Konstruktivismus in Organisationen

Gastbeitrag von | 22.02.2021

Was ein Brötchen damit zu tun hat, entspannter auf die Welt zu blicken und seinen Job besser zu machen.

Eigentlich ist es nur ein Bild, welches ich zeige und eine, bzw. zwei Fragen, die ich dazu in vielen meiner Workshops stelle:

  • Was siehst Du auf diesem Bild (oben)?
  • Und wie würde es Deine Mutter nennen?

Einerseits amüsiert es Teilnehmer. Es gibt mir auch oft eine regionale Einordnung, wo die Teilnehmer wohnen, oder woher sie kommen. Andererseits macht es Konstruktivismus so wunderbar bildlich. KonstruktiWAS?

Kommunikation ist und bleibt eine der größten Herausforderungen der Menschheit. Sie sorgt für die größten Konflikte und erhöht die Herausforderungen bei vielen Dingen und Themen. Leider in einem geringeren Maß für Verständnis oder Zuneigung.

Damit umzugehen ist gerade in den letzten Jahren noch einmal schwieriger geworden und wer sitzt nicht ab und an vor sozialen, interaktiven Medien und schüttelt den Kopf, ob dem was dort von sich gegeben wird und passiert.

Kopf ist genau das richtige Stichwort und die Verbindung zum Konstruktivismus. Die Grundthese des Konstruktivismus besagt, Realität bedeutet für jedes Individuum immer nur eine Konstruktion seiner eigenen Sinnesreize und seiner Gedächtnisleistung.

Objektivität und Wirklichkeit

Objektivität ist eine Unmöglichkeit. Und es gibt weder eine absolute Wirklichkeit noch eine Wahrheit. Es gibt lediglich eine Wirklichkeit erster Ordnung: Physische und weitgehend objektive Objekteigenschaften. Alles Weitere ist eine Wirklichkeit zweiter Ordnung und basiert primär auf Kommunikation.

Etwas handfester formuliert: Wir haben alle mehr oder weniger ausgeprägte Sinne wie Augen, Ohren, etc. und ein verarbeitendes Organ, das Gehirn. Dies ist geprägt durch unser Erbgut, unsere Sozialisation und unsere Erfahrungen. Das was wir aufnehmen, wird dort verarbeitet. Daher nennen wir das Brötchen mal Brötchen, mal Weck, mal Semmel, Rundstück, Kipfl, Laabla. Meist einigen wir uns regional auf eine Bezeichnung.

Interpretation eines Objekts

Wirklichkeit und Kommunikation

Wirklichkeit entsteht erst durch Kommunikation. Und damit auch durch die verwendeten Vokabeln.

Wirklichkeit entsteht durch Kommunikation

Die Krücke, die Menschen in den meisten Fällen nutzen, ist das Sprechen in Bildern, Metaphern und Geschichten. Es hilft uns, uns verständlich zu machen. Da sich die Bilder in den Köpfen der globalisierten Menschheit annähern, sollte es uns einfacher fallen, miteinander zu kommunizieren. Gleichzeitig stellen Bilder aber auch wieder eine Falle, in die wir gerne reinlaufen: Bilder können unterschiedlich interpretiert werden. (Die Sieger schreiben die Geschichte). Eine Szene oder ein Objekt aus verschiedenen Blickwinkeln zu sehen und dadurch unterschiedlich zu interpretieren, hat spätestens das Gleichnis der blinden Männer und dem Elefanten nähergebracht. (Das Gleichnis wird u.a. dem Buddhismus zugeschrieben. Sechs blinde Mönche untersuchen einen Elefanten und entdecken dabei einen Baum, ein Seil, eine Schlange, eine Wand,…) Es passiert jeden Tag, milliardenfach.

Zwei schöne Beispiele für Konstruktivismus

Es gibt im „Anhalter durch die Galaxis“ eine Szene in der ein Pottwal und ein Petunientopf „entstehen“. Der Pottwal stürzt auf die Erde und gibt den Dingen um sich herum Bezeichnungen und kommentiert sie. Die Szene ist in mehrfacher Hinsicht abstrus, beschreibt aber auch schön, wie die Welt um uns herum nur von uns in Gedanken und Worten konstruiert ist.

Das zweite Beispiel ist die sogenannte Bielefeld-Verschwörung.

Niklas Luhmann einer der oder der größte Soziologen und forschte und lehrte an der Universität Bielefeld. Von ihm stammt aus den frühen 1980er Jahren die Aussage: „Worüber in den (Massen-)medien nicht gesprochen wird, existiert nicht“. Vermutlich der ursächliche Auslöser der Bielefeld-Verschwörung („Bielefeld? Das gibt’s doch gar nicht“), was wiederum von der Bielefeld Marketing GmbH genutzt wurde, um Bielefeld in die Medien und damit ins Bewusstsein zu bringen:

Konsequenzen für Unternehmen

Welche Konsequenzen hat das nun alles für unseren (oder meinen) Umgang mit der Welt da draußen und das Thema „Zusammenarbeit in Organisationen“?

Jeder Mensch nimmt sich und seine Umwelt anders wahr und interpretiert sie für sich. Jeder Mensch hat andere Fähigkeiten zu kommunizieren. D.h. jeder Mensch (da draußen in der Welt) entwickelt eine eigene Wahrheit, es gibt so gut wie keine gemeinsame Wahrheit. Gerade im Jahr 2020 zeigt sich erneut, dass selbst objektivierende Versuche aus der Wissenschaft oftmals nicht anerkannt werden und sich Menschen ihre eigene Wahrheit konstruieren (Der Gute Galileo Galilei hat schon mal ähnliche Erfahrungen gemacht „Und die Erde dreht sich doch!“). Fairerweise konstruieren sich auch Wissenschaftler „ihre“ Welt. Meist gehen sie aber in einen Diskurs, finden einen gemeinsame Sprache, die Menschen eines anderen Fachgebietes erst verstehen lernen müssen.

Das ist zunächst einmal zu akzeptieren (mit Ausnahme des Vorsatzes zur Lüge). Eigene und gemeinsame Erfahrungen der Peergroup spielen dabei eine essenzielle Rolle. Sachlich kann dann jeder Mensch beim anderen Menschen nur akzeptieren, dieselbe oder eine andere Wahrnehmung (und Interpretation) zu haben.

Das direkte Lesen oder Beeinflussen von Gedanken anderer Menschen ist (glücklicherweise) Science-Fiction. Gleichzeitig kann aber das Bewusstsein, dass sich jeder Mensch seine Wirklichkeit nur konstruiert, die Seele sehr entspannen. Sollte also jemand in Ihrem Umfeld davon überzeugt sein, den Covid19 Lockdown gibt es/gab es nur, damit die Batterien in den Überwachungstauben ausgetauscht werden, so what? Er/Sie hat sich seine/ihre Wahrheit so konstruiert und hat sicher gute Gründe dafür.

Spätestens, wenn er/sie es aber den Batteriewechsel als „Wahrheit“ bezeichnet, könnte man versuchen das Konzept des Konstruktivismus anhand eines Brötchens zu erläutern. Oder einer Semmel oder einer Weck…

Umgang mit Konstruktivismus in Organisationen

Wie kann aber ein bewusster Umgang mit dem „real existierenden“ Konstruktivismus in Organisationen gelingen?

Spätestens in Ausbildung oder Studium haben wir alle festgestellt, wie sich ähnliche Typen an Menschen in Ausbildungs- oder Studiengängen wiederfinden und wie sich die Sprache von den Nachbarausbildungen unterscheidet. Dies zieht sich durch in Berufsgruppen und Abteilungen (oder Kohorten). Ärzte und Pflegepersonal, HR Abteilungen und Einkäufer, Projektleiter und Verkauf, IT und Fachabteilung, Marketing und Controlling. Die Liste ist beliebig lang.

Leider hilft das dem Vorwärtskommen einer Organisation eher weniger. Was also tun?

Zumindest sollte man die Dinge in den Fokus stellen, die uns Menschen helfen, die konstruktivistische Kommunikationslücke zu überwinden:

  • Die Bildung kleiner Gruppen und
  • die Identifikation gemeinsamer Interessen.

Der Klassiker ist, kleine Gruppen zu bilden. Wir sind tendenziell besser in der Lage in eine nützliche Kommunikation zu treten, wenn wir in kleineren Gruppen unterwegs sind. Dies wird gefördert, da die Zugehörigkeit eines unserer Grundbedürfnisse ist. Zugehörigkeit zu überschaubaren Gruppen. Diese können aus 3, 6, 12, 50, 150 oder mehr Personen bestehen. Warum diese Werte? Weil wir typischerweise an diesen Grenzen anfangen Untergruppen ausbilden, die wiederum einen Grund für ihre Kohäsion benötigen.

Der zweite wesentliche Faktor sind gemeinsame Interessen. Die bildet beispielsweise die Berufsgruppe der Einkäufer oder Lohnbuchhalter über ihre Fachlichkeit aus. Bei fachlich gemischten Teams bedarf es schon eines externen Impulses. So etwas banales wie gemeinsame Ziele. Je klarer und einfacher das gemeinsame Ziel, um so besser gelingt das gemeinsame Arbeiten. Aber auch um sich auf dieses zu einigen, muss die konstruktivistische Kommunikationslücke überwunden werden. Gemeinsam entwickelte strategische Ziele, eine Vision, ein Purpose, eine Mission, MOALS,… könnten entsprechende Hilfsmittel sein. (Im Jahr 2021 habe wir uns mehr oder weniger auf solche Vokabeln geeinigt um unserem Tun einen Sinn zugeben)

Im Umkehrschluss: Man sollte sich bewusst sein, dass Ziele nichts anderes als ein Kommunikationsinstrument sind! Will ich Brötchen, Semmeln, Wecken backen? Oder Brot? Oder Kuchen? Oder Leberkäs? Schon diese banalen Beispiele zeigen den Bedarf eines Einigungsprozesses…

Modelle, Ansätze und Vokabeln für Konstruktivismus

Hilfreich ist es auch, dieselben Modelle, Ansätze und Vokabeln zu nutzen. Eine Frage, die mir immer wieder gestellt wird: Was ist besser: Prince2, PMI oder IPMA? In den meisten Fällen ist es gleich. Der entscheidende Punkt ist die Einigung auf ein gemeinsames Framework. Intern, mit Kunden und mit Lieferanten. Selbiges gilt auch für agile Konzepte, Führungsmodelle, Organisationsformen usw.

Das entscheidende ist einen gemeinsamen Sprachraum und ähnliche Denkgebäude zu schaffen. Zum Beispiel durch gemeinsam Trainings, das Nutzen derselben Modelle oder Zertifizierungen/Ausbildungen. Dies ist der entscheidende Schritt, um in Kommunikation treten zu können. So, wie das Konzept des Konstruktivismus. Kennen meine Peergroup und ich das Konzept, haben wir unser Vokabular erweitert.

Nun könnte man meinen, wir Menschen hätten uns doch nur einmal auf ein Set an Vokabeln einigen müssen. Leider kommt hier ein weiteres menschliches Phänomen zum Tragen: Wir mögen nicht nur Zugehörigkeit, sondern genauso Abgrenzung. Irgendwann werden Gruppen zu groß und wir wollen uns mit einer Subgruppe oder anderen Gruppe abgrenzen. Ohne dieses Bestreben wären modische und regionale Erscheinungen nicht vorstellbar. Egal ob in (wiederkehrenden) Kleidungsstilen, Vornamen für Kinder, Bezeichnungen für kleine Brote oder Managementansätzen. Zugehörigkeit und Abgrenzung, eine ewige Wiederkehr.

Gut, dass es den Begriff des Konstruktivismus gibt. Er hilft dabei, sich zurückzunehmen, sein eigenes Handeln und das der Umwelt zu beobachten, und das entspannt mich ungemein! Sie auch?

 

Hinweise:

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Carsten Frank
Carsten Frank

Carsten Frank ist Berater & Expert Manager bei Campana & Schott Hamburg. Seine persönliche Mission ist es, mittelständische Unternehmen dabei zu helfen, etwas zukunftsfähiger zu werden, und Organisationen im öffentlichen Sektor zu unterstützen, um Steuergelder etwas besser einzusetzen. Seine aktuellen Schwerpunkte sind, neben dem Aufbau und der Weiterentwicklung temporärer und dauerhafter Projektorganisationen, insbesondere auch die Themen Strategieimplementierung und Transformationen aller Art.

Vor 2018 war Carsten Frank u.a. 10 Jahre lang in verschiedenen Organisationen als Leiter Projektmanagement für das Multiprojektmanagement verantwortlich. Er ist gelernter Industriemechaniker, Dipl. Kfm., Project Director (IPMA Level A) und Systemischer Organisationsentwickler. Seinen ersten Kontakt zum Konstruktivismus in den 90er Jahren verdankt er Prof. Christian Scholz.