Innovationsdilemma
Innovationsdilemma – Wenn der Erfolg den Blick für die Zukunft verstellt
Ein etabliertes Unternehmen ist seit Jahren Marktführer. Es kennt seine Kundschaft genau, liefert zuverlässig hohe Qualität und investiert konsequent in die Weiterentwicklung seiner Produkte. Entscheidungen werden datenbasiert getroffen, Ressourcen effizient eingesetzt – eigentlich läuft alles bestens. Und doch kommt es irgendwann ins Straucheln. Neue Wettbewerber tauchen auf, bieten scheinbar einfache, zunächst minderwertige Alternativen an und gewinnen Marktanteile. Das etablierte Unternehmen reagiert zu spät oder gar nicht und verliert seinen Vorsprung.
Dieses paradoxe Problem hat einen Namen: Innovationsdilemma. Es beschreibt die Situation, in der erfolgreiche Unternehmen neue, disruptive Technologien ignorieren oder unterschätzen, weil diese anfangs nicht den Ansprüchen ihrer profitabelsten Kunden genügen.
Der Begriff geht auf den US-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Clayton M. Christensen zurück, der ihn 1997 in seinem Buch The Innovator’s Dilemma prägte. [1] Das Dilemma besteht darin, dass der Fokus auf kurzfristige Rentabilität und bestehende Geschäftsmodelle Unternehmen blind für bahnbrechende Entwicklungen macht, mit der Folge, dass sie von flexibleren, oft kleineren Wettbewerbern verdrängt werden.
Gründe für das Innovationsdilemma
Das Innovationsdilemma trifft oft gerade jene Unternehmen, die wirtschaftlich besonders erfolgreich sind. Warum? Weil sie genau das tun, was aus betriebswirtschaftlicher Sicht richtig erscheint: Sie hören auf ihre besten Kund:innen, investieren gezielt in bestehende Produkte, optimieren Prozesse und fokussieren sich auf das, was am meisten Gewinn bringt. Disruptive Innovationen hingegen sind anfangs meist wenig ausgereift, bedienen Randmärkte und versprechen zunächst keine hohen Margen, also genau das Gegenteil dessen, worauf etablierte Unternehmen ihr Geschäftsmodell ausrichten.
Ein zweiter Grund: Disruptive Innovationen verändern nicht nur Produkte, sondern oft den gesamten Markt. Sie folgen anderen Regeln, sprechen neue Zielgruppen an oder schaffen völlig neue Nutzungssituationen. Unternehmen erkennen zwar manchmal, dass sich der Markt verschiebt, aber sie finden keinen strategisch sinnvollen oder markenkonformen Weg, daran teilzuhaben.
Ein Beispiel: Ein schweitzer Hersteller ist Marktführer bei hochpreisigen mechanischen Uhren. Dann kommt ein US-amerikanischer Tech-Konzern und etabliert mit einem Computer am Handgelenk ein völlig neues Produktsegment. Der Markt verschiebt sich in eine Richtung, in der sich der tradionelle Uhrenhersteller nicht zuhause fühlt. Der neue Markt passt nicht zur Identität, zur Technologie und zum Wertversprechen des Traditionsunternehmens und genau in solchen Fällen zeigt sich die ganze Wucht des Innovationsdilemmas.
Lehren und Tipps aus dem Innovationsdilemma
Das Innovationsdilemma ist mehr als ein Managementproblem, es ist ein Spiegel dafür, wie Organisationen denken, entscheiden und sich selbst verstehen. Es zwingt Unternehmen dazu, sich mit unbequemen Fragen auseinanderzusetzen: Wollen wir wirklich Wandel oder nur Wachstum? Haben wir den Mut, Dinge infrage zu stellen, die uns bisher erfolgreich gemacht haben?
Hier sind vier zentrale Lehren aus dem Innovator’s Dilemma und konkrete Impulse, wie Unternehmen sich gegen seine gefährlichsten Wirkungen wappnen können:
1. Lehre: Erfolg ist träge, Innovation braucht aber Irritation
Erfolgreiche Unternehmen sind auf Effizienz gepolt. Sie belohnen das, was funktioniert. Doch genau das macht sie träge gegenüber radikal Neuem. Innovationen, die nicht sofort in bestehende Metriken passen, gelten als zu riskant oder unreif, und werden aussortiert, bevor sie eine Chance bekommen.
Tipp: Richten Sie bewusst störende Strukturen ein: Innovationsteams mit anderem Budgetrahmen, anderen Messgrößen, anderen Freiheiten. Entscheidend ist nicht nur Raum, sondern auch Schutz vor der Optimierungslogik des Kerngeschäfts.
Beispiele: Bosch hat mit der Innovationsplattform „Grow“ ein Umfeld geschaffen, in dem Mitarbeitende Startup-artig an neuen Geschäftsmodellen losgelöst von den Strukturen und Routinen des Stammgeschäfts arbeiten können. Das fördert Ideen, die sonst unter dem Effizienzdruck großer Organisationen untergehen würden.
Bei 3M dürfen Mitarbeitende traditionell 15 % ihrer Arbeitszeit für eigene, nicht vorgegebene Ideen nutzen. Die berühmten Post-it Notes entstanden auf diese Weise, als Nebenprodukt eines fehlgeschlagenen Klebstoffs. Entscheidend war nicht die Idee allein, sondern die organisatorische Offenheit, sie weiterzuverfolgen, obwohl sie zunächst nicht in ein bestehendes Produkt passte.
2. Lehre: Disruption ist keine technologische, sondern eine strukturelle Herausforderung
Viele Unternehmen glauben, sie müssten nur technologisch aufholen. Dabei geht es viel tiefer: Disruptive Innovationen fordern oft ein ganz anderes Geschäftsmodell, andere Preispunkte, andere Zielgruppen und das kann mit der bestehenden Organisation unvereinbar sein.
Tipp: Statt alles unter einem Dach zu halten, denken Sie über strukturierte Trennung nach: Das neue Geschäft sollte nicht die alten Spielregeln übernehmen müssen. Eine eigenständige Einheit mit eigener Kultur, Finanzierung und Entscheidungslogik kann neue Geschäftsideen viel freier entwickeln und im Erfolgsfall zurück ins Unternehmen integriert oder als Spin-off geführt werden.
Beispiel: Die Schweizer Firma Swatch entstand in den 1980er-Jahren als radikale Antwort auf die Quarzkrise – mit Billiguhr, Kunststoffgehäuse und Popkultur statt Luxus. Das Mutterunternehmen ließ Swatch intern völlig anders arbeiten und rettete damit am Ende das Unternehmen.
3. Lehre: Nicht jede Innovation ist für Sie gemacht, aber das Risiko liegt im Übersehen der Richtigen
Das eigentliche Problem ist nicht, dass Unternehmen jede neue Entwicklung verpassen, sondern dass sie die eine Entwicklung ignorieren, die ihr Kerngeschäft bedroht. Nicht jede neue Technologie ist disruptiv, aber diejenigen, die es sind, greifen oft leise und an unerwarteter Stelle an.
Tipp: Schaffen Sie ein systematisches Frühwarnsystem für Marktveränderungen. Hören Sie nicht nur auf Analystenberichte und bestehende Kunden, sondern auch auf Ränder, Startups, Studienabbrecher, Entwickler-Foren, Crowdfunding-Plattformen. Nicht alles wird wichtig, aber das Richtige früh zu erkennen, ist Gold wert.
Ein mögliches Vorgehen: Installieren Sie ein internes Future Council, das regelmäßig Szenarien analysiert, schwache Signale bewertet und mit Entscheidungsträgern als Antenne für das, was (noch) nicht in den Zahlen steht, in Dialog tritt.
4. Lehre: Markenidentität kann zur Innovationsbremse werden
Starke Marken schaffen Vertrauen, aber sie können auch Gefangene ihrer eigenen Geschichte werden. Wenn „wir sind die Besten in X“ zur Identität wird, fällt es schwer, überhaupt über „Y“ nachzudenken. Innovationen, die nicht zur Marke passen, wirken wie Identitätsbrüche, und werden deshalb oft verworfen, obwohl sie strategisch wichtig wären.
Tipp: Fragen Sie regelmäßig „Was bleibt von uns, wenn unser Hauptprodukt verschwindet?“ Diese Frage wirkt zuerst bedrohlich, sie ist aber der Schlüssel zu einer zukunftsfähigen Markenentwicklung. Die besten Unternehmen schaffen es, ihre Markenidentität auf den Kernnutzen herunterzubrechen, nicht auf das Produkt.
Beispiel: Netflix definierte sich nie als DVD-Verleih, sondern als Plattform für Unterhaltung, und konnte so erfolgreich vom Postversand zum Streaming und schließlich zur Eigenproduktion übergehen.
Innovation braucht strukturellen Mut
Das Innovationsdilemma lässt sich nicht durch einzelne Workshops oder Kreativmethoden lösen. Es fordert Organisationen auf, die eigene Struktur, Kultur und Logik infrage zu stellen, nicht nur einmal, sondern kontinuierlich. Wer Innovation ernst nimmt, muss lernen, auch Unordnung, Zwischentöne und widersprüchliche Entwicklungen auszuhalten.
Es braucht den Mut, zwei widersprüchliche Wahrheiten gleichzeitig zu leben: das Bestehende effizient weiterzuentwickeln und das Neue radikal anders zu denken. Wer das kann, wird das Dilemma nicht nur verstehen, sondern idealerweise auch überleben.
Impuls zum Diskutieren
Wie geht Ihr Unternehmen mit Ideen um, die auf den ersten Blick nicht zu ihm passen?
Hinweise:
[1] Clayton M. Christensen: Innovator’s Dilemma: When New Technologies Cause Great Firms to Fail
Hier finden Sie eine Videoreihe zum Leben und Werk von Clayton M. Christensen.
Und hier finden Sie einen Blogtrag von Conny Dethloff über den Sinn von Unternehmen: Purpose? Habe ich: Am „Leben“ bleiben!
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