensten Rollen und unterschiedlichen Domänen wie Automotive, Versicherungen und Finanzdienstleistungen tätig. Besonders interessiert sie sich für DDD, Microservices und alles, was damit zusammenhängt.