IT-Analyse als kreativer Prozess
Im Jahr 1926 war es Graham Wallas, der Beobachtungen von Hermann von Helmholtz, einem deutschen Physiker, und Henri Poincaré, einem französischen Mathematiker, zu einer systematischen Theorie des kreativen Denkens zusammengefasste.¹ Nach dieser Theorie vollzieht sich kreatives Denken – ähnlich dem Muster von Archimedes – in vier Phasen:
- Präparation: In der Phase der Präparation beschäftigen Sie sich intensiv mit dem Problem, sammeln Informationen und generieren Wissen. Bei Archimedes ging es in dieser Phase um die Frage, wie er herausfindet, wie viel Silber in der Krone ist.
- Inkubation: In der Phase der Inkubation lassen Sie die in der Präparationsphase gesammelten Informationen sacken. Tun Sie nichts, entspannen Sie, nehmen Sie ein Bad oder machen Sie etwas gänzlich anderes. Keine Sorge, Ihr Gehirn arbeitet trotzdem an der Lösung des Problems.
- Illumination: In dieser Phase kommt das „Heureka“. Ihr Unterbewusstsein hat seine Arbeit getan. Die Elemente, die Sie in der Präparationsphase gesammelt haben, werden neu zusammengefügt – und die Lösung wird Ihnen bewusst.
- Verifikation: Es gibt ziemlich viele Geistesblitze, d.h. auch einen Geistesblitz müssen Sie mit der Realität konfrontieren. Kann Ihre Lösung tatsächlich funktionieren oder vielleicht spricht doch etwas dagegen? Es ist anzunehmen, dass auch Archimedes seinen Geistesblitz nach dem Spaziergang mit diversen Versuchen überprüfte, denn schließlich schuldete er dem König eine belastbare Lösung.
Kreatives Denken in der IT-Analyse
Was können wir daraus für unsere Arbeit in der IT-Analyse lernen? Findet kreatives Denken auch im Requirements Engineering statt? Werfen wir einen Blick auf die im Lehrplan zur IREB-CPRE Prüfung² formulierten Haupttätigkeiten eines Requirements Engineers:
- Anforderungen ermitteln
- Dokumentation von Anforderungen
- Anforderungen prüfen und abstimmen
- Anforderungen verwalten.
Sehen Sie bei diesen Tätigkeiten Raum für Kreativität? Anforderungen ermitteln und dokumentieren – das klingt nicht nach einem kreativen Prozess. Allerdings sollte man dem klassischen Requirements Engineering auch nicht unrecht tun, denn es kennt selbstverständlich einige Kreativitätstechniken wie Brainstorming, Brainwriting oder Braindumping. Und trotzdem – wenn Sie zu kreativen Lösungen kommen wollen, dann gilt es das Vorgehensmodell des Requirements Engineerings weiterzuentwickeln. Zu diesem Zweck schlagen wir einen Analyse-Prozess – wir nennen ihn Systemanalyse 3.0 – mit drei Aktivitäten vor:
- Analysieren: Aus den verfügbaren Informationen entsteht ein Lösungsentwurf.
- Kommunizieren: Die Lösungsideen des Analytikers werden mit den Stakeholdern abgestimmt und neue Informationen kommen hinzu.
- Produzieren: Das Lösungsdesign wird mit den für die Entwicklung erforderlichen Artefakten erstellt.
Kreatives Denken in der Analyse
„Analysieren“ ist der Teil des Prozesses, in dem die verfügbaren Informationen zu einem Lösungsentwurf geformt werden. Die erste Stufe im Kreativitätsprozess nach Graham Wallas ist die Präparation. James Webb Young unterteilt diese Phase in zwei Teile: das Sammeln von Rohmaterial und das Bearbeiten dieses Rohmaterials.³
Ein Analytiker wird sich bspw. mit folgenden Fragen beschäftigen:
- Was ist die Aufgabe des Fachgebietes? Warum existiert es überhaupt? Und welche Schnittstellen zu anderen Fachgebieten gibt es?
- Welche Begriffe, Definitionen und Objekte werden verwendet?
- Woher stammen die wesentlichen Informationen und welche anderen Fachgebiete basieren auf Information aus anderen Bereichen?
- Wie und nach welchen Regeln funktioniert ein konkretes Fachgebiet?
- Was ist das Ziel des zu entwerfenden Systems?
Steve Jobs hat einmal gesagt: „Creativity is just connecting things“. Im Kontext der Analyse bedeutet dies, Informationen aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten und neuartig zu kombinieren. Die Präparation in der Analysephase ist anderer Ansatz als die Ermittlung von Anforderungen. Es geht um die Welt des Fachgebietes, um seine Regeln und Funktionsweisen. Verschiedene Informationsquellen wie Fachbücher, Dokumentationen, Publikationen oder die Gespräche mit Stakeholdern helfen beim Wissensaufbau. Dieses Wissen ist das Rohmaterial, aus dem schließlich der Systementwurf entsteht. Dies sollte natürlich in kontinuierlicher Abstimmung mit den Stakeholdern erfolgen.
Beim Verarbeiten des Rohmaterials wird es Probleme geben, Wünsche und Aussagen von Stakeholdern werden sich widersprechen, Informationen lassen sich nicht wie erhofft kombinieren. Hier kommt die Inkubation ins Spiel. Wenn sich eine Herausforderung trotz eingehender Auseinandersetzung nicht lösen lässt, helfen Pausen. Das Unterbewusstsein nimmt sich der Herausforderung an, während Sie sich anderen Tätigkeiten widmen können.
Nach einiger Zeit wird sich Ihr Unterbewusstsein wieder melden – mit völlig neuen Perspektiven und Ideen. Die Phase der Illumination ist da. Ob Sie nun Gold und Silber trennen, eine neue Variante für einen Prozessablauf oder ein optimiertes Datenmodell entwerfen wollen, spielt keine Rolle. Es ist Ihr wunderbarer Moment, es ist Ihr Geistesblitz. Aber lässt sich Ihr Geistesblitz auch umsetzen? Ist er technisch möglich, wirtschaftlich sinnvoll? Was sagen die Stakeholder dazu? Dies herauszufinden ist Aufgabe der Verifikation. Hier gilt es die Lösung begreifbar zu machen.
Kommunizieren und Produzieren in der IT-Analyse
Das „Kommunizieren“ ist die zweite Tätigkeit in unserem Prozess. Im Gegensatz zum klassischen Requirements Engineering verstehen wird darunter mehr als die „Erhebung von Anforderungen“. Es beschreibt die Abstimmung unserer Ideen und Lösungsansätze, die Kommunikation mit Stakeholdern und auch den weiteren Aufbau von Wissen. Nach dem „Heureka“ in der Illuminationsphase ist diese Phase sehr wichtig. Gelingt die Abstimmung beginnt die dritte Phase des Prozesses: das „Produzieren“. Der Lösungsentwurf steht. Nun werden die notwendigen Artefakte produziert, um den Entwurf umzusetzen, also bspw. Prozessbeschreibungen, UI Designs oder Datenmodelle.
Fazit
Die IT-Analyse kann auch ein sehr kreativer Prozess sein. Sie ist eine wichtige Basis für die Entwicklung neuer, innovativer Lösungen. Damit Innovationen in IT-Projekten möglich werden, muss die Analyse mehr als nur die Erhebung und Verwaltungen von Anforderungen leisten. Voraussetzung dafür ist aber, dass es im Prozess der IT-Analyse Platz für kreatives Denken gibt. Die von uns vorgeschlagene Vorgehensweise, wir nennen sie „Systemanalyse 3.0“, verbindet die Anforderungen der Stakeholder und dem Kreativitätsprozess, wie er von Graham Wallas beschrieben wurde. Die Grundsätze von Systemanalyse 3.0 haben wir in unserem Blog zusammengefasst: https://www.seqis.com/de/blog/business-analyse-in-der-it-systemanalyse-3-0. Sollten Sie dazu Fragen haben, freuen wir uns über Ihre Kontaktaufnahme: https://www.seqis.com/de/.
Hinweise:
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[1] Wallas, Graham: The Art of Thought, New York 1926
[2] IREB Certified Professional for Requirements Engineering – Foundation Level – Lehrplan (https://www.ireb.org/content/downloads/2-syllabus-foundation-level/ireb_cpre_syllabus_fl_de_v22.pdf)
[3]: Young, James Webb: A Technique for Producing Ideas, New York 2003
Josef Falk hat zwei weitere Beiträge im t2informatik Blog veröffentlicht:
Josef Falk
Mag. Josef Falk ist IT-Analytiker bei der Firma SEQIS GmbH. Seit dem Abschluss seines Studiums der Betriebswirtschaftslehre in Wien gestaltet er Lösungen in den unterschiedlichsten Fachbereichen – und ist dabei Mittler zwischen Fachbereich und IT-Entwicklung. Besonderes Augenmerk legt er bei der Analyse auf den Innovationsgrad. Neben seiner Projekttätigkeit befasst er sich mit der Entwicklung der Business Analyse und ist aktuell Mitglied des Vorstandes des Austria Chapter des IIBA (International Institute of Business Analysis).