Managen Sie noch Prozesse?
Größere Unternehmen widmen der Pflege von Prozessen viel Zeit und Energie. Zeiträume von 2 oder mehr Jahren – von der Idee für einen Prozess bis zu dessen Erstveröffentlichung – sind keine Seltenheit. Wenn aber die Zeiträume so groß sind, gelten zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dann noch die Randbedingungen, die zu Beginn angenommen wurden? Adressiert der Prozess, den ein oft erlauchter Kreis von Eingeweihten sich am grünen Tisch überlegt hat, überhaupt noch die ursprünglichen Probleme? Und woher wissen die Beteiligten, dass der Prozess, den man sich in vielen Sitzungen kleinteilig erarbeitet hat, funktionieren wird?
Prozesse in der Praxis
Ich habe im Wesentlichen zwei Beobachtungen zu Prozessen in der betrieblichen Praxis gemacht:
- Mitarbeiter kennen den definierten Prozess nicht.
- Mitarbeiter wissen, dass es einen Prozess gibt, halten sich aber nicht daran, da er aus ihrer Sicht keinen Nutzen bringt, er schwerfällig und manchmal sogar sinnlos ist.
Ein Mitarbeiter eines größeren Unternehmens hat es mal so ausgedrückt: „Wir haben schon so viele Prozessverbesserungsmaßnahmen erlebt, die nicht funktioniert haben. Wir arbeiten hier einfach so weiter, wie wir das für richtig halten.“ Machen wir uns zunächst einmal eines klar: Prozesse gibt es immer, ob sie nun dokumentiert und verwaltet werden oder nicht. Die Fragen, um die es hier geht, lauten:
- Ist ein Prozess regelungswürdig, d.h. ist es wichtig, dass mithilfe einer Regelung die Wiederholbarkeit und die stetige Verbesserung des Ablaufs gefördert werden?
- Muss ein Prozess zentral geregelt werden, ist es also notwendig, dass alle Mitarbeiter mit einer ähnlichen Aufgabe diese in gleicher Weise bearbeiten?
- Wie viel von dem Prozess muss geregelt werden, d.h. genügt es, einen Rahmen vorzugeben oder müssen Details ebenfalls geregelt werden?
- Wer ist für den Prozess verantwortlich? Derjenige, der von seinem Chef ein Ziel genannt bekommt, oder jener, der von einem wirklich funktionierenden Prozess profitiert und damit ein echtes Interesse daran hat?
Prozesse und Zielkonflikte
Bei der Arbeit mit Prozessen entstehen immer Zielkonflikte, denn je mehr die Prozesse regeln, desto mehr Freiräume schränken sie ein.
Dies führt gerade in großen Unternehmen zu realen Prozessen, die über- oder unterreguliert sind: Entweder regeln die Prozesse zu viel und schränken damit die Mitarbeiter so sehr ein, dass diese nach Wegen suchen, um ihre Arbeit trotzdem erfolgreich zu erledigen. Oder sie regeln zu wenig, bspw. wenn ein Prozess lediglich existiert, um die Formalitäten des Qualitätsmanagement zu erfüllen. In solchen Fällen geht die notwendige Verbindlichkeit verloren, die Mitarbeiter nehmen den Prozess nicht ernst.
Prozessmanagement anders gedacht
Wie könnte nun aber die Prozessarbeit stattdessen organisiert werden? So, dass Mitarbeiter den Prozess als „ihren“ Prozess anerkennen? Zur Beantwortung dieser Frage bietet es sich an, einen Prozess wie ein Stück Software zu betrachten. Genauso, wie Sie heute eine Software im Zusammenspiel mit deren Anwendern nutzenorientiert entwickeln, können Sie das auch mit einem Prozess tun. Folgende Aspekte sind dabei wesentlich:
- Binden Sie die Nutzer des Prozesses als Kunden über einen Product Owner in die Entwicklung ein. Er holt die Bedürfnisse dieser Nutzer ab, so dass sie die Basis für den Prozessentwicklungsprozess bilden können. Und er fokussiert die Frage, wie der Prozess die Wertschöpfung Ihres Unternehmens verbessert: Egal, ob ein Prozess ein Kern- oder ein Unterstützungsprozess ist: letztlich muss er der Wertschöpfung dienen. Ist dies bei seiner Entwicklung nicht klar, kann der Sinn des Prozesses auch nie den Anwender vermittelt werden.
- Stellen Sie ein Entwicklungsteam zusammen, in dem Repräsentanten derjenigen Bereiche sitzen, die fachlich zur Gestaltung des Prozesses beitragen können. Dadurch, und durch den engen Nutzerkontakt findet die notwendige inhaltliche Diskussion effizient und effektiv statt. Stellen Sie sicher, dass dieses Team in Summe die notwendigen Kompetenzen besitzt, und schenken Sie ihm das notwendige Vertrauen und damit die notwendigen Freiheiten.
- Lassen Sie das Team in kleinen Schritten und kurzen Zyklen an dem Prozess arbeiten. Dadurch können die Ergebnisse häufig mit den Anwendern validiert werden. Deren Feedback kann dann sofort für die weitere Entwicklung des Prozesses genutzt werden. Sie vermeiden so kostspielige Irrwege und Reparaturen und stellen gleichzeitig sicher, dass die Ergebnisse für diejenigen funktionieren, die damit leben müssen.
- Betrachten Sie alles, was zu dem Prozess gehört, als Einheit. Das Produkt, das das Team realisieren soll, besteht nicht nur aus dem Prozess an sich, sondern auch aus allen Methoden und Tools, die dazu gehören. Schließlich müssen die Anwender nicht mit Papier, sondern mit echten Hilfen dafür ausgestattet werden, wie sie zukünftig arbeiten sollen. Und es bringt ja nichts, wenn der Prozess theoretisch toll funktionieren würde, wenn es praktisch keine Tools gibt, die ihn überhaupt ermöglichen.
- Nutzen Sie die modernen Kommunikationswege für die Einbindung der Anwender. Gruppenchats, Diskussionsforen, Umfragetools und firmeninterne „Facebook-Look-Alikes“ sind wunderbare Mittel, um Klärungen herbeizuführen und Ideen zu validieren. Wikis wiederum können den aktuellen Stand der Ergebnisse darstellen und auf weiterführende Inhalte, Tools und Methoden verweisen; Anwender, die sich darauf abonnieren, werden bei Aktualisierungen automatisch informiert.
Sie sehen, vieles aus der Softwareentwicklung können Sie auch mit der Entwicklung und Optimierung von Prozessen nutzen. Natürlich prägen sich manche Aspekte etwas anders aus, daher sollten Sie sich einen Experten hinzuziehen, der Erfahrung mit dieser Art von Prozessarbeit hat und Ihr Team entsprechend unterstützen kann.
Fazit
Der Ansatz, Prozessmanagement anders zu denken, führt in der Praxis zu deutlich mehr Akzeptanz bei Anwendern, weil definierte Prozesse als hilfreich empfunden werden. Wenn Sie so vorgehen, werden Sie darüber hinaus schnell erkennen, ob der Prozess zu viel oder zu wenig regelt – oder besser: Sie werden nur das absolut Notwendige regeln.
Die Anwender wiederum wissen zu schätzen, dass es etwas gibt, wozu sie befragt wurden, woran sie beteiligt waren und was ihnen hilft – und sie werden ein Interesse daran haben, dies weiter zu optimieren.
Wenn Sie es dann Ihren Mitarbeitern noch so einfach wie möglich machen, Feedback zum Prozess zu geben, erreichen Sie das Hauptziel eines jeden Qualitätsmanagements: die kontinuierliche Verbesserung – die nicht dem Selbstzweck dient, sondern der Reduktion von Verschwendung an Zeit, Geld und Energie in Ihrem Unternehmen, und der Steigerung von Produktqualität und Kundenzufriedenheit.
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Wollen Sie mit Gerhard Schneider über seinen Ansatz sprechen, können Sie leicht mit ihm per Mail an kontakt@innoreq.com in Kontakt treten.
Dies ist ein Best of Blog 2019 Beitrag. Hier können Sie sich die besten Beiträge aus 2019 herunterladen.
Gerhard Schneider hat einen weiteren Beitrag im t2informatik Blog veröffentlicht:
Gerhard Schneider
Gerhard Schneider ist seit über 20 Jahren mit den vielfältigen Fragen des Anforderungsmanagements in großen Unternehmen befasst. Bei der Gestaltung und Einführung von Prozessen im Rahmen der Produktentwicklung kann er mit seinen Erfahrungen als Unternehmer, Gründer und Coach Menschen dabei helfen, sich und ihr Unternehmen zukunftssicher weiterzuentwickeln. Dabei achtet er darauf, die gewohnten Strukturen und Verhaltensweisen zu einer Haltung zu entwickeln, die sich konsequent am Menschen, an der Wertschätzung seiner Leistungen und einer konstruktiven Kommunikation ausrichtet, und die das eigenständige Denken und Handeln, Verbindlichkeit und Verantwortung einfordert und belohnt.