Zentral-IT versus Schatten-IT
Seit jeher ist die Schatten-IT für IT-Verantwortliche eine zweischneidige Sache: Auf der einen Seite hilft die Eigeninitiative aus den Fachbereichen, Anforderungen schnell umzusetzen und dabei auch noch die zentralen Ressourcen zu schonen. Auf der anderen Seite entsteht dabei aber oftmals ein Wildwuchs, der von der Zentral-IT kaum noch zu überschauen, geschweige denn zu beherrschen ist. Investitions- und Datensicherheit, Interoperabilität, Datenschutz und lizenzrechtliche Fragen – all das sind wichtige Aspekte, die ein CIO nicht ignorieren kann. Kein Wunder also, dass sich hier oftmals ein handfester Interessenkonflikt aufbaut.
Die Krux besteht darin, dass beide Sichtweisen valide sind. Ohne Schatten-IT würden mancherorts alle Räder stillstehen, und ohne zentral vorgegebene und straff durchgesetzte Regularien würde es ständig an der einen oder andere Ecke klemmen. Wie es scheint, hat sich mittlerweile eine Art friedliche Koexistenz herausgebildet. Solange die in Eigenverantwortung entwickelten dezentralen IT-Systeme keinen Zugriff auf zentrale unternehmenskritische Daten verlangen, und solange Zentral- und Schatten-IT voneinander getrennt bleiben funktioniert dies auch.
Tendenz: Die Schatten-IT wird weiter ausgebaut
Der Ruf nach ständig fortschreitender digitaler Transformation in den Fachbereichen führt unweigerlich zu einem massiven Ausbau der Schatten-IT, weil
- es schlichtweg unmöglich ist, tausende Digitalisierungsideen zeitnah zentral aufzunehmen und umzusetzen,
- den IT-Spezialisten der Zentral-IT das jeweilige Fach-Know-How fehlt,
- das Prozedere für unsere dynamischen Zeiten zu starr und zu langsam ist.
Da die Fachbereiche ihre Ideen viel dynamischer denken als man es in der IT-Welt gewohnt war, stoßen selbst die klassischen Methoden der Anforderungsaufnahme an ihre Grenzen. Egal ob Wasserfall oder Scrum, es funktioniert nicht, denn die Treiber unter den Fachanwendern wissen meist selbst im Voraus nicht genau, was sie brauchen, und wie es genau aussehen soll. Sie wollen und müssen nicht nur in das Abfassen eines Backlogs, sondern direkt in den eigentlichen Entwicklungsprozess eingebunden werden.
Folglich behilft man sich dann lieber selbst. Mit modernen Tools und Herangehensweisen schaffen es halbwegs IT-kundige Fachleute, die sogenannten Citizen Developer, heute spielend, sich ihre Softwareunterstützung selbst aufzubauen, oder sie pflegen die Zusammenarbeit mit fachkompetenten externen Dienstleistern. Die Digitalisierungswelle gibt dem Ganzen noch den entscheidenden Schub. Die Schatten-IT wird nicht zurück gebaut, sondern im Gegenteil: Sie wird massiv ausgebaut.
In vielen Unternehmen hat man diesen Trend zur Dezentralisierung der IT erkannt und versucht, sich daran anzupassen, indem zumindest ausgebildete Informatiker in die Fachbereiche delegiert werden. Ein richtiger Schritt, aber entweder kommen sie dort mental nicht an, oder sie werden im Laufe der Zeit selbst zum von der Zentral-IT abgekoppelten Citizen Developer. Die eine und alleinige Lösung des Problems ist das noch nicht.
Die Plattformen für Citizen Developer
Dieser Entwicklung zu immer mehr Schatten-IT kommt entgegen, dass sich gerade jetzt eine neue Art von Softwareentwicklungstools etabliert, die optimal auf IT-kundige Mitarbeiter in den Fachbereichen zugeschnitten ist: auf Softwareentwickler, die keine ausgebildeten Informatiker sind, und auf Fachanwender, die für den Eigenbedarf hinreichend gut programmieren können.
Da für diese Zielgruppe die immer komplexer werdenden Mainstream-IT-Architekturen viel zu diffizil und unhandlich geworden sind, werden Tools gebraucht, mit denen man ganz normale Business-Anwendungen einfacher, schneller und am besten ohne jegliche manuelle Programmierung zusammenbauen kann – vielleicht nicht ganz so professionell wie der CIO das gerne sähe, dafür aber in Größenordnungen schneller und flexibler. Solche Tools nennen sich Low-Code-Plattformen, weil man mit wenig handgeschriebenem und vergleichsweise einfach strukturiertem Programmcode auskommt, den jeder mit begrenzten Informatikkenntnissen aus Schule oder Studium lesen und vielleicht auch verändern kann. Inzwischen gibt es Tools, die selbst das noch vermeidbar machen wollen, indem sie als No-Code-Plattform gleich gänzlich auf Programmierung verzichten.
Die Softwareentwicklung mit Low-Code-Technologien bringt eine Produktivitätssteigerung und ein Maß an Flexibilität mit sich, wie man es zuvor nie gekannt hat. Die meisten Low-Code-Plattformen versprechen eine Steigerung der Entwicklungsgeschwindigkeit um den Faktor 10, bei gleichzeitig viel mehr Flexibilität und Agilität und teilweise auch bei deutlich höherer Codequalität. Die Citizen Developer hängen mit ihren neuen Tools die IT-Profis regelrecht ab und brauchen diese nur noch für den Datenaustausch mit dem Zentralsystem.
Da die Entwickler in den Fachbereichen permanent neue Programmversionen produzieren, wollen sie natürlich selbst das Produktivschalten dieser Versionen in der Hand haben, und tatsächlich bieten die meisten Low-Code-Produkte leistungsfähige integrierte Deployment-Features an. Bei Cloud-basierten Low-Code-Plattformen machen sie dies einfach selbst, und für On-Premise-Installationen erwarten die Entwickler von ihrer Zentral-IT das Etablieren entsprechender Mechanismen, sprich sie kümmern sich am liebsten selbst um alles.
Auch innerhalb der Zentral-IT wachsen schon heute Entwicklung und Betrieb immer enger zusammen. Zunehmend werden innerhalb der IT DevOps-Strukturen und ähnliche Formen der Verzahnung geschaffen, und auch die Fachbereichs-Entwickler wollen genau dasselbe: Fachbereichs-DevOps.
Ist es förderlich, wenn die Fachbereiche Software entwickeln?
Ja, das ist es. In dem Maße, wie die Unternehmen zunehmend digitalisiert und automatisiert werden, fällt immer weniger händische Arbeit an, auch in den hochqualifizierten Fachbereichen. Hingegen wird den Experten aus den Fachbereichen immer mehr Expertise abverlangt, um die Digitale Transformation zu steuern, zu überwachen, und immer weiter zu optimieren und auszubauen. Auf lange Sicht macht das eines Tages mehr oder weniger alle Mitarbeiter der Fachbereiche zu IT-Leuten – nicht unbedingt zu Programmierern, aber zu den Mitarbeitern, deren Hauptaufgabe darin besteht, das automatisierte Unternehmen am Laufen zu halten und immer weiter zu verbessern.
Die Tools, die sie dafür nutzen werden, kennen wir heute noch nicht. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit werden es überwiegend KI-gestützte Systeme sein, in Kombination mit Konfigurationswerkzeugen aller Art. Die heutigen Low-Code-Plattformen stehen ganz am Anfang dieser Entwicklung. Noch verfügen sie über kaum KI-Funktionen, und sie zu bedienen ist noch immer nicht ganz einfach. Aber sie werden immer besser und effizienter und damit auch immer breitflächiger nutzbar.
Der Abstand zwischen den logischen Ebenen, auf denen die Citizen Developer und die klassischen Softwareentwickler arbeiten, wird immer größer werden. Die Toolsets dieser beiden Zielgruppen werden sich immer weiter voneinander entfernen, und die Art und Weise, in der die Fachexperten ihre digitalisierten Systeme konfigurieren, wird künftig immer weniger an Programmierung erinnern. Aber Softwareentwicklung im weitesten Sinne bleibt es trotzdem. Deshalb ist das der Weg der Zukunft.
Herausforderung und Chance für die Zentral-IT
Natürlich führt diese Entwicklung zu einem dramatischen Anwachsen dessen, was heute teils zu Recht, teils zu Unrecht, als Schatten-IT bezeichnet wird. Die IT-Abteilungen müssen lernen, damit umzugehen, und diese Veränderungen nicht als Bedrohung oder als Sicherheitsrisiko zu verstehen, sondern als Chance für eine bessere und leistungsfähigere IT-Unterstützung des Unternehmens.
Die Chance liegt unter anderem darin, dass die meisten Low-Code-Tools auf den heutigen Standards für sichere IT-Systeme beruhen, mit ganz normalen zentralen Datenbanken und Web- bzw. App-Basistechnologien, Authentifizierungs- und Autorisierungsverfahren. Nicht nur die Daten, sondern auch die Programme kommen damit wieder unter die Kontrolle und Verantwortung der IT-Profis. Mit der ersten PC-basierten Schatten-IT-Welle aus den Neunziger Jahren hat das schon lange nichts mehr zu tun.
Eine weitere Möglichkeit, die IT-Systeme aus den Fachbereichen einzubinden, stellen Microservice-Architekturen dar. Sie dienen dazu, dezentral und mit teils unterschiedlichen Tools entwickelte Fachmodule professionell miteinander zu koppeln. Zwar gibt es auch IT-Strategen, die der Auffassung sind, die Einführung einer übergreifenden Microservice-Architektur wäre ein Mittel, die heterogene Toolwelt zu konsolidieren und damit auch die Schatten-IT außen vorzulassen. Gedacht ist es aber für genau das Gegenteil: um eine dezentrale IT mit einer gewissen Toolvielfalt zulassen zu können, ohne Abstriche an den Sicherheits- und sonstigen allgemeinen IT-Themen.
Eigentlich sind alle Voraussetzungen dafür erfüllt, Fach- und Zentral-IT wieder zusammenwachsen zu lassen: Der CIO mit seinen Leuten verantwortet die IT-Infrastruktur, einschließlich der übergreifenden Microservice-Architekturen und alle Randaspekte des IT-Einsatzes, die Interoperabilität und alle übergreifenden Aspekte, während die Inhalte aus den Fachbereichen kommen, getrieben und angespornt von den Zielvorgaben des CDOs. Nur die Softwareentwicklung selbst wird in Teilen in die Fachbereiche ausgelagert, teils mit und teils ohne eigene Deployment-Verantwortung. Die Zentral-IT sollte diese Veränderung nicht ausbremsen, sondern forcieren. Andernfalls entsteht eine neue Art von Wildwuchs. Schließlich gibt es bereits heute mehr als einhundert verschiedene Low-Code-Plattformen am Markt, Tendenz steigend. Man wird nicht alles gleichschalten können, aber wenn die Zentral-IT diesen Prozess nicht blockt, sondern selbst aktiv vorantreibt, dann ergibt sich daraus die Chance, die Toolvielfalt auf eine überschaubare Anzahl unterschiedlicher Werkzeuge zu beschränken. Die Profis aus den IT-Bereichen sollten die Eigenentwicklungen der Fachbereiche nicht belächeln, sondern im Gegenteil, dazu ermuntern, und ihre Citizen Developer auf bestmögliche Weise darin unterstützen, und damit Licht ins Dunkel der Schatten-IT bringen.
Die Unterstützung der Zentral-IT für die Schatten-IT
In den meisten Fachbereichen muss die moderne Citizen-Developer-Kultur erst noch entwickelt werden. Vielfach fehlt den Fachleuten die Zeit und die Erfahrung, selbst zu entwickeln, und IT-kundige Mitarbeiter in den Fachbereichen sind immer noch rar oder überlastet. Deshalb wird es auch auf absehbare Zeit nötig sein, sich von externen oder intern angeforderten IT-Spezialisten unterstützen zu lassen.
Die neue Möglichkeit, dass IT-Projekte direkt in der Fachabteilung und unter deren Regie umgesetzt werden, quasi vor den eigenen Augen, wollen schon heute nahezu alle Fachbereiche uneingeschränkt nutzen. Die richtigen Tools dafür sind verfügbar, und eigentlich könnte es jetzt richtig losgehen. Aber für das Doing fehlt oft noch die Kapazität. Das kann und sollte die Zentral-IT als Chance sehen, hier mit ausgeliehenen professionellen Softwareentwicklern zu unterstützen, die dann aber die Tools der Fachabteilungen, sprich Low-Code-Plattformen als Entwicklungsumgebung, nutzen müssen. Das können eigene Mitarbeiter oder über Rahmenverträge beauftragte externe Low-Code-Spezialisten sein. Jedenfalls hat der CIO so die Chance, eine ausreichende IT-Kompetenz der hinzugezogenen Drittentwickler sicherzustellen, jedenfalls weitaus besser, als wenn die Fachabteilungen entsprechende Leistungen selbst beauftragen.
Darüber hinaus wäre es durchaus wünschenswert, wenn es der IT-Bereich als seine Aufgabe ansehen würde, die werdenden Citizen Developer, also die heutigen Power User, zu schulen und zum Selbstentwickeln zu motivieren. Solange der CIO in der Hand behält, was geschult wird, und wer wozu motiviert wird, ist es gut möglich, auf lange Sicht für ausreichend helles Licht in der Schatten-IT zu sorgen.
Hinweise:
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Weitere Informationen zum Thema Low-Code finden Sie unter https://www.scopeland.de/home.
Karsten Noack hat im t2informatik Blog weitere Beiträge veröffentlicht, u. a
Karsten Noack
Karsten Noack ist Gründer und CEO der Scopeland Technology GmbH. Als Visionär entwickelte er bereits Mitte der 90er Jahre die Grundlagen der Technologie, die heute als Low-Code und als Schlüsseltechnologie der Digitalisierung bekannt ist. Er verfügt über umfassende Erfahrungen im Einsatz von Low-Code-Plattformen in großen Unternehmen und Behörden und sieht sich nicht nur als Geschäftsführer im üblichen Sinne, sondern viel mehr als Motor der Produktentwicklung und als Visionär, und irgendwie auch als Evangelist für ein neues Denken in der IT-Industrie. Karsten Noack engagiert sich im Hauptvorstand des BITKOM sowie in mehreren Unternehmernetzwerken in der Berliner Region.