Entscheidungstechniken für selbstorganisierte Projektteams – Teil 4
FOR-DEC – Eine Methode zur strukturierten Entscheidungsfindung in Projektteams
Im komplexen Projektalltag wird es immer schwieriger, das Wesentliche im Blick zu halten und auf dessen Grundlage Entscheidungen zu treffen. Die psychologische Entscheidungsforschung zeigt, dass Menschen dazu neigen, ad hoc zu entscheiden, sich von Vorannahmen leiten zu lassen, an falschen Zielen zu lange festzuhalten und eher Faustregeln zu folgen, anstatt Optionen angemessen zu analysieren. Eine bewährte Entscheidungstechnik aus der Luftfahrt dient in solchen Situationen als Navigationshilfe: FOR-DEC.
FOR-DEC – Strategie für ein strukturiertes Entscheiden im Team
In der zivilen Luftfahrt wird seit Jahren „gute Entscheidungsfindung“ entwickelt und dafür viel investiert, da Piloten immer wieder Situationen unter hohem Zeitdruck entscheiden müssen.
FOR-DEC ist eine Methode zur strukturierten Entscheidungsfindung, die von der NASA entwickelt wurde.¹ Ihr Zweck: Piloten und andere Verantwortliche in der Luft- und Raumfahrt in schwierigen Situationen, in denen es mitunter buchstäblich um Leben und Tod geht, zu einer guten Entscheidung führen. Die Methode ist als Checkliste möglichst einfach gehalten, damit sie auch unter Stress, der das Denken bekanntlich schwerer macht, sicher angewendet werden kann.
Das Wort FOR-DEC oder auch FORDEC ist ein Akronym. Es wird aus den Anfangsbuchstaben der folgenden Begriffe gebildet:
- F – Facts
- O – Options
- R – Risks & Benefits
- D – Decision
- E – Execution
- C – Check
Die ersten drei Buchstaben stehen für die Disziplin „Analyse“, die letzten drei Buchstaben für die Disziplin „Umsetzung“. (Als Schreibweise bevorzuge ich FOR-DEC, da diese die Trennung auch im Akronym zeigt.)
Jeder Buchstabe bzw. Begriff steht für einen einzelnen Schritt. Diese werden sequenziell in der entsprechenden Reihenfolge als Checkliste abgearbeitet. Dabei spielen Leitfragen eine wichtige Rolle:
- Fakten: Was ist das Problem? Wie ist die Situation?
- Optionen: Welche Handlungsmöglichkeiten ergeben sich aus den Fakten?
- Risiken und Chancen: Was spricht gegen die Option (Risiko)? Was spricht für die Option (Chance)?
- Entscheidung: Wie lautet die Entscheidung? Was tun wir?
- Ausführung: Was sind die einzelnen Schritte? Wer tut was, wann, wie und wo?
- Überprüfung: Ist alles richtig? Haben wir uns verbessert? Haben wir neue Fakten? FOR-DEC erneut starten?
Das folgende Modell zeigt die operationale Nutzung der Methode:
Durchführung der FOR-DEC Methode
Facts – Welche Situation liegt vor?
Was sind die Fakten? Über diesen vermeintlich trivialen Punkt sollte ein Projektteam nicht zu schnell hinweg gehen. Zu beachten ist, dass keine Interpretationen oder Bewertungen vorgenommen werden. Es geht einzig und allein um die reinen Fakten und ein umfassendes Bild der Ausgangssituation.
Bei Entscheidungen im Projektteam beantwortet jeder diese Frage zunächst für sich allein und präsentiert anschließend seine Sicht der Dinge. Es ist wichtig, die Einschätzung der Fakten von allen Beteiligten zusammenzutragen, um einseitige Verzerrungen oder hierarchische Einflüsse nach Möglichkeit frühzeitig zu entdecken. Darüber hinaus wird das Ziel definiert, das mit der Entscheidung erreicht werden soll, Lösungsoptionen werden aber noch nicht thematisiert.
Options – Welche Handlungsoption bietet sich an?
Nachdem stichpunktartig alle Fakten notiert sind, stellt sich die Frage „Welche Handlungsoptionen ergeben sich aus den Fakten?“ Wichtig dabei ist, sich nicht nur auf die offensichtlichen Optionen zu beschränken.
Das Projektteam beginnt mögliche Lösungen zu nennen, ohne diese zu bewerten. Bewertungsdiskussionen sollten auf jeden Fall unterbunden werden. Wie viel Zeit in die Sammlung der Optionen gesteckt wird, hängt von der Zeitkritikalität ab.
- In zeitkritischen Umgebungen ist es besser, schnell eine Entscheidung zu treffen, deren Auswirkungen zu beobachten und die Entscheidung bei Bedarf zu korrigieren, als sich durch eine zu lange Optionssuche in eine missliche Lage zu begeben.
- Ist die Entscheidung nicht zeitkritisch, ist es sinnvoll, sich entsprechende Zeit zu nehmen und auch unkonventionelle Einfälle zu notieren. Diese können später immer noch gestrichen werden. Es gibt keine Denkverbote.
Risk & Benefits – Welche Risiken und Chancen sind mit den jeweiligen Handlungsoptionen verbunden?
In diesem Schritt wird beschrieben, mit welcher Wahrscheinlichkeit die Optionen umsetzbar sind. Die erwarteten Folgen einer geäußerten Handlungsoption / Lösung führen zur direkten Bewertung von Risiken und Chancen.
Die Verwendung einer einfachen Darstellung mit der Nennung der Option und je eine Spalte für „Risiken und Nachteile“ bzw. „Chancen und Vorteile“ hat sich in der Praxis bewährt. So erhalten Projektteams einen Überblick und die Überbewertung von Risiken und das Übersehen von Chancen wird erschwert. Anschließend folgt zu jeder Option eine Diskussion, bei der nach Möglichkeit die Differenzierung zwischen der jeweiligen Wahrscheinlichkeit und der Auswirkung mit betrachtet werden.
In einem nicht zeitkritischen Setup kann ggf. eine klassische Risikoanalyse durchgeführt werden. Diese kann – je nach gestecktem Ziel – einen Einfluss auf die Entscheidung haben.
Hinweis: Bei der Bewertung sollten gruppendynamische Effekte wie z.B. das Risky-Shift-Phänomen (Risikoverlagerung) beachten werden. Das Risky-Shift-Phänomen beschreibt den Effekt, dass eine Gruppe zu riskanteren Entscheidungen tendiert als die einzelnen Gruppenmitglieder dies tun würden.
Damit ist der Teil der Analyse abgeschlossen und es geht in die Umsetzung.
Decision – Welche Handlungsoption wird gewählt?
Es liegen nun alle Informationen auf dem Tisch. Jetzt heißt es konsequent zu sein und eine Entscheidung zu treffen. Grübeln gleicht einer „mentalen Warteschleife“, es vergeht wertvolle Zeit. Sollte sich das Projektteam dennoch mit der Entscheidung schwertun, besteht die Möglichkeit einen Dritten, um Rat zu fragen. Wie in der Luftfahrt kann hier ggf. ein „Co-Pilot“ unterstützen. Außenstehende sehen die Dinge oft klarer.
Die endgültige Entscheidung sollte begründet werden und vom gesamten Projektteam ein Commitment erhalten.
Execution – Wie wird die Handlungsoption ausgeführt?
Jetzt gilt es, zügig ins Handeln zu kommen. Nachdem klar ist, was zu tun ist, geht es um wer, wann, wie und wo. Die Erstellung eines Maßnahmenkatalogs inklusive der Zuständigkeiten hilft dem Projektteam, die Übersicht zu behalten.
Die getroffene Entscheidung wird kommuniziert, um die dafür notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Diese können auch die Kommunikation der Entscheidung und der Intentionen außerhalb des FOR-DEC-Kontexts umfassen.
Check – Führt der eingeschlagene Weg zum Ziel?
FOR-DEC ist kein „Augen zu und durch“-Modell. Gerade bei längerfristigen Projekten muss regelmäßig überprüft werden, ob die Handlungsoptionen noch auf Kurs sind und ob die beschlossenen Maßnahmen greifen. Dazu ist eine bewusste Überwachung der Situation und die kontinuierliche Überprüfung des Nutzens der getroffenen Entscheidung nötig.
Der Check ist essenziell, wird aber bei Ad-hoc-Entscheidungsfindungen oft vernachlässigt. Er schließt den Regelkreis für alles, was bisher getan wurde. Wird beim Check erkannt, dass das bisherige Vorgehen nicht zielführend ist, muss FOR-DEC erneut durchlaufen werden. Neue Fakten, neue Erkenntnisse aus dem Projektteam, sowie äußere Einflüsse oder ähnliches führen zu einem erneuten Durchlauf, beginnend bei den Fakten.
Tipps zum Einsatz der FOR-DEC Methode
Wichtig ist, FOR-DEC in der Praxis richtig einzusetzen: Oftmals wird die Methode genutzt, aber leider in den falschen Situationen:
- Achten Sie darauf, ob eine Entscheidung eigentlich schon feststeht: Denn dann benötigen Sie kein zusätzliches, strukturiertes Vorgehen.
- Setzen Sie diese Methode ein, wenn schnell eine Entscheidung getroffen werden muss und es keine zusätzlichen Vorgaben oder Checklisten gibt.
- Klären Sie, wo die Prioritäten bei der Entscheidung liegen und beginnen Sie erst dann mit der Durchführung.
Achten Sie auf die Zeit!
In Projektteams kann der Einsatz von FOR-DEC unter Umständen zu langen Diskussionen führen. Auch wenn nicht direkt Zeitdruck herrscht, sollte sich das Team einen Zeithorizont (Timebox) für die Durchführung von FOR-DEC setzen.
Achten Sie auf Autoritätsgradienten!
FOR-DEC lebt vom Input aller Projektbeteiligten. In hierarchischen Setups oder bei starken, meinungsbildenden Persönlichkeiten im Projektteam sollte der Moderator darauf achten, dass zuerst die ruhigeren Projektteammitglieder bzw. die in der Hierarchie tiefer Stehenden bei den einzelnen Schritten ihren Input liefern. Damit vermeiden Sie, dass sich die Teammitglieder unbewusst den Meinungsführern oder Vorgesetzten anschließen.
FOR-DEC kann nicht delegiert werden!
FOR-DEC ist ein Entscheidungsprozess. Prinzipiell können nur diejenigen entscheiden, die auch in einen solchen Prozess involviert sind/waren. Alle Schritte werden von – immer denselben – Projektbeteiligten durchgeführt. Eine Übergabe zwischen den Schritten an andere Beteiligte ist nicht vorgesehen und ist prinzipiell der Entscheidungsqualität nicht dienlich.
In hierarchischen Setups sollte die Methode nicht dazu verwendet werden, Entscheidungen für Vorgesetzte vorzubereiten.
Materialien, die den Einsatz von FOR-DEC unterstützen
FOR-DEC ist ein rein gedanklicher Prozess und benötigt deshalb keine Materialien.
Für moderierte Entscheidungsprozesse im Team (Brainstorming u ä.) können geeignete Moderationsmaterialien (z.B. Pinnwand, Karten, Whiteboard) hilfreich sein.
Für die Dokumentation von Entscheidungsprozessen kann eine Checkliste (Maßnahmenkatalog) bzw. Formblatt (Begründung für die Entscheidung) sinnvoll sein.
Vorteile beim Einsatz von FOR-DEC als Entscheidungstechnik
Aus meiner Sicht bietet FOR-DEC drei zentrale Vorteile:
- Generieren und Vergleichen mehrerer Optionen gegenüber intuitiven Entscheidungen erfolgt strukturiert und unter Einbeziehung aller Beteiligten.
- Die Einflüsse von mentalen Fehlermechanismen (Heuristiken, kognitiven Verzerrungen) werden minimiert.
- Die Transparenz des Entscheidungsprozesses bei Entscheidungen im Team wird erhöht.
Alle drei Punkte sind in der Praxis sehr wichtig, denn die Einbeziehung der Beteiligten, die gemeinsame Suche nach der situativ besten Lösung, die Transparenz bei der Entscheidungsfindung (auch in Kombination mit der anschließenden Kommunikation) steigern das Commitment der Beteiligten für die getroffene Entscheidung.
Fazit
FOR-DEC lässt sich zur Entscheidungsfindung sehr gut einsetzen. Es ist ein Werkzeug, um eine Situation basierend auf Fakten aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, und Optionen basierend auf Wissen und Erfahrung zu identifizieren. Meiner Meinung nach gewährleistet die strukturierte Vorgehensweise mit ihren 6 Schritten eine optimale Reaktion auf Krisen.
Das Wichtigste zum Schluss: Eine Situation endet nicht mit der getroffenen Entscheidung. In der Luftfahrt wie im Business zählen nicht die Entscheidungen, die wir treffen, sondern Ergebnisse. Fallen diese nicht wie gewünscht aus, dann gibt es nur eine passende Option: Beginnen Sie mit FOR-DEC von vorne!
Hinweise:
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Im nächsten Teil der Beitragsserie wird Frau Kiel weitere Entscheidungstechniken erläutern.
[1] Im Herbst 1992 gründeten die Lufthansa und das Department of Aviation and Space Psychology (DLR) eine Arbeitsgruppe für Crew Resource Management (Soll, H et al.: Decision-Making Tools for Aeronautical Teams: FOR-DEC and Beyond, Aviation Psychology and Applied Human Factors, 2016, 6 (2), 101–112). Im Rahmen dieser Arbeitsgruppe entwickelte Hans-Jürgen Hörmann FORDEC als Entscheidungsmodell (Hörmann, H. J.: FOR-DEC – A Prescriptive Model for Aeronautical Decision Making, 21. WEAAP-Conference, Dublin, 1994).
Literatur zum Nachlesen:
Artikel FORDEC aus dem projektmagazin, 2018, Die FORDEC Methode – Checkliste für gute Entscheidungen, Philipp Keil
Cornelia Kiel hat im t2informatik Blog weitere Beiträge veröffentlicht:
Cornelia Kiel
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