Entscheidungstechniken für selbstorganisierte Projektteams – Teil 1

Gastbeitrag von | 12.11.2020

In agilen Projekten liegen Entscheidungen vermehrt in den Händen des Projektteams. Damit dieses Team Entscheidungen treffen kann, ist es wichtig, Methoden zur Entscheidungsfindung zu kennen und zu nutzen. Dabei können Entscheidungen beliebig komplex sein und nicht jede Entscheidungstechnik ist die “richtige” für die entsprechende Fragestellung. Aus dieser Erkenntnis resultiert eine Frage: Wie können Projektteams für ihre Fragestellung die richtige Entscheidungstechnik finden?

Bei der Beantwortung dieser Frage helfen zwei Hilfsmittel:

  • die Stacey-Matrix und
  • das Cynefin-Framework.

Beide werde ich in diesem Beitrag zu einem Modell kombinieren.

Was ist die Stacey-Matrix?

Die Stacey-Matrix wurde von Ralph Douglas Stacey¹ entwickelt, einem Professor für Management an der Hertfordshire Business School in Großbritannien. Sie ist ein einfacher Ordnungsrahmen zur Abgrenzung

  • einfacher,
  • komplizierter,
  • komplexer und
  • chaotischer Aufgaben.

Sie bietet eine klare Portfolio-Strukturierung und hilft bei der Entscheidung, welches Vorgehen beim Management von Projekten und Prozessen angesagt ist – zum Beispiel ein eher agiles Vorgehen oder ein Standard-Vorgehen. Da Entscheidungen aber immer auf die gleiche Art und Weise getroffen werden, wird die Stacey-Matrix auch generell bei der Auswahl von Entscheidungstechniken eingesetzt.

Stacey Matrix - Blog - t2informatik

Die horizontale Achse der Stacey-Matrix ist die Wie-Achse. Sie steht für den Weg, wie eine Entscheidung zu treffen oder eine Herausforderung zu meistern ist, um das bestmögliche Ergebnis zu erzielen.

Die vertikale Achse hingegen ist die Was-Achse. Sie steht für die Ziele, die es zu erreichen gilt bzw. welchen Nutzen der Kunde hat. Bei einer Entscheidung können sowohl die Ziele und der Kundennutzen, die es zu erreichen gilt bzw. zu erfüllen sind, als auch der bestmögliche Weg dafür mehr oder weniger bekannt oder unbekannt sein.

Aus meiner Sicht ist die Stacey-Matrix ein wirkungsvolles Instrument, um zu einer ersten Einschätzung über die passende Entscheidungstechnik zu gelangen: Welche Entscheidungstechnik ist mit hoher Wahrscheinlichkeit zielführend? Ist die Entscheidungssituation “einfach” oder “kompliziert” kommt man in der Regel mit Standardprozessen und Lean-Ansätzen weiter. Ist sie hingegen “komplex” oder gar “chaotisch”, sollte man sich agiler Entscheidungstechniken bedienen.

Was ist das Cynefin-Framework?

Inhaltlich ist die Stacey-Matrix sehr ähnlich zum sogenannten Cynefin-Framework von Dave Snowden².

Cynefin ist das walisische Wort für Lebensraum. Beim Cynefin (kunev’in ausgesprochen) handelt es sich um ein Framework, welches bereits Anfang des Jahrtausends von IBM entwickelt und später von David Snowden weiterentwickelt wurde.

Die zentrale Fragestellung in Hinblick auf das Framework ist, Entscheidungsträgern einen Kompass zu geben, um eine Situation oder eine Fragestellung besser einschätzen zu können und aus dieser die geeignete Entscheidungstechnik abzuleiten.

Cynefin-Framework als Kompass für Fragestellungen
Das Cynefin-Rahmenwerk kennt fünf Systeme, wobei sich die ersten vier mit der Stacey-Matrix decken.

1. Einfache Systeme

“Offensichtlich” oder auch als “Simpel” bezeichnet ist die Kategorie der Best Practices. Wir sprechen von “Offensichtlich”, weil es eine klar erkennbare Beziehung von Ursache und Wirkung gibt, welche auch bekannt ist. Damit befinden wir uns in einem Kontext, in dem Fragestellungen durch die Anwendung bestehender, geprüfter Entscheidungstechniken gelöst werden.

2. Komplizierte Systeme

Komplizierte Fragestellungen und Herausforderungen lassen sich ebenfalls durch bewährte Entscheidungstechniken lösen. Allerdings sind die Ursache-Wirkungsbeziehungen zwischen den einzelnen Fragestellungen so vielfältig und zahlreich, dass man spezielles Fachwissen benötigt und sie explizit untersuchen muss, um sie nachvollziehen zu können.

3. Komplexe Systeme

Komplexe Systeme sind im Gegensatz zu komplizierten Systemen ungeordnet, so dass die Ursache-Wirkungsbeziehungen nicht mehr vorausschauend, sondern nur im Rückblick erkannt werden können. Bei komplexen Systemen wird auf Erfahrungen zurückgegriffen. Bei komplexen Systemen sollten die angewandten Entscheidungstechniken daher die Erfahrungen und das Know-how des Projektteams berücksichtigen.

4. Chaotische Systeme

In chaotischen Systemen können keine Ursache-Wirkungsbeziehungen identifiziert werden. Auf identischen Input kann das System mit unterschiedlichen Outputs reagieren, da es sich beständig verändert. Das Projektteam sollt hier auf agile Entscheidungstechniken zurückgreifen.

5. Verwirrung

Der Zustand der Verwirrung besteht dann, wenn unklar ist, welche Art von System vorliegt. Projektteams ziehen sich dann in ihre Komfortzone zurück, d.h. sie treffen Entscheidungen dann nur aufgrund ihrer bestehenden Erfahrungen, ohne die tatsächliche Situation zu berücksichtigen. Bevor hier Entscheidungen getroffen werden können, muss eine Reduktion ggf. Aufteilung in Einzel-Schritten vorgenommen werden.

Handlungsmuster in den Systemen des Cynefin-Frameworks

Die Handlungsmuster für ein Vorgehen unterscheiden sich in den einzelnen Systemen:

  • In simplen / offensichtlichen Systemen steht die Frage nach dem Sinn im Vordergrund, gefolgt von einem Kategorisieren und Reagieren. Es ist sowohl bekannt, was der Kunde braucht als auch der Weg dorthin.
  • Beim Handlungsmuster für komplizierte Systeme steht ebenfalls die Frage nach dem Sinn im Vordergrund. Die richtige Entscheidungstechnik sollte anschließend analysieren, was der Kunde will, bevor das Handeln den Weg zur Lösung beschreibt.
  • Bei komplexen Systemen sollte die Entscheidungstechnik zuerst das Untersuchen unterstützen, zumal in komplexen Systemen auf Erfahrungswerte zurückgegriffen wird. Aus den Erfahrungen kann der Nutzen für den Kunden herausgearbeitet werden, um dementsprechend zu reagieren.
  • In chaotischen Systemen gibt es keine Grundlage, auf welche man sich verlassen kann. Auch das Ergebnis kann bei gleichen Voraussetzungen unterschiedlich sein. Die genutzten Entscheidungstechniken basieren auf notwendigen sowie nützlichen Voraussetzungen. Das bedeutet, dass Projektteams / Entscheider erst handeln bzw. testen, bevor nach dem Nutzen für den Kunden gefragt wird.

 

Mit einem neuen Modell zur passenden Entscheidungstechnik

Damit für Projektteams nachvollziehbar ist, welche Entscheidungstechnik zu welchem System passt, macht es aus meiner Sicht Sinn, die Stacey-Matrix und das Cynefin-Framework übereinander zu legen. Dabei habe ich bewusst auf das fünfte System “Verwirrung” verzichtet, da dieses ohne Reduktion keine Grundlage für Entscheidungen bildet.

Die Domänen des Cynefin-Frameworks sind so aufgebaut, das auf der rechten Seite (simpel/offensichtlich und kompliziert), die Domänen “geordnet” sind – Ursache und Wirkung sind bekannt. Die Domänen auf der linken Seite (komplex und chaotisch) sind “ungeordnet”: – Ursache und Wirkung können nur im Nachhinein oder gar nicht abgeleitet werden.

Damit ein Übereinanderlegen möglich war, habe ich die Systeme des Cynefin-Frameworks neu angeordnet, ohne jedoch die Inhalte zu ändern. So kann das strukturierte Portfolio der Stacey-Matrix genutzt werden.

Die folgende Grafik zeigt die Stacey-Matrix mit den zugehörigen Handlungskompetenzen und den entsprechenden Entscheidungstechniken aus dem Cynefin-Framework:

Cynefin-Modell als Kombination aus Stacey-Matrix und Cynefin-Framework

Insgesamt sind hier 21 Entscheidungstechniken den Systemen zugeordnet. Einen Anspruch auf Vollständigkeit ist dabei aber nicht gegeben.

Ebenso ist die Zuordnung der Entscheidungstechniken zu den Systemen subjektiv. Um aufzuzeigen, dass es sich bei der Grafik um eine neue Darstellung handelt, habe ich den Begriff “Cynefin-Modell” gewählt.

Ziel dieses Modells ist es, Projektteams die Auswahl der richtigen Entscheidungstechnik zu erleichtern, damit nicht mit “Kanonen auf Spatzen” geschossen wird. Für die Auswahl des neuen Druckers in einem Unternehmen ist kein “Systemisches Kondensieren” notwendig. Andersherum kann ich bei einem Großbrand nicht über die Entscheidungstechnik “Abstimmung” bestimmen, an welcher Stelle das Löschen des Brandes beginnt.

Fazit

In der heutigen Projektwelt sollten Projektteams schnell auf Veränderungen reagieren können. Dabei gehört für agile Projektteams das Treffen von Entscheidungen zur täglichen Herausforderung. Jedes Projektteam sollte eine Reihe von Entscheidungstechniken kennen und in der Lage sein, die “richtige” Entscheidungstechnik für die bestmögliche Lösung zu nutzen. Die Abbildung der Entscheidungstechnik im Cynefin-Modell unterstützt die Auswahl.

In diesem Sinne: Nutzen Sie das Cynefin-Modell für Ihre nächste Entscheidungsauswahl und freuen Sie sich auf die bestmögliche Lösung.

 

Hinweise:

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Dieser Artikel ist der erste in einer Reihe zu “Entscheidungstechniken für selbstorganisierte Projektteams”. In weiteren Artikeln wird Cornelia Kiel u.a. über Werte und Prinzipien als Grundlage für Entscheidungen sowie verschiedene Entscheidungstechniken schreiben.

[1] Veröffentlichungen von Ralph Douglas Stacey
[2] Informationen über Dave John Snowden

Cornelia Kiel hat weitere Beiträge im t2informatik Blog veröffentlicht, u.a.:

t2informatik Blog: Entscheidungstechniken für selbstorganisierte Projektteams - Teil 2

Entscheidungstechniken für selbstorganisierte Projektteams – Teil 2

t2informatik Blog: Agilität 4.0 – sieben Punkte für agile Projekte

Agilität 4.0 – sieben Punkte für agile Projekte

t2informatik Blog: Entscheidungen richtig treffen

Entscheidungen richtig treffen

Cornelia Kiel
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Cornelia Kiel steuert Projekte intelligent und nachhaltig seit über 20 Jahren. Dabei setzt Sie auf unterschiedlichste Methoden: vom Wasserfall über V-Modell bis hin zu den diversen agilen Frameworks wie Scrum, Kanban oder SAFe – immer im Sinne des effizienten Projekts.

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Am Anfang steht immer die Frage nach dem Warum. – Schon als Kind hat sie ihren Vater damit zur Verzweiflung getrieben. – Mit dieser Neugier kommt Cornelia Kiel mit Ihnen gemeinsam dem Sinn und Zweck Ihres Projekts auf die Spur. Ebenso wird die Frage nach dem Nutzen für Ihren Kunden beantwortet. Von diesem Ausgangspunkt gelangen Sie fokussiert an das Ziel Ihres Projekts.