Utopische Anforderungen

Gastbeitrag von | 28.05.2018

Anderes wäre denkbar, aber zufällig entwickeln Sie Autos. Sie schlagen das Lastenheft auf. Ihr Blick klebt beim Lesen an dieser Anforderung: “… ein Auto ohne jeden Energieträger …”

Utopien gelten als Wunschbilder, die wohl nie Wirklichkeit werden. Utopien sind Zukunftsvisionen, die wohl unausführbar sind.

Kundenanforderungen wirken manchmal utopisch: Sie sind heute wohl nicht zu erfüllen, aber morgen, morgen vielleicht … Aber heute?

Utopisch wirkende Anforderungen

Umfangreich im Lastenheft sind Anforderungen. Sie beschreiben beispielsweise das Wunschsystem oder das Wunschprodukt, grenzen es ab, sagen, was es tun soll.1 Einige Anforderungen fallen dabei auf.

Utopisch wirkende Anforderungen sind manchmal offensichtlich. Sie stechen mitunter auch erst beim Bearbeiten oder während der Analyse der Anforderungen ins Auge. Anforderungen können aus vielen Gründen utopisch erscheinen.

Utopische Randbedingungen beschränken häufig die Ausführbarkeit: Es mangelt beispielsweise an Technik, an Mitarbeitern, Hilfsmittel, Qualifizierung, Geld oder Zeit. Solche Anforderungen sind vergleichsweise leicht zu handhaben: Sobald Sie diese Mangelfaktoren beheben, verlieren diese Anforderungen ihren utopischen Charakter.

Anforderungen wiegen schwerer, die wirklich utopisch sind, oder es zu sein scheinen, weil sie ungewohnt oder derzeit unvorstellbar zu verwirklichen sind. Was soll das heißen?

Beispiel-Utopie

Betrachten wir die Beispiel-Utopie, das Auto ohne Energieträger. Was sagen Sie dazu? Ist das unvorstellbar? Soll das ein Perpetuum mobile sein, das bekanntermaßen gegen alle Gesetze der Physik verstößt? Oder ist diese Anforderung nur ungeschickt formuliert?

Einige Ursachen

Anforderungen erscheinen aus vielen Gründen utopisch. Hier ist eine Auswahl: Unverständnis, Informationsmangel, fehlende Auseinandersetzung, fehlende Fantasie, widerspricht bisherigen Erfahrungen, widerspricht gängiger Meinung, unzutreffende Annahmen.

Die weiteren Schritte beseitigen viele dieser Ursachen.

Erste Präzisierung der Beispiel-Utopie

Arbeiten Sie im ersten Schritt den zentralen Widerspruch heraus, der hinter der utopischen Anforderung steht: Dieselbe Eigenschaft soll sein UND nicht-sein.

Welcher Widerspruch könnte in der Anforderung verborgen sein, “… ein Auto ohne Energieträger …” haben zu wollen?

Sie wissen auf der einen Seite, dass Autos einen Energieträger brauchen, wie Benzin, Gase oder Strom, um zu fahren (“Auto”). Auf der anderen Seite fordert die Anforderung, genau darauf zu verzichten: ein Auto ohne Energieträger (“Karren”).

Der herausgearbeitete Konflikt lautet also: “Ein Auto MIT Energieträger UND OHNE Energieträger.”

Der Widerspruch liegt, vorhanden und abwesend, im Energieträger. Die Natur dieses Konfliktes ist erhellend.

Er ist kein Interessenskonflikt zwischen Stakeholdern. Er ist kein Bewertungskonflikt, der Dinge unterschiedlich gewichtet. Er ist kein zwischenmenschlicher Konflikt, denn Niemand macht etwas falsch.2

Er ist: ein physikalischer Widerspruch in der Anforderung selbst. Nur dadurch erscheint die Anforderung zunächst utopisch unerfüllbar zu sein. Mit dieser Einsicht sind Sie schon halb am Ziel …

Umgang mit Utopien

Man kann vor der Utopie flüchten, sie ablehnen, sie ignorieren, sie kühn akzeptieren, oder darauf hoffen, dass im Laufe des Projektes in den Fokus garantiert erbarmungslosere Fragen drängen.

Man kann utopisch wirkende Anforderungen hinterfragen, mit dem Kunden darüber reden, um zu verstehen, worum es wirklich geht, was wirklich gemeint ist.

Der Schatz aber winkt denen, die unter den utopischen Anforderungen jene entdecken, welche schlicht Widersprüchliches fordern. Denn erkannte Widersprüche verändern Ihre Wahrnehmung und Ihr Denken. Sie können damit die Utopie zuerst vorstellbar machen und anschließend durch bestimmte Konzeptveränderungen greifbar machen.

Schön, aber wie geht das?

Zweite Präzisierung der Beispiel-Utopie

Der erste Fortschritt war, den zentralen Widerspruch in derselben Größe in der utopischen Anforderung zu erkennen: groß UND nicht-groß (klein), schnell UND nicht-schnell (langsam), mit UND nicht-mit (ohne).

Sie bereiten den nächsten Fortschritt vor, indem Sie jetzt die Fragen “wo, wo nicht?” und “wann, wann nicht?” beantworten:

  • “WO soll das Auto MIT UND OHNE Energieträger sein, WO NICHT?”
  • “WANN soll das Auto MIT UND OHNE Energieträger sein, WANN NICHT?”

Sie finden für die Beispiel-Utopie viele Antworten auf beide Fragen, etwa diese:

  • In bestimmten Ländern mit Energieträger (wo), in anderen Ländern ohne (wo nicht).
  • In bestimmten Autos mit Energieträger (wo), in anderen ohne (wo nicht).
  • Auf der Autobahn mit Energieträger (wann), am Stellplatz egal, z.B. ohne (wann nicht).
  • Auf der Autobahn ohne Energieträger (wann), am Stellplatz mit (wann nicht).

Diese Vieldeutigkeit ist ein Signal dafür, dass die Analyse immer noch zu unscharf ist und deshalb zurzeit punktgenaue Lösungen für den Widerspruch blockiert.

Für die Analyse utopisch wirkender Anforderungen ist diese Vieldeutigkeit aber eher ein Vorteil: Sie zeigt, wie breit gefächert die Aufgabe tatsächlich ist. Und das bedeutet positiv: Es gibt zahlreiche und wirksame konkrete Lösungen für Ihr Pflichtenheft zu der sich immer weiter entzaubernden Utopie.

Lösungskonzepte zur Utopie

Die einfachste Lösung ist: keine Lösung. Die Utopie bleibt dann für unbestimmte Zeit Utopie.

Eine wirksamere Lösung nähert sich dem Ideal der Utopie an. Sie bewirkt Neuerungen, mehr Leistungsfähigkeit und es verbleibt eine Rest-Utopie.

Die wirksamste Lösung ist die exakte Lösung: Sie funktioniert, weil sie beide widersprüchliche Eigenschaften gleichermaßen bietet. Die Utopie erfüllt sich damit schon heute. Die wirksamste, exakte Lösung kann bedeuten, dass ein verändertes Auto-Konzept tatsächlich mit UND ohne Energieträger funktioniert. Sie kann aber auch bedeuten, dass es unter einem Aspekt so ist, als wäre das Auto mit einem Energieträger ausgestattet, und unter einem anderen Aspekt so ist, als wäre es ohne Energieträger.

Der Weg zur Lösung führt über wenigstens eins der 5 Trennprinzipien3. Ich zeige Ihnen gleich Beispiele für 3 Prinzipien: trennen in der Zeit, trennen im Raum und trennen zwischen System und Komponente.

Lösungsbeispiele der Utopie

Es kann ein Augenöffner sein, den Trennprinzipien nach der analytischen Vorbereitung nachzugehen. Sie werden dabei häufig Vertrautes wiederentdecken, was sich bisher “im blinden Fleck” weit “unterhalb des Radars” verbarg. Und manchmal erkennen Sie dabei eine technische Neuerung, eine möglicherweise patentierbare Erfindung. Wenigstens erkennen Sie, was Ihren Kunden entzücken wird.

Trennen Sie in der Zeit. Der Energieträger könnte im gesamten Auto vorhanden und nicht vorhanden sein. Er könnte aber auch nur im Motor zu bestimmten Zeiten vorhanden und zu anderen Zeiten nicht vorhanden sein. Moderne Autos bieten den Motorstopp beim Stillstand (jetzt keinen Kraftstoff, später Kraftstoff)4. Oder sie bieten Kolbenabschaltung (jetzt mit 2 Kolben, später mit nicht-2 Kolben, beispielsweise mit 4 Kolben)5. Der Verbrauch sinkt.

Trennen Sie im Raum. Der Energieträger könnte wo konzentriert sein? Hier, in einem Fahrzeug. Und er könnte wo nicht konzentriert sein? Dort, in allen übrigen Fahrzeugen. Zusammen nennt man es: Zug. Auf der Straße kennt man ihn als Anhänger oder als Mega-Truck / EuroCombi6 oder als Fernzüge für Autos7. Der Gesamtverbrauch sinkt.

Trennen Sie zwischen System und Komponente. Wie kann ein Fahrzeug, das gerade Energie für eine Bergauffahrt benötigt, die Energie eines irgendwo bergabfahrenden erhalten? Das bergabfahrende Fahrzeug gewinnt Energie zurück, die das bergauffahrende erhält. Solche Verbundsysteme gibt es bereits bei Bahnen und Bussen mit Stromnetz und Stromabnehmer. Der Energieträger wird vom Fahrzeug (Komponente) abgetrennt und auf das Verbundsystem (übergeordnetes System) verlagert8. Der Gesamtverbrauch sinkt.

Wenn Sie widersprüchliche Anforderungen in der Zeit trennen, oder im Raum, oder zwischen dem Teil und dem Ganzen: Was haben Sie an diesem Punkt erreicht?

Review utopischer Anforderungen

Sie haben eine utopisch wirkende Anforderung erkannt, deren wichtigsten Widerspruch herausgearbeitet, präzisiert, wann und wo der Widerspruch besteht, wann und wo nicht und Trennprinzipien zur Konzeptveränderung angewendet.

Dabei erfuhren Sie, welche zentrale Anforderung hinter den vielen Einzelanforderungen tatsächlich steht. Sie erkannten vielleicht, wie wenig sie ausgearbeitet wurde. Sie sahen enorm viele Veränderungs- und Realisierungsmöglichkeiten.

Sie kennen ebenso konkrete Lösungsbeispiele zur Utopie aus demselben, aus einem verwandten oder aus einem fremden Bereich? Das wertet Sie als Gesprächspartner weiter auf.

Nehmen wir im Beispiel an, es käme dabei heraus, dass wirklich eine andere Anforderung gemeint war: “Ein Auto, das idealerweise maximal 3 Liter Kraftstoff unter allen praktischen Fahrbedingungen verbraucht”, wie Fahrweise, Gelände, Straßenbelag, Verkehr, Treibstoffschwankungen, Alterung, Witterung. Das wäre aus heutiger Sicht bereits sehr nahe an einem Auto ohne Energieträger.

Und auf einmal ist diese Anforderung in Ihrem Lastenheft gar nicht mehr so utopisch, sondern ein Schatz.

Fazit

Utopische Anforderungen verbergen Schätze. Dieser Beitrag zeigt Ihnen Vorteile, die Sie erhalten, wenn Sie utopische Anforderungen aufspüren und vollständig oder wenigstens näherungsweise lösen. Das verschafft Ihnen tiefe Einsichten, zeigt Ihnen Lösungsalternativen, lässt Sie Bekanntes wiederentdecken, sowie passende Analogien finden. Kurzum: Sie gewinnen Ihrem Kunden gegenüber noch mehr Gesprächs- und Lösungskompetenz.

 

Hinweise:

[1] “Requirements Engineering”, Klaus Pohl, dpunkt.verlag, 2. korrigierte Auflage, 2008
[2] “Designing better concepts faster”, Zinovy Royzen, TRIZ Consulting Inc., 1999 *
[3] “Start-Stopp-System” [Internet], Wikipedia 2018, verfügbar unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Stopp-Start-System
[4] “Cylinder on demand” [Internet], Audi 2016, verfügbar unter: https://www.audi-technology-portal.de/de/antrieb/fsi-tfsi-motoren/cylinder-on-demand
[5] “EuroCombi” [Internet], Wikipedia 2018, verfügbar unter: https://de.wikipedia.org/wiki/EuroCombi
[6] “Autoreisezug-Planer” [Internet], 2018, verfügbar unter: https://www.autoreisezug-planer.de/
[7] “Netzrückspeisung bei Schienenfahrzeugen mit Elekrotraktion” [Internet], FIS Forschungs-Informations-System, 2011 – 2017, verfügbar unter: https://www.forschungsinformationssystem.de/servlet/is/342892/
[8] “So stark steigt der Verbrauch nach dem Diesel-Update von VW” [Internet], Focus online, 28.06.2016, verfügbar unter: https://www.focus.de/auto/videos/adac-messung-so-stark-steigt-der-verbrauch-nach-dem-diesel-update-von-vw_id_5675856.html

Michael Schlüter
Michael Schlüter

Michael Schlüter ist Diplom-Physiker und Patentingenieur. Die “Michael Schlüter System- und Produktoptimierung (MS-SPO)” unterstützt Ingenieure aller Hierarchiestufen in der Entwicklung und Forschung (FuE) bei der Arbeit mit Patenten, Innovationen und Produktoptimierungen. Seinen Kunden hilft er bei der Risikoerkennung und Ursachenaufklärung. Er bietet Seminare und Workshops für die Wissensvermittlung und optimiert sowohl Verfahren als auch die Entwicklung von Technologien. Sie erreichen ihn per E-Mail unter info@ms-spo.de, im Web unter http://www.ms-spo.de und telefonisch 04181-30431.