Widersprüchliche KPI im Online-Marketing

Gastbeitrag von | 27.05.2024

KPI als Hilfsmittel im Online-Marketing

Freitag, kurz nach Feierabend. Auf meinem Display erscheint eine kurze Mitteilung: „+100 Mentions in den letzten 4 Stunden, schnell steigend.“ Ein Alert mit einer gewissen Dringlichkeit. Mein Messindikator, der bis 100 Mentions pro Tag völlig ruhig bleibt, hat angeschlagen. Ich habe ihn so eingestellt, dass er den ganz normalen täglichen Wahnsinn ignoriert und mich bei signifikanten Änderungen informiert. Jetzt hat sich die Anzahl der Kommentare und Postings kurzerhand verdoppelt – die Messnadel schlägt aus, herzlichen Glückwunsch: KPI erreicht. Doch leider beginnt ein Shitstorm…

Ein Schwellenwert als wichtiger Indikator

Dieser Schwellenwert an Erwähnungen des Firmennamens ist zwar kein schöner, aber ein sehr wichtiger Indikator. Oder sollte ich sagen, ein dringender „Call to Action“? Ein Handlungsaufruf für mich und mein Team: Vergiss deine Wochenendverabredungen, die Reputation des Unternehmens ist in akuter Gefahr! Jetzt schnell an die Arbeit, der Shitstorm wartet leider nicht bis Montag!

Mentions und Interaktionen

Die Messung der Erwähnungen hat uns die Laune, das Wochenende und ein bisschen auch das Personalbudget versaut – aber sie war fraglos wichtig und sinnvoll! Die Push-Nachricht hat uns als Team nicht einfach nur informiert; sie hat uns Zeit verschafft! Wir waren „live“ dabei, als sich die Kritikwelle wie im Lehrbuch erst langsam und dann immer schneller aufbaute. Einige Stunden kann das in der Regel dauern, manchmal sogar ein paar wenige Tage. Zeit, in der wir unser Community Management aufstocken, unsere FAQ auf den aktuellen „Fail“ hin optimieren und uns „Gegenmaßnahmen“ überlegen können – kurze Erklärvideos, kleine Experten-Interviews, aussagekräftige Zahlen, Daten, Fakten.

Wir müssen messen, um optimieren zu können

Je früher wir erkennen, dass sich Kritik anbahnt, desto „besser“. Weil wir präziser reagieren und die Folgen besser managen können. Weil wir unsere Ressourcen gezielter einsetzen und unsere Kommunikations- und Marketingmaßnahmen auf ein genau definiertes Ziel ausrichten können.

Und genau dafür gibt es KPI!

KPI steht bekanntlich und banal für Key Performance Indicator. Wobei ich ganz akademisch die beiden Worte „Key“ und „Indicator“ für viel wichtiger halte als die reine Performance, die wir messen. Denn: Wir können (fast) alles messen – aber nicht jede Messung ergibt Sinn und nicht jeder Messwert ist ein Schlüssel zur Erkenntnis.

  • Was messen wir?
  • Wie messen wir es?
  • Warum messen wir es?

Diese drei Fragen müssen wir uns stellen, wenn wir sinnvolle Aussagen machen wollen. Wir fragen also weniger nach den Schlüsselindikatoren, wir fragen nach der Messung selbst, nach der Metrik.[1]

Thomas Hutter sagt dazu: „Ein KPI ist eine Metrik, eine Metrik ist aber nicht zwingendermassen ein KPI! Der Unterschied zu KPI und Metriken liegt darin, dass Metriken vorerst nur reine Daten ohne jeglichen Zusammenhang darstellen. Beim KPI gibt es aber eine konkrete Fragestellung als Orientierung“.[2]

Also: Was müssen wir an unseren Werbemaßnahmen optimieren, damit mehr Menschen auf unsere Website kommen? Was müssen wir an unserer Benutzerführung ändern, damit mehr Leute auf andere Seiten klicken? Wie müssen wir unseren Online-Shop gestalten, damit mehr Menschen kaufen?

Wir verändern also unser System unabhängig von einem KPI. Und setzen uns dann einen Messpunkt, an dem wir quantifizieren können, ob die Veränderung erfolgreich ist: 30 Prozent mehr Käufe in den nächsten drei Monaten. Wir haben eine Kennzahl definiert. Aber die Messung selbst ist kein KPI.

KPI sind ein Hilfsmittel

Key Performance Indicators sind kein Selbstzweck, sondern ein Hilfsmittel.[3]

  • Eine Wasserwaage sorgt nicht dafür, dass unser Schrank gerade an der Wand hängt. Wir müssen die Löcher selbst waagerecht bohren und die Wasserwaage hilft uns dabei.
  • Ein Tachometer sorgt nicht dafür, dass wir nicht zu schnell fahren. Aber er hilft uns, die Geschwindigkeit im Auge zu behalten und rechtzeitig vom Gas zu gehen. Die reine Zahl, z.B. 100 km/h, hilft uns nicht weiter – wir müssen auch wissen, ob wir auf einer Autobahn oder auf einem Feldweg unterwegs sind.
  • Ein Thermometer sagt uns nicht, ob wir Fieber haben. Aber es zeigt uns, wie warm unser Körper ist. Die gemessene Temperatur ist ein sicherer Indikator dafür, ob wir Fieber haben oder nicht. Seit Menschengedenken wissen wir, dass erhöhte Temperatur ein sicheres Zeichen dafür ist, dass wir krank sind – neben vielen anderen Hinweisen.

Wir müssen also definieren, was wir tun wollen. Und wir müssen wissen, wie wir es erreichen können und welche Nebenwirkungen und Wechselwirkungen es geben wird. Dann messen wir, was tatsächlich passiert.

Und erst wenn wir das verstanden haben und die Nebenwirkungen kennen, legen wir einen sinnvollen Schwellenwert fest und schauen, ob, wann und wie wir ihn erreicht haben. Ganz am Ende unserer Planungen, Überlegungen und Optimierungen steht also ein Messwert. Das ist unser KPI. Und ja: Das ist ziemlich langweilig und für sich genommen eine Banalität. Und: Wenn uns ein KPI nicht weiterhilft oder lange interpretiert werden muss und kann, dann ist er kein Key Performance Indicator!

Manche KPI sind häufig widersprüchlich

Im Online-Marketing werden häufig widersprüchliche Key Performance Indicators verwendet. Werfen wir einen Blick auf einige dieser KPI:

Der erste ist die Verweildauer. Sie tritt oft in Komplizenschaft mit dem eigentlichen Nichtsnutz der KPI-Literatur auf, der Bounce Rate. [4] Die Verweildauer misst die genaue Zeit, die die Nutzer auf jeder Seite verbringen. Die klassische Interpretation lautet: Je länger die Leute auf der Seite bleiben, desto besser. Und je weniger sie abspringen, desto besser.

Das Verrückte und damit Widersprüchliche an diesen beiden KPI: Je nach Betrachtungsweise und Zielsetzung ist auch das genaue Gegenteil richtig. Denn es kommt – wie immer! – darauf an, was die Nutzerinnen und Nutzer von meinem Angebot wollen. Wollen sie meine hochinteressanten, gehaltvollen Texte lesen und sich davon inspirieren lassen, ohne konkretes Suchinteresse und mit viel Muse durch mein ganz privates Häkelblog zu stöbern? Dann gilt: Verweildauer hoch, Absprungrate niedrig, alles richtig gemacht. Daniel Hochuli bringt es auf den Punkt: „Truth: A bounce is a completely normal type of behaviour for someone consuming content“.[5]

Für einen professionellen, umsatzstarken Online-Shop kann sich die Situation aber gänzlich anders darstellen: Je schneller die User sich für ein Produkt entscheiden können und je schneller sie den Kauf ohne viele Klicks abschließen, desto zufriedener werden diese sein. Schnelligkeit und zielgerichtete, klare Navigation sind hier valide Zufriedenheitsfaktoren, die sich direkt auf den Umsatz auswirken. Und was ist wichtiger als zufriedene Kunden und volle Kassen?

Apropos Kasse: Wer zum Beispiel wissen will, wann die Theaterkasse öffnet, will nicht ewig nach der Uhrzeit suchen müssen: Seite auf, gleich oben rechts die Daten entdeckt, aha, 18.30 Uhr am Mittwoch, super! Perfekte User Experience bei lächerlich kurzer Verweildauer und rekordverdächtig hoher Absprungrate, liebe Dramaturgen! 😊 Ein Drama in vier Akten wäre hier völlig fehl am Platz, eine lange Verweildauer nichts anderes als ein rot blinkender Indikator für schlechte Userführung!

Wenn aber langes Lesen und viel Klicken, langes Lesen und wenig Klicken, kurzes Lesen und schnelles Klicken in zwei Kennzahlen zusammengefasst werden: Was helfen uns diese KPI dann?

Und was ist mit Reichweite, Sichtbarkeit und Interaktionen?

Zwei weitere widersprüchliche KPI sind Reichweite und Sichtbarkeit. Das ärgert vor allem große Influencer und große Unternehmen. Denn je größer sie sind, desto geringer ist ihre relative Reichweite. Klingt absurd? Ja, aber es ist einfache Mathematik: Je mehr Follower eine Influencerin oder ein Unternehmen hat, desto eher reduziert der Algorithmus die Ausspielung.

Warum ist das so? Weil wir zum Glück nicht allein auf der Welt sind! Wenn eine Plattform neu ist und nur wenige Personen wenig posten, ist die relative Reichweite von Personen mit vielen Followern und häufigen Posts hoch bis sehr hoch. Je mehr Menschen aber die Plattform nutzen und selbst posten, desto „verstopfter“ wird unser Feed – und prozentual sinken Reichweite und Sichtbarkeit.

Das ist wie bei Wahlen: Habe ich nur zwei relevante Parteien wie in den USA, dann bekommen beide etwa die Hälfte der Stimmen. Habe ich aber 15 Parteien, dann sind 15 bis 25 Prozent schon viel. Ich muss also meine Zahlen in Relation setzen zur Konkurrenz und zur Gesamtzahl. Das ist banal, wird aber im Eifer des sozialmedialen Gefechts manchmal vergessen.

Aber was sagen uns relativ geringe relative Reichweiten? Je geringer, desto größer? Nein, auch dieser KPI bringt uns keine wirkliche Klarheit.

Das Reichweiten-Dilemma

Okay, aber Interaktionsraten sind doch eindeutig aussagekräftig, oder? Sie sind doch ein sicheres Zeichen dafür, dass sich Menschen für uns und unsere Inhalte interessieren und mit uns ins Gespräch kommen wollen – und das ist doch erstrebenswert, oder?

Ja, äh, nein. Kommt wieder drauf an. In normalen Zeiten und bei normal-langweiligen Unternehmen ja. Aber wenn am Freitag nach Feierabend diese eine Benachrichtigung auf dem Smartphone aufleuchtet, dann weiß man schon… 😉 Ein Shitstörmchen ist nichts anderes als ein völlig aus dem Ruder gelaufenes Interaktionsereignis – dummerweise in Kombination mit einem extrem negativen Sentiment. Diese KPI machen jedes Reporting der nächsten 24 Monate kaputt, weil man die fantastischen Interaktionsraten und das kurzfristig schlechte Sentiment leider wieder herausrechnen muss. Weniger Interaktion entspricht in diesem Fall einer positiven Entwicklung für Sie und Ihr Unternehmen! Und damit ist auch die Interaktionsrate kein wirklich überzeugender Key Performance Indicator.

Substanz jenseits widersprüchlicher KPI

Die Arbeit mit KPI im Online-Marketing ist also nicht ganz so einfach und eindeutig, wie es vielleicht auf den ersten Blick wirkt. Das führt zur Frage, warum wir überhaupt so viel messen, wenn uns die Interpretationen der Ergebnisse oft herausfordern?

Seien wir ehrlich: Oftmals wissen auch ohne Messung, wie der Hase läuft, wenn wir uns täglich mit unseren Kanälen und Plattformen beschäftigen. Wir erkennen, wie die Stimmung ist, worüber Kunden diskutieren, wie das Feedback der Anwender ausfällt, welche Inhalte besonders gut ankommen und wie hoch das Engagement der User ist. Einfach, weil wir uns täglich damit beschäftigen.

Natürlich können Unternehmen weiterhin – auch widersprüchliche – KPI im Online-Marketing als Hilfsmittel nutzen. Aus meiner Sicht sollten wir jedoch verstärkt auf überzeugende Inhalte fernab von Metriken konzentrieren.[6] Nach meiner Erfahrung gedeihen lebendige, bunte, aktuelle und substanzreiche Kanäle. Sie florieren wegen der tollen Inhalte und des kreativen Engagements der Channel Owner – und nicht wegen der im Jahresgespräch festgelegten Zahlen, die man leider knapp verfehlt hat.

Extra-Bonus

Hier finden Sie 3 zusätzliche Fragen zu Key Performance Indicators, die Harald Ille beantwortet (bitte auf Plus klicken):

Warum sollten die meisten KPI keine Ziele im Online-Marketing sein?

Harald Ille: KPI als Ziele zu definieren, ergibt nur Sinn, wenn Sie die Zielerreichung – bspw. durch Geld – beeinflussen können. Wenn Sie im nächsten Monat 10 Prozent mehr für Werbung ausgeben und mit etwas Glück 15 Prozent mehr Umsatz machen.

Für alle anderen Aufgaben im Online-Marketing machen solche KPI aber keinen Sinn. Warum nicht? Weil es keine einfache Beziehung zwischen Ihrem KPI und Ihrem quantitativen Aufwand gibt.

Beispiel: Sie wollen im nächsten halben Jahr zehn Prozent mehr Follower haben. Müssen Sie dann zehn Prozent besser arbeiten? Oder zehn Prozent mehr posten? Oder zehn Prozent mehr interagieren? Und was passiert, wenn Sie 20 Prozent mehr Follower erreichen? Halbieren Sie dann wieder Ihr Engagement? Antworten Sie nur noch auf die Hälfte aller Kommentare und lassen Sie jeden zweiten Beitrag offline?

Statt sich mit solchen theoretischen Gedankenspielen zu beschäftigen, sollten Sie sich fragen, was Sie konkret tun können, um mehr Nutzer zu erreichen. Entwickeln Sie Ideen und nutzen Sie die Erfahrungen von Kolleginnen oder Experten. Anstelle quantitative Ziele zu formulieren, achten Sie bspw. auf die Entwicklung der Followerzahlen und geben Sie konsequent Ihr Bestes! Und das immer wieder!

Sind nicht die meisten KPI im Online-Marketing uneindeutig?

Harald Ille: Ja. Messwerte sind immer kontextabhängig. Der Siedepunkt von Wasser ist anders je nach Luftdruck und Höhe.

Schauen wir uns bspw. die Impressions an: Wir brauchen etwa sieben Impressions, um überhaupt eine Werbewirksamkeit erzielen zu können. Das ist aber nur ein grober Durchschnittswert. Die eine Maßnahme funktioniert sofort mit der ersten Impression, die andere muss lange wiederholt werden: Carglass repariert…

Was also brauchen wir, was messen wir, und wann haben wir unser Ziel erreicht? Das ist leider abhängig von sehr vielen Faktoren, und am Ende auch ein bisschen vom Zufall.

Kann man auf KPI im Online-Marketing verzichten?

Harald Ille: Sicherlich nicht, weil wir dann noch blinder wären, als wir es ohnehin schon sind. Wir müssen die Key Performance Indicators in den richtigen Kontext setzen und diesen Kontext sehr genau analysieren. Dann erhalten wir sinnvolle Fingerzeige. Wir dürfen KPs nicht als „Abkürzung“ dieser anstrengenden gedanklichen Leistung verstehen, sondern als Wegweiser. Weniger KPI, mehr Kontext, das würde ich empfehlen.

Hinweise:

[1] Wer nochmal KPI sagt, fliegt raus
[2] Thomas Hutter: Der Unterschied zwischen KPI und Metrik
[3] Zahlen sind (noch) keine Maßnahmen
[4] What is bounce rate?
[5] Daniel Hochuli: 5 bullshit metrics you need to stop using to measure content marketing success
[6] Brauchen wir KPI fürs Intranet

Wollen Sie Ihre Kundinnen und Kunden überzeugen und nicht überreden? Dann schauen Sie doch einfach mal auf Harald Illes schöner Website vorbei.

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Harald Ille hat weiteree Beiträge im t2informatik Blog veröffentlicht:

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Harald Ille
Harald Ille

Harald Ille ist ein erfahrener Journalist und Hochschuldozent für Public Relations (PR). Seit fast 25 Jahren arbeitet er in der PR und Unternehmenskommunikation für Kommunen, Kliniken und Konzerne. Als selbstständiger „Digital Enthusiast“ ist er begeistert von den lebensverändernden Möglichkeiten, die uns die Digitalen Technologien ermöglichen.