Führung bedeutet, Aufmerksamkeit zu lenken

Gastbeitrag von | 03.03.2025

Wenige Erkenntnisse können die Arbeit in Organisationen so prägen wie diese einfache, fast unschuldig klingende Aussage: „Führung bedeutet Aufmerksamkeit lenken“. Wie eine Brille hilft sie, die wichtigen Dinge schärfer wahrzunehmen und gezielter zu bearbeiten. Aus ihr lassen sich eine Vielzahl von Handlungsoptionen und Methoden ableiten, mit denen jeder in der Organisation, unabhängig von Position und Rolle, in Führung gehen kann. Und auch wenn sie als Prinzip selten explizit benannt wird, zieht sie sich wie ein roter Faden durch die gesamte Managementliteratur.

Was hat Führung mit Aufmerksamkeit zu tun?

“Menschen können nur dann miteinander kommunizieren, wenn sie einen gemeinsamen Fokus der Aufmerksamkeit teilen.” (Fritz B. Simon)

Jede erfolgreiche Kommunikation zwischen Menschen setzt ein gemeinsames Thema voraus. Wer etwas mitteilt, schlägt einen Ausschnitt der Realität als Priorität vor: Schaut her, darum geht es gerade, das hier braucht unsere Aufmerksamkeit! Und wer zuhört, akzeptiert diese Prioritätensetzung. Uneinigkeit über das Thema erzeugt im besten Fall kleinere Missverständnisse (“Was meinst du damit?”), es kann aber auch handfeste Konflikte erzeugen, wenn mehrere Parteien um kollektive Aufmerksamkeit konkurrieren: “Nein, mein Thema ist jetzt wichtiger!”

Das Thema bestimmen zu können, verleiht Macht. Das Anbieten, Annehmen oder Zurückweisen von Themen birgt dementsprechend erhebliche Einflussmöglichkeiten. Von Geburt an verstehen wir es, unsere Mitmenschen auf unsere Bedürfnisse aufmerksam zu machen. Ein schreiendes Kleinkind sagt im Grunde genommen: Ich brauche etwas, mach mich zu deinem Thema! Die meisten Menschen lernen mit der Zeit, ihre Wünsche subtiler und differenzierter auszudrücken, aber der Grundmechanismus bleibt der gleiche.

Wer die Aufmerksamkeit einer Person oder einer Gruppe auf sich zieht, bestimmt das Thema der Kommunikation. Und wer das Thema bestimmt, der führt. Führen lenkt Aufmerksamkeit, und Aufmerksamkeit lenken heißt führen. Damit ist auch klar, dass “gute” Führung bei jedem selbst beginnen muss.

Selbstführung

“Maße für die Effizienz der Aufmerksamkeitssteuerung sagen die Leistungsfähigkeit von Fluglotsen und Piloten der israelischen Luftwaffe mit größerer Zuverlässigkeit vorher als der IQ.” (Daniel Kahneman)

  • Worauf konzentriere ich mich?
  • Wofür verwende ich meine Zeit?
  • Wie setze ich Prioritäten?
  • Welche Ziele verfolge ich?
  • Wie gehe ich mit Ablenkungen um?

Die meisten Menschen könnten in ihrem Selbstmanagement besser werden. Damit meine ich nicht zwanghafte Selbstdisziplin. Es geht vielmehr darum, Zeit und Aufmerksamkeit bewusst einzusetzen und sich nicht ständig von wechselnden Themen, Reizen und Zielen ablenken zu lassen. Wer sich ständig ablenken lässt, führt (sich) nicht, sondern wird zum Spielball seiner Umwelt.

Natürlich ist es wichtig, sein Umfeld zu beobachten und darauf zu reagieren. Wer gedanklich und kommunikativ nur um sich selbst kreist, verliert den Anschluss. Wenn es aber mehr Impulse, Reize und Informationen gibt, als wir verarbeiten können, sind mentale Filter überlebenswichtig: Ich nehme es wahr, aber ich beschäftige mich jetzt nicht damit. Wir müssen ständig Ablenkungen ignorieren, Reize ausblenden, Aufgaben sortieren, Anfragen ablehnen, den Fokus halten. Alle Methoden der Arbeitsorganisation, des Selbstmanagements, der Priorisierung und der Ergebnisorientierung sind im Grunde Werkzeuge für ein besseres Selbstmanagement.

Dennoch geht es hier nicht in erster Linie um Methoden. Die besten Werkzeuge können nur funktionieren, wenn das Selbst zur Selbstführung bereit ist. In meinem Arbeitsumfeld ist es z.B. beliebt, im Kalender Blocker für “Fokuszeit” einzutragen. Aber ein Kalenderblocker allein schafft noch keinen Fokus. Fokuszeit findet im Kopf statt, nicht im Kalender. Wenn ich mich in meiner “Fokuszeit” ständig ablenken lasse, nützt mir ein Kalendereintrag nichts.

Selbstführung bedeutet, die Aufmerksamkeit bewusst auf das zu lenken, was gerade wichtig ist und ist Grundvoraussetzung für effektive Führung auch im sozialen Umfeld. Wie soll eine Gruppe verstehen, was man von ihr erwartet, wenn man selbst unkontrolliert von Thema zu Thema springt und seine Zeit, seine Aufgaben und seine Kommunikation nicht im Griff hat? Wie will man andere führen, wenn man schon mit Selbstführung überfordert ist?

Führung in der Organisation

“[So] wird es für das Überleben einer jeden Organisation zur zentralen Frage, an welchen Unterscheidungen sie sich orientiert. Welche Themen treten in den Fokus der Aufmerksamkeit, welche nicht? Welches Selbstbild und welche Modelle der Welt bestimmen ihr Handeln? […] Eines der wichtigsten (manchmal allerdings nur unbewusst verwendeten) Steuerungs- und Führungsinstrumente innerhalb von Organisationen [ist] die Fokussierung der Aufmerksamkeit und damit die Steuerung der Beobachtung der Organisation.” (Fritz B. Simon)

„Warum so wenige Prioritäten? Mit einem Wort: Fokus. Eine geschäftliche Priorität definiert die wichtigste Maßnahme, die zu einem bestimmten Zeitpunkt ergriffen werden muss. Viele Unternehmen haben zu viele Prioritäten, sodass ihr Fokus geteilt ist und die Organisation letztendlich darunter leidet.“ (Ram Charan)

Sobald wir mit anderen zusammenarbeiten, wird die Fokussierung zu einem sozialen Prozess. Wenn wir gemeinsam Ziele erreichen wollen, müssen wir uns einigen

  • woran wir arbeiten (Aufgaben),
  • was wir damit erreichen wollen (Ziele) und
  • welche Mittel dafür legitim sind (Rahmenbedingungen).

Die meisten Organisationsstrukturen sind Hilfsmittel, um die Aufmerksamkeit auf diese drei Elemente zu lenken. Strategien umschreiben Ziele und erwünschte Zukünfte. Teams und Arbeitsgruppen bündeln Kommunikation auf bestimmte Aufgaben. Richtlinien, Prozesse und Checklisten lenken die Aufmerksamkeit auf wichtige Rahmenbedingungen der Organisation. Rollen und Verantwortlichkeiten sorgen für Entscheidungen und damit für Fokus.

Auch hier stelle ich in vielen Organisationen einen eklatanten Mangel an Führung fest. Das heißt nicht, dass unsere Arbeitswelt mehr direktive Anweisungen von “oben” braucht oder wir noch mehr Ziele, Rollen und Richtlinien definieren sollten, sondern dass viele Teams und Organisationen nicht gut mit ihrer kollektiven Aufmerksamkeit umgehen. Projekte ohne erkennbare Ziele, Meetings ohne klares Thema, Multitasking in Dutzenden von Aufgaben gleichzeitig, Jira-Boards mit Hunderten von parallel laufenden Aufgaben: all das sind Führungsschwächen in der Organisation. Noch einmal: Es geht nicht darum, dass Führungskräfte “mehr führen” sollen, im Gegenteil. Ich halte wenig davon, eine Gruppe intelligenter Fachexperten nur noch Anweisungen ausführen zu lassen. Es ist offensichtlich keine gute Idee, einen ganzen Organisationsbereich auf die Informationsverarbeitungskapazität eines einzelnen Vorgesetzten zu beschränken. In gesunden Organisationen geschehen jeden Tag Dinge, von denen die Führungskräfte nichts wissen oder denen sie sogar widersprechen würden, und oft sind diese Dinge für das Überleben der Organisation unerlässlich. Die Führung der Organisation ist also eine Gemeinschaftsaufgabe, und doch spielen die Führungskräfte eine zentrale Rolle dabei, die Aufmerksamkeit zu lenken.

Führung für Führungskräfte

“Das Management von Aufmerksamkeit gehört zu den wichtigsten Steuerungsinstrumenten im Unternehmen.” (Reinhard Sprenger)

“Wer eine mit formaler Macht versehene Position innehat, kann damit rechnen, dass er und seine Interventionen im Fokus der Aufmerksamkeit der ihm untergeordneten Personen stehen. […] Was ein Vorgesetzter (Person) explizit oder implizit für wichtig hält, wird dadurch für alle wichtig, die ihm untergeordnet sind. Daher wird jeder Träger einer hierarchischen Rolle von der Organisation daraufhin beobachtet, welchen Personen, Themen, Fragen, Zielen, Zwecken, Werten etc. er seine Aufmerksamkeit schenkt. Er bestimmt dadurch die Agenda, ob ihm das bewusst ist oder nicht.” (Fritz B. Simon)

Im Grunde kann jeder in der Organisation Aufmerksamkeit lenken, vom Praktikanten bis zur Geschäftsführerin. Jeder hat die Möglichkeit zu sagen: „Hey, schaut mal, das sieht wichtig aus!“ Kluge Unternehmer wissen, dass die Eintrittsbarriere für Ideen niedrig sein muss. Man weiß nie, wer die nächste geniale Idee hat, also sollten wir es den Menschen so leicht wie möglich machen, Ideen einzubringen. Auf diese Weise wird Führung zu etwas, das jeder in der Organisation übernehmen kann und sollte. Einen Großteil der Organisationsmitglieder auf rein ausführende Tätigkeiten zu beschränken, nur weil sie keine offizielle Führungsrolle haben, lässt wichtige Ressourcen ungenutzt und wäre schlicht schlechtes Unternehmertum.

Umgekehrt bedeutet dies nicht, dass formale Führungsrollen irrelevant oder überflüssig sind. Führungskräfte lenken die Aufmerksamkeit auf das, was sie für wichtig halten. Ihre Entscheidungen haben große Auswirkungen und werden vom Rest der Organisation aufmerksam verfolgt. Führungskräfte sind Knotenpunkte im sozialen Netz. Wenn sie den Fokus und damit die Richtung ändern, ziehen sie ihr organisatorisches Umfeld mit – jedes Mal, bei jedem Richtungswechsel, manchmal langfristig angekündigt, manchmal plötzlich und abrupt.

Je mächtiger also die eigene Position in der Organisation ist, desto wichtiger wird ein bewusster Umgang mit Aufmerksamkeit. Wer klar und fokussiert auftritt, ermöglicht es auch der Organisation, Themen klar und fokussiert zu bearbeiten. Wer hingegen ständig zwischen Themen und Prioritäten springt, wird für das eigene Umfeld unberechenbar. Unberechenbare Führungskräfte fördern passives und reaktives Verhalten und ineffizientes Multitasking, schließlich ist das letzte Thema noch nicht abgeschlossen, wenn schon das nächste um die Ecke kommt. Das kann so weit gehen, dass eine ganze Organisation nur noch auf die nächste spontane Idee ihres sprunghaften Entscheiders wartet. Ob eine solche Organisation dauerhaft am Markt bestehen kann, wage ich zu bezweifeln.

Zu den zentralen Hilfsmitteln, um als Führungskraft Aufmerksamkeit zu lenken, gehören:

  • Langfristige Ziele, Strategien und Visionen
  • Erfolgskriterien und Kennzahlen
  • Besprechungen und Arbeitsgruppen zu bestimmten Themen
  • Aufbau von Strukturen, z. B. Etablierung von Rollen oder Kommunikationswegen
  • Personalentscheidungen
  • Bereitstellen von Ressourcen wie Zeit und Geld
  • Anerkennung und Sanktionen, auch symbolischer Natur
  • Fokusthemen in der internen Kommunikation
  • Ritualisierung von Abläufen
  • Nutzung von Tools und Methoden
  • Persönliche Präsenz intern und extern
  • Einsatz der eigenen Arbeitszeit
  • Vorbildhaftes Verhalten (“Do as I do”)

Letztlich geht es um die Fähigkeit, Themen zu halten oder zu wechseln, je nachdem, was für die Organisation gerade wichtiger ist. Für Führungskräfte ist daher die Fähigkeit (!) zu konsistentem Verhalten enorm wichtig. Neben Fokusthemen, Prioritäten und Zielen (“Das ist mir wichtiger als alles andere!”) betrifft dies Rollen, Prozesse und Verantwortlichkeiten. Wer in einer mächtigen Entscheiderrolle diese Strukturen nicht respektiert, sie nach Belieben übergeht oder in fremde Aufgabenbereiche hinein micromanagt, entwertet sie, konzentriert Entscheidungen und Verantwortung (nicht im positiven Sinne) auf sich und erweckt den Eindruck, dass sich Eigeninitiative und Führung auf anderen Ebenen der Organisation nicht lohnen.

Und wie bereits erwähnt: Die meisten Organisationen haben eher zu viele als zu wenige Themen im Fokus. Eine zentrale Kompetenz von Führungskräften ist es daher, Themen nicht auf die Agenda zu setzen, “Nein” zu sagen und im richtigen Moment zu schweigen. Auch wenn im Alltag immer wieder Themen auftauchen, mit denen man sich auch beschäftigen könnte, oder es noch einen anderen Blickwinkel gibt, der noch nicht betrachtet wurde: Erfolgreiche Führungskräfte verstehen es, diese Themen zu priorisieren und vieles entweder im kleinen Kreis zu bearbeiten, für später zu parken oder (heimlich oder ausdrücklich) fallen zu lassen. Manche Themen sind zu einem anderen Zeitpunkt besser aufgehoben, und es ist besser, im Moment die Füße still zu halten. Es gibt immer andere Themen, mit denen man sich beschäftigen könnte. Man tut der Organisation und ihrer Produktivität aber keinen Gefallen, wenn man die Themenliste immer länger und den Perspektivraum immer breiter macht.

Führung für Nicht-Führungskräfte

“Jedes Wort, das wir sprechen, muss eine Absicht haben; so wird das, was wir sagen, es wert, beachtet zu werden.” (Ian Tuhovsky)

Wie beschrieben, bietet das Lenken von Aufmerksamkeit Führungskräften eine Vielzahl von Handlungsoptionen. Führungskräfte können aber auch abwesend oder einfach nicht die beste Quelle für Klarheit und Orientierung sein. Eine erfolgreiche Organisation setzt voraus, dass Menschen auch ohne formale Führungsrolle führen können, wollen und dürfen.

Die immer wiederkehrende Kernfrage lautet: Was braucht die Gruppe aktuell, um ihre Ziele zu erreichen? Je nach Situation kann das bedeuten, Themen gegen Ablenkungen zu verteidigen oder neue Impulse einzubringen. Erfolgreiche Arbeitsgruppen sind sowohl zu schnellen Themenwechseln als auch zu hoher Fokussierung fähig. In beiden Fällen lenken sie ihre Aufmerksamkeit bewusst. In der Praxis sieht das so aus, dass die Möglichkeit, Fragen, Ideen und Impulse einzubringen, immer gegeben sein sollte, gleichzeitig aber die Gruppe ständig prüft, ob ein neues/anderes Thema für die gemeinsame Zielerreichung wirklich hilfreich wäre. Regelmäßig bedeutet dies auch, dass Themen abgelehnt und Einwände und Fragen vertagt werden. Nicht alles muss von jedem gesagt werden, sondern am besten nur das, was wirklich einen Unterschied macht. Im Interesse effektiv genutzter gemeinsamer Zeit muss der Einzelne das aushalten können – hier kommt die oft geforderte “Teamfähigkeit” ins Spiel.

Auch für normale Mitarbeitende gibt es eine Reihe von Möglichkeiten, um Aufmerksamkeit zu lenken:

  • Neue Themen eröffnen: “Ich möchte über <X> sprechen.”
  • Themen abschließen: “Lass uns das hier nicht vertiefen.” oder “Das klären wir später bilateral.”
  • Prioritäten einfordern und durchsetzen: “Ist das wichtiger als das, woran wir gerade arbeiten?”
  • Vergleiche ziehen, z.B. mit Zielen oder Strategien: “Passt das zu dem, wo wir insgesamt hinwollen?”
  • Auf die Metaebene wechseln oder zurück: “Ich glaube nicht, dass wir so zu einem Ergebnis kommen” oder “Können wir das konkreter machen, worum geht es genau?”
  • Inhaltliche und prozessuale Fragen stellen.
  • Informationen austauschen, die für die aktuelle Diskussion einen Unterschied machen.
  • Anerkennung, Wertschätzung und Kritik ausdrücken.
  • Eine Diskussion mit Daten anreichern, z. B. in Form von Visualisierungen oder Metriken.
  • Expertinnen und Experten einbeziehen: “Fragen wir doch mal Janina aus dem IT-Team.”
  • Themen übernehmen: “Gib es mir, ich kümmere mich darum.”
  • Das eigene Arbeitspensum regulieren: “Ich kann mich erst in vier Wochen darum kümmern.”
  • Themen ablehnen: “Das kann ich nicht.”
  • Sich von Themen fernhalten: “Es wäre mir lieber, wenn du das entscheidest.”
  • Vorbildfunktion nutzen, z. B. durch gute Vorbereitung, schnelle Ergebnisse, häufige Feedbackschleifen und hohe Verlässlichkeit: “Arbeite so, wie du es von deinem Umfeld erwartest.”

Fallen Ihnen noch weitere Möglichkeiten ein, wie Mitarbeitende Aufmerksamkeit lenken können?

Strukturen, die geteilte Führung fördern

Führung und Verantwortungsübernahme durch “normale” Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kann strukturell gefördert werden. Für mich haben sich etwa Besprechungen mit offener Agenda bewährt: Jeder kann Themen einbringen, bekommt aber maximal drei Minuten pro Thema. Wer mehr Zeit braucht, kann das Meeting nutzen, um eine nachgelagerte Arbeitsgruppe zu organisieren (“Habt ihr zwei im Anschluss kurz Zeit?”).

Sehr hilfreich ist auch spannungsbasiertes Arbeiten, wie es u.a. in Holacracy oder dem Loop Approach verwendet wird. Jedes Teammitglied kann “Spannungen” einbringen – ich möchte eine Information weitergeben, ich habe eine Frage, ich möchte jemanden um eine Aufgabe bitten – aber das Team achtet darauf, dass die Spannungen klar und verständlich formuliert werden, um die gemeinsame Zeit und Aufmerksamkeit möglichst effektiv zu nutzen. Persönliche Befindlichkeiten bekommen wenig Raum, stattdessen wird auf klare Zuordnung von Aufgaben und Anliegen geachtet. Im Zentrum steht die Frage: “Was brauchst du vom Team, um damit weitermachen zu können?”

Ein häufiges Problem arbeitsteiliger Organisation ist, dass Teams kommunikativ auseinander driften und das gemeinsame Verständnis der Situation verloren gehen kann. Über die Zeit bilden sich Silos heraus. Besonders ungünstig sind Situationen, in denen ein Problem und seine Lösung gleichzeitig in der Organisation vorhanden sind, aber aufgrund von Kommunikationsbarrieren nicht zueinander finden. Regelmäßige Austauschformate und Vernetzungsveranstaltungen können hier Abhilfe schaffen. In Barcamps und Open Spaces können übergreifende Probleme thematisiert und in ungewohnten Konstellationen diskutiert werden, und durch die offene Agenda werden Führung und Eigeninitiative wieder gefördert.

Damit Mitarbeitende in Führung gehen können, brauchen sie ein gutes Verständnis der Gesamtsituation. Kommunikation ist daher am besten open by default. Das bedeutet: E-Mails und andere Punkt-zu-Punkt-Mitteilungen werden vermieden. Informationen und Fragen werden möglichst in offenen Kanälen geteilt, in denen sie für andere sichtbar sind, also in Chatgruppen, Jira-Tickets, Wikis oder im Intranet. Konkrete Ansprechpartner, deren Aufmerksamkeit unbedingt erforderlich ist, werden mit @-mention markiert. Private Direktnachrichten sollten nur für Informationen verwendet werden, die vertraulich behandelt werden müssen oder an denen die anderen offensichtlich kein Interesse haben. Schon das Eigeninteresse gebietet eine gewisse Transparenz der eigenen Arbeit – wer seine Absichten, Aufgaben und Fortschritte nicht mitteilt, darf sich nicht wundern, wenn andere (mangels Information) nicht in seinem Sinne entscheiden.

Die Grundregeln eines Teams oder einer Organisation sollten so formuliert sein, dass sie Führung und Eigenverantwortung der Mitglieder fördern. Zum Beispiel kann vereinbart werden, dass Entscheidungen immer hinterfragt werden dürfen, aber kein grundsätzlicher Anspruch auf Mitsprache in allen Fragen besteht. Oder es wird explizit erlaubt, Probleme eigenständig anzugehen, solange das Handeln transparent gemacht wird (“I intend to…”). Mit jeder zusätzlichen Instanz, deren Erlaubnis erst eingeholt werden muss, sinkt die Bereitschaft, Probleme eigenständig anzugehen. Die Frage ist also nicht, ob Eigeninitiative erwünscht ist, sondern wie sie ermöglicht werden kann, ohne dass unabgestimmte Alleingänge an anderer Stelle neue Probleme schaffen.

Die Kehrseite: Followership auf allen Ebenen

“Shared Leadership impliziert Shared Followership, verteiltes Führen heißt auch verteiltes Folgen. […] Führung war noch nie eine Einbahnstraße, in der Leader einseitig auf Follower Einfluss nehmen. Leader und Follower wirken wechselseitig auf sich ein.” (Randolf Jessl, Thomas Wilhelm)

Wenn alle ständig in Führung sind, stellt sich abschließend die Frage, wer sich dann eigentlich führen lässt. Eine Situation, in der alle gleichzeitig führen wollen, führt zu Konflikten und Kampf um Aufmerksamkeit. Mit anderen Worten: Damit Führen auf allen Ebenen gelingen kann, braucht es auch Führen-Lassen – auf allen Ebenen!

Meine Faustregel lautet: In einem fünfköpfigen Team muss ich davon ausgehen, dass 80 Prozent der Zeit andere führen, und das muss ich für mich reflektieren und akzeptieren. Für die Führungskraft bedeutet das, eigenes Nichtwissen offen einzugestehen, sich auch mal bewusst zurückzuhalten, die Mitarbeitenden in ihren Themen führen zu lassen und sich vor allem inhaltlich und prozessual unterstützend und beratend einzubringen.

Von den Teammitgliedern wiederum verlangt es, dass sie ihre Kolleginnen und Kollegen selbstverständlich führen und entscheiden lassen, ohne sich dadurch gekränkt oder in ihrer Autonomie beschnitten zu fühlen. Wenn Führungsaufgaben und -situationen allen im Team gleichermaßen zur Verfügung stehen, kann dies nur hilfreich sein.

 

Literatur und Hinweise:

Simon, F. B. (2021). Einführung in die systemische Organisationstheorie. Carl-Auer Verlag
Charan, R. (2001). What the CEO Wants You to Know: How Your Company Really Works. Crown Verlag.
Jessl, R. & Wilhelm, T. (2023). Shared Leadership: Mit geteilter Führung zu mehr Commitment und besseren Ergebnissen. Haufe-Lexware.
Kahneman, D. (2011). Schnelles Denken, Langsames Denken. Penguin UK.
Richter, T. & Groth, T. (2023). Wirksam führen mit Systemtheorie: Kernideen für die Praxis. Carl-Auer Verlag.
Sprenger, R. K. (2012). Radikal führen. Campus Verlag.
Tuhovsky, I. (2021). How to Talk to Anyone About Anything: How to Communicate Better, Improve Social Skills and Get Your Arguments Across. Positive Coaching LLC.

Kai-Marian Pukall arbeitet seit über zwölf Jahren mit agilen und selbstorganisierten Teams. Drei Jahre lang begleitete er als Agile Coach bei DB Systel eine der größten Transformationen im deutschsprachigen Raum. Aktuell arbeitet er als Organisationsentwickler bei der Seibert Group. Sein Arbeitsschwerpunkt liegt in der Erkenntnis, dass sich besonders erfolgreiche Teams oft durch Aspekte wie freiwillige Mitgliedschaft, hohes Engagement und klare interne Strukturen auszeichnen. Wie man diesen Zustand als Team erreicht, davon handelt sein Fachbuch Selbstorganisation im Team. Sehr lesenswert!

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Kai-Marian Pukall
Kai-Marian Pukall

Kai-Marian Pukall arbeitet als Organisationsentwickler für die Seibert Group. Seit vielen Jahren begleitet er agile Teams, immer mit dem Ziel, die Zusammenarbeit wertvoll und professionell, einfach und menschenfreundlich zu gestalten. Den Lean-Grundsatz “Eliminate Waste” wendet er bevorzugt auf alles an, was nach Methoden- und Businesstheater riecht.

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