Die eine Fähigkeit, die wir in der digitalen Zukunft brauchen

Gastbeitrag von | 18.11.2019

Seit einigen Jahren wird der Ruf nach Programmierunterricht an Schulen immer lauter. “Coden” sei in der Zukunft die wichtigste Fähigkeit, die man mitbringen kann. Da bin ich aber anderer Meinung!

Vor vier oder fünf Jahren ist mir zum ersten Mal aufgefallen, dass immer öfter gefordert wird, an Schulen Programmieren als Unterrichtsfach einzuführen. Es gibt einige Bewegungen, die das massiv unterstützen, die davon überzeugt sind, dass “Coden” unbedingt auf den Lehrplan muss. Coden, also Programmieren, sei die ultimative Fähigkeit der Zukunft. Ohne Programmierkenntnisse würde man in der Zukunft keinen Job mehr finden und auch für das Privatleben wären Programmierkenntnisse immer wichtiger. Darum müssten die heutigen Lehrpläne um Programmierunterricht ergänzt werden.

Programmieren ist die Kunst, Befehle verständlich an eine Maschine zu übergeben. Das erfolgt über Programmiersprachen, in denen Text zu einem langen Code, also einer langen Abfolge von Befehlen, zusammengesetzt wird. Damit wäre Programmieren etwas, was grundsätzlich in den Lehrplan von Schulen passen würde.

Programmieren von klein auf

Es gibt eine ganze Reihe von Kinderspielen, die die Fähigkeit, zu programmieren, fördern sollen. Beispielsweise sollen kleine Figuren ein Parkour bestehen, der Spieler lotst die Figur mit einfachen Anweisungen um die Hindernisse herum oder darüber hinweg. “Gehe drei Schritte vorwärts. Dreh dich nach rechts. Gehe zwei Schritte vorwärts und hüpfe über einen Block”, so sehen Programmierspiele in ihrer einfachsten Form aus. Ganz spielerisch sollen schon die Kleinsten an das Programmieren herangeführt werden.

An Schulen scheinen sich Mini-Computer zu etablieren. Ausgerüstet mit allem nötigen, was ein großer Computer auch mitbringt und zusätzlich beispielsweise einem LED-Panel, verschiedenen Sensoren und zusätzlichen Steckplätzen gibt er viel Spielraum für eigene Entwicklungen.

Doch ich bin zwiegespalten. Zum einen finde ich das überhaupt nicht verkehrt, wenn Kinder verstehen, was Programmieren bedeutet und es sogar lernen. Ich finde es sogar wichtig, dass sie lernen, was es heißt, ein Computer nicht nur als Nutzer zu bedienen, sondern selbst damit etwas zu erschaffen.

Allerdings glaube ich, dass das nicht die Top-Fähigkeit sein wird, die unsere Kinder in der Zukunft haben müssen. Ich glaube nicht daran, dass wir alle programmieren können müssen, um im Berufs- und Privatleben bestehen zu können. Ich glaube daran, dass andere Fähigkeiten in der Zukunft sehr viel wichtiger sein werden: Informationen gewinnen und sie kritisch zu hinterfragen. Und genau die kommen in den heutigen Lehrplänen zu kurz!

Eins nach dem anderen

Ich bin fest davon überzeugt, dass wir Informationen recherchieren und die Wahrheit von falschen Informationen trennen können müssen. Es wird immer einfacher, Informationen ins Netz zu stellen und sie in Windeseile zu verbreiten. Mit Hilfe von “Deep Fakes” können falsche Information so tief verankert werden, dass wir davon überzeugt sind, dass Donald Trump mit anderen Staatsoberhäuptern „Imagine“ singt. Aber so modern muss die Technik gar nicht sein. Viel einfacher sind die Möglichkeiten der Bildbearbeitung, mit der Meinungsmacher ohne großen Aufwand buchstäblich ein Bild in den Köpfen der Empfänger kreieren können. Da müssen noch nicht einmal Elemente verfälscht werden, es reicht oft schon, den Bildausschnitt geschickt zu setzen. Und noch einfacher ist es, einzelne Informationen aus einem großen Kontext heraus zu reißen und als aussagekräftiges Statement allein zu stellen.

Fakt ist, dass immer mehr Informationen auf uns einprasseln. Es gibt eine überschaubare Menge an Quellen für Informationen, denn jeder einzelne Mensch, der Zugang zum Internet hat, kann dort Informationen verbreiten. Bei dieser großen Menge können wir nicht mehr ausmachen, wer der ursprüngliche Absender einer Information war und können damit auch nicht mehr die Vertrauenswürdigkeit der Quelle einschätzen.

Ein Gedankenexperiment

Versetzen Sie sich bitte gedanklich einmal einige hundert Jahre zurück: Es gab einmal eine Zeit, in der wurden Häuser aus Lehm und Stroh gebaut. Im Winter froren die Menschen, bei Regen brachen die Häuser ein. Aus heutiger Sicht war es ein Desaster. Dann kam der Zeitpunkt, an dem die Menschen eine Lösung fanden: Steinhäuser. Von dort an war die ultimative Fähigkeit das Mauern. Jedem war es klar, dass Steinhäuser die Zukunft waren und man ohne Kenntnisse als Steinmetz und Maurer nirgendwo mehr Fuß fassen könnte. Überall wurde gebaut, Steinmetze konnten gar nicht genug Lehrlinge finden und die Preise für ein fertiges Haus stiegen in astronomische Höhen.

Das klingt absurd und lange her? Nicht doch. Natürlich ist vieles für uns heute selbstverständlich. Aber wir stehen, verglichen mit damals, an einem ähnlich wichtigen Punkt, an dem sich unser (Arbeits-)Leben ändert. Und ebenso stehen wir vor wichtigen Herausforderungen: Hätte zu diesem Zeitpunkt jeder ein Haus bauen können, wo und wie er das wollte, hätte das schnell ein Chaos gegeben. Es war wichtig, im Voraus zu planen und so Siedlungen, Dörfer und ganze Städte zu erschaffen.

Würde heute jedes Kind das „Coden“ ohne das Denken an der Schule lernen, wäre das Chaos wahrscheinlich ähnlich. Menschen würden weiterhin Befehlsempfänger bleiben, lediglich die Werkzeuge würden sich verändern.

Coden ohne denken

Es geht nicht um „kleine“ Gaunereien, die einem Unternehmen einen Vorteil verschaffen oder einen Gegner an die Wand drücken sollen. Schon heute werden mit gezielt aufbereiteten und sogar falschen Informationen ganze Wahlkämpfe bestritten und gewonnen. Damit zieht der Einfluss viel weitere Kreise, Nutznießer sind nicht mehr nur einzelne Unternehmen, sondern mitunter ganze Länder.

Mitarbeiter, die ihr Tun nicht hinterfragen, werden zu Werkzeugen ihrer Organisationen. Was früher das Fließband war, sind heute die Computer. Das Ergebnis setzt der Auftraggeber fest, der Mitarbeiter führt es in großer Zahl nur noch aus.

Coden und denken

Heute gilt mehr denn je, dass wir mit dem, was wir unseren Kindern an den Schulen beibringen, die Gesellschaft von morgen gestalten.

Computer geben uns die Möglichkeit, die Welt zu einem wunderbaren Ort zu machen. Doch damit das passiert, müssen Menschen Antworten auf Fragen finden wie “was braucht die Welt” und “wie mache ich mir und meiner Umgebung den meisten Sinn”, bevor sie anfangen, eine Lösung zu programmieren.

An immer mehr Schulen wird das Programmieren jetzt tatsächlich verstärkt angeboten. Ich finde das überhaupt nicht verkehrt, aber ich wünsche mir, dass andere Dinge nicht zu kurz kommen. Da ist meine verstärkte Bitte an alle, die es mit in der Hand haben, die irgendeine Möglichkeit haben, die Welt ein wenig zu verändern, seien es Lehrer, Schulleiter oder die Eltern: Lauft nicht blind dem Trend hinterher, den bestehenden Unterricht um das Fach “Programmieren” zu erweitern. Es ist nicht damit getan, Kinder an einen Computer zu setzen und ihnen Programmiersprachen beizubringen.

 

Hinweise:

Diesen Beitrag können Sie sich auch bequem als Podcast anhören:

Podcast Chancenfinder
In jedem Change-Projekt kommt der Punkt, an dem die Beteiligten nicht weiter wissen – dann wächst der Zeitdruck und die Widerstände werden lauter, aber die Erfolge tröpfeln nur vor sich hin. Höchste Zeit für individuelle Lösungen! Sprechen Sie mit Stephanie Selmer und lassen Sie sich von ihr helfen.

Interessieren Sie sich für weitere Tipps aus der Praxis? Testen Sie unseren wöchentlichen Newsletter mit interessanten Beiträgen, Downloads, Empfehlungen und aktuellem Wissen.

Stephanie Selmer hat im t2informatik Blog weitere Beiträge veröffentlicht, u. a.

t2informatik Blog: Change Management ist tot - es lebe der Dauer-Change

Change Management ist tot – es lebe der Dauer-Change

t2informatik Blog: Introversion oder Extraversion

Introversion oder Extraversion

t2informatik Blog: Meine Wunschliste an Scrum Master

Meine Wunschliste an Scrum Master

Stephanie Selmer
Stephanie Selmer

Starke Unternehmen setzen für Weg in die Zukunft nicht nur auf neue IT-Systeme, sondern besonders auf ihre Mitarbeiter. Stephanie Selmer unterstützt Organisationen bei Veränderungen, bei der Verbesserung der Zusammenarbeit, beim Erreichen gemeinsamer Ziele und der Suche nach IT-Fachkräften. Zu ihren Kunden gehören mittelständische Unternehmen aus allen Branchen, die in der Digitalisierung eine Chance erkennen und ihre Mitarbeiter damit stärken wollen.