Die Arbeit mit agilen Werten

Gastbeitrag von | 07.07.2022

Glauben Sie, dass alle Menschen in Ihrer Organisation unter Mut das Gleiche verstehen? Können Sie sich vorstellen, dass Offenheit und Respekt in Konkurrenz stehen können? Und wie viel Offenheit ist noch respektvoll?

Mut, Offenheit und Respekt sowie Fokus und Selbstverpflichtung – das sind fünf Werte, die im Scrum Guide1 genannt und regelmäßig im Zuge von agilen Transformationsvorhaben thematisiert werden. Meine persönlichen Erfahrungen mit Wertediskussionen sind jedoch ambivalent, denn diese Werte werden häufig sehr unterschiedlich besprochen, gelebt und ja, manchmal auch missbraucht. Werte lassen sich nicht einfach in Schulungen und Seminaren verändern, um kurzerhand gemeinsam bessere Ergebnisse zu erzielen. Wer sich ernsthaft mit Werten von Mitarbeitenden in Organisationen beschäftigen möchte, darf gerne ein bisschen tiefer ins Thema eindringen.

Die Dilts Pyramide – das Modell der logischen Ebenen

Die Dilts Pyramide wurde von Robert Dilts2 entwickelt. Als Erklärungsmodell für Veränderungsprozesse fußt die Pyramide auf zwei Ideen:

  1. Die Veränderungsdynamik bei Menschen und Organisationen ist durch sechs aufeinander aufbauende Ebenen gekennzeichnet.
  2. Die Ebenen wirken von oben nach unten, d.h. wer eine Veränderung auf einer Ebene erreichen möchte, sollte idealerweise auf der darüber liegenden Ebene intervenieren.

 

Dilts Pyramide - das Modell der logischen Ebenen

Die unterste Ebene bildet die Umwelt. Sie definiert den Kontext und lässt sich durch Fragen wie „Wann“, „Wo“ oder „Mit wem“ erschließen.

Die nächste Ebene beschreibt das Verhalten. Dieses ist vom Kontext abhängig und wird durch die Fragen nach dem „Was“ sichtbar.

Auf der nächsten Ebene sind Fähigkeiten angesiedelt. Auch wenn diese im Gegensatz zu Umwelt und Verhalten nicht jederzeit für jedermann sichtbar sind, so lassen sie sich doch meist gut von außen definieren.

Die nächste Ebene umfasst Werte und Haltung. Diese Werte und Haltungen repräsentieren bspw. innere Glaubenssätze und Aspekte, die für ein Individuum wichtig sind, und sich demzufolge auch in individuellen Verhaltensweisen zeigen.

Auf der Ebene der Identität und Rolle kommen sowohl das Selbstbild als auch die Wahrnehmung von anderen zum Ausdruck, wobei das Selbstbild vom Fremdbild abweichen kann.

Die Spitze der Pyramide bildet der Sinn – in manchen Visualisierungen wird auch zusätzlich das Ziel dargestellt. Der Sinn liefert die Antwort auf die Frage „Wozu“ und spiegelt bspw. den Zweck eines Teams oder einer Organisation wider.

Folgen Sie diesem Modell, dann wird schnell klar, dass eine Veränderung von Werten im Zuge einer agilen Transformation scheitern muss, sofern den Beteiligten ihre eigenen Rollen unklar sind und sie den Sinn des Vorhabens nicht erkennen. Und selbst wenn der Sinn verstanden wird, heißt das noch lange nicht, dass sich auch die Werte der Beteiligten anpassen lassen. Warum das so ist, hat Clare W. Graves beschrieben.

Die Persönlichkeitsentwicklung über Bewusstseinsstufen und Wertesysteme

Clare W. Graves war ein US-amerikanischer Professor für Psychologie und Kollege des berühmten Motivationsforschers Abraham Maslow. Er ist der Begründer der Ebenentheorie der Persönlichkeitsentwicklung, die später von Don Edward Beck und Christopher C. Cowan zum Spiral Dynamics Modell3 weiterentwickelt und von Frederic Laloux im Buch „Reinventing Organizations“4 auf die Entwicklung von Teams und Unternehmenskulturen übertragen wurde.

Graves’ Modell5 thematisiert die Entfaltung der Persönlichkeit und die Evolution von Kulturen und Organisationen. Konkret beschreibt es die Entwicklung von Bewusstseinsebenen im Laufe des Lebens eines Menschen, wobei jede Bewusstseinsebene durch verschiedene Wertesysteme – die jeweils eine Menge an einzelnen Werten enthalten – geprägt wird. So sind bspw. die Werte „Ordnung“ und „Kontrolle“ in einem hierarchischen Wertesystem typisch, wohingegen in einem leistungsorientiert-strategischen Wertesystem „Prestige“ und „Belohnung“ eher eine Rolle spielen.

Menschen, Teams und Unternehmenskulturen integrieren in ihrer Entwicklung immer neue Wertesysteme. Dabei sind die Werte einer neuen Bewusstseinsebene im Denken und Handeln vergleichsweise präsenter. Die Werte einer bereits durchlebten Ebene bleiben weiterhin gegenwärtig, ihre Interpretation erfährt allerdings einen entsprechenden Wandel. Menschen durchleben die verschiedenen Wertesysteme bis zu einer individuellen Stufe auf dem Weg vom Neugeborenen bis zum Greis. Abhängig von

  • den persönlichen Lebensumständen,
  • der Bildung,
  • dem sozialen Stand und
  • der Gesellschaft, in der man lebt,

prägen sich Werte unterschiedlich aus.

Was Menschen bspw. als Reichtum empfinden, hängt davon ab, wo sie geboren und aufgewachsen sind. Regeln einzuhalten ist in manchen Gegenden überlebenswichtig, wohingegen in einem anderen Umfeld die Regeln zumindest infrage gestellt werden. Entsprechend gilt es auch Aspekte wie Herkunft, Kultur, Glaubenssätze und Lebensumstände bei der Betrachtung von Werten zu berücksichtigen.

Die Entwicklungsebenen der Wertesysteme

Bei der Entwicklung unserer Bewusstseinsebenen pendeln wir zwischen der Ich- und der Wir-Perspektive:

Graves' Modell - Entwicklungsebenen der Wertesysteme
Es beginnt mit dem Ich-bezogenen „Überlebensinstinkt und Gesundheit“ und der Farbe Bernstein. Als Säugling, der gerade das Licht der Welt erblickt, kennen wir nur überlebenswichtige Bedürfnisse wie

  • Hunger,
  • Durst,
  • Müdigkeit,
  • Wohlbefinden,
  • usw.

Es geht darum, das Überleben zu sichern und gesund zu bleiben.

Wir entwickeln uns weiter und erkennen unseren „Stamm“, unsere Familie. Auf der purpurnen Bewusstseinsebene der „Stammeszugehörigkeit und Sicherheit“ erkennen wir, dass das Überleben in einer Gruppe deutlich einfacher und sicherer gelingt, als alleine durch die Gegend zu streifen. Werte wie

  • Zugehörigkeit,
  • Rituale,
  • Seniorität,
  • Beständigkeit

stehen hier im Zentrum des Handelns.

Die Entdeckung des eigenen Willens und sich seiner selbst bewusst zu werden, findet auf der roten Bewusstseinsebene „Macht und Energie“ statt und äußert sich im Trotzalter sehr deutlich. Hier setzen wir alles daran, unsere Ideen sofort und gegen alle Widerstände durchzusetzen. Wir entdecken die Werte wie

  • Mut,
  • Macht,
  • Tapferkeit,
  • Durchsetzungsvermögen

als treibende Kräfte.

Auf Dauer ist es jedoch sehr anstrengend immer energisch voranzugehen und so entwickeln wir uns weiter bis hin zur blauen Bewusstseinsebene „Stabilität und Regeln“. Alles ist klar und transparent geregelt. Wenn ich gehorsam meine Aufgaben erfülle, ist der Weg klar vorhersehbar. Es gibt eine Wahrheit und die ist Gesetz. Unsere Werte sind

  • Disziplin,
  • Ordnung,
  • Stabilität,
  • Durchhaltevermögen.

Diese Plan- und Vorhersehbarkeit gibt uns Sicherheit.

Manchmal ist es sinnvoll, Regeln infrage zu stellen und nach neuen, innovativen Lösungen zu suchen. In der Pubertät angekommen entdecken wir die orange Bewusstseinsebene „Leistung und Erfolg“ für uns. Gewinnen ist oberstes Ziel. Damit verbunden sind Werte wie

  • Status,
  • Produktivität,
  • Wettbewerb,
  • Wohlstand,
  • Belohnung,
  • ausgezeichnete Leistung.

Die Erkenntnis, dass Gewinnmaximierung um jeden Preis in Raubtierkapitalismus mündet, bringt die grüne Bewusstseinsebene „Gemeinschaft und Gleichberechtigung“ in unser Leben. Es geht nicht mehr nur darum zu gewinnen, sondern die Gemeinschaft zu stärken und gleichberechtigt für uns und unsere Umwelt zu sorgen. Damit gehen Werte wie

  • Fairness,
  • Harmonie,
  • Menschenrechte,
  • Solidarität,
  • Gemeinschaftssinn

einher.

Die ersten sechs Bewusstseinsebenen gehören zur sogenannten ersten Ordnung und pendeln zwischen der Ich- und Wir-Perspektive.

Menschen integrieren die Werte der bereits durchlaufenen Bewusstseinsebenen. Das Verständnis eines Wertes ändert sich allerdings im Laufe der verschiedenen Ebenen, als ob man mit verschiedenfarbigen Brillen auf die einzelnen Situationen schaut. Mut wird bereits auf der dritten Ebene als treibende Kraft verstanden, verändert allerdings in den weiteren Wertesystemen seine Bedeutung. Für Menschen im regelbasierten blauen Wertesystem steht Mut für eine Perspektive, wie „Ich stehe gegen Zweifler der Ordnung für unsere Regeln ein!“. Bei einem Menschen mit einem ausgeprägten leistungsorientierten orangenem Wertesystem bedeutet Mut hingegen, „Ich messe mich mit meinen Konkurrent:innen und strebe den Sieg an!“ Und im gleichberechtigten grünem Wertesystem wiederum kann Mut bedeuten, dass man alle Personen nach ihrer Meinung fragt und zuhört, unabhängig davon, ob einem die Meinungen gefallen.

Alle Bewusstseinsebenen der 1. Ordnung verstehen die anderen Wertesysteme zwar, aber nur die eigene Auslegung des Wertes ist „richtig“.

Die Bewusstseinsebenen und ihre Wertesysteme der zweiten Ordnung postulieren ein integratives Verständnis. Der Kampf des „Rechthabens“ löst sich auf und es entsteht ein postmodernes, pluralistisches Bewusstsein. Die ersten sechs Ebenen werden auf einer globalen und integralen Ebene neu erlebt.

Die gelbe Bewusstseinsebene „Integration und Synergie“ steht für Orientierung an Wissen, multiple Realitäten und Neugier. Menschen suchen hier einen pragmatischen Weg, um Synergieeffekte zu schaffen und nicht auf Kosten anderer zu leben. Es entwickelt sich die Fähigkeit, verschiedene Perspektiven zu berücksichtigen und diese mit einer gewissen Gelassenheit, ohne Statusbewusstsein anzunehmen. Neue Kompetenzen werden erkannt und ausgebildet. Es entstehen Werte wie

  • Intuition,
  • Kreativität,
  • lebenslanges Lernen und
  • Unabhängigkeit.

Sowohl die türkise Bewusstseinsebene als auch die korallenfarbige sind aktuell noch wenig in der Gesellschaft vertreten und führen häufig zu Verwirrungen in den Diskussionen, sodass ich in diesem Blogartikel nicht näher auf sie eingehe.

Was hat das alles mit agilen Werten zu tun?

Wenn wir uns Organisationen anschauen, dann finden wir dort bei den Mitarbeitenden, bei den Teams und den Abteilungen selbstverständlich völlig unterschiedlich (aus)geprägte Wertesysteme. Die Annahme, den Menschen in den Organisationen zu erklären, dass ihr Handeln künftig aus der Haltung der agilen Werte wie

heraus geprägt sein soll und damit alles und allen klar ist, ist ein Trugschluss. Es wird fast immer verschiedene Interpretationen der Werte geben und das führt in der Praxis häufig zu Konflikten. Warum? Weil jeder – aus der jeweiligen Perspektive betrachtet – immer recht hat.

Fazit

Ich persönlich finde es übergriffig, Menschen und ihre Werte verändern zu wollen. Jede Person ist gut, so wie sie ist und wo sie steht. Fünf Werte herauszupicken, wie es der Scrum Guide tut, erscheint mir daher nicht sonderlich sinnvoll.

Selbstverständlich dürfen Mitarbeitende einer Organisation konkrete Angebote erhalten, um bspw. ein gemeinsames Zielbild zu gestalten oder Gelegenheiten zur Selbstreflexion und Persönlichkeitsentwicklung zu nutzen. Die Bereitschaft, solche Angebote zu nutzen, muss jedoch freiwillig sein und darf nicht eingefordert werden.

Die beschriebene Pyramide von Robert Dilts und die Ebenentheorie der Persönlichkeitsentwicklung von Clare W. Graves haben mir dabei geholfen, meine Mitmenschen besser zu verstehen und mit dem gebührenden Respekt und Einfühlungsvermögen zu behandeln. Und das ist für mich ein großer Wert.

 

Hinweise:

[1] Scrum Guide
[2] Wikipedia: Robert Dilts
[3] Don Edward Beck, Christopher C. Cowan: Spiral Dynamics – Leadership, Werte und Wandel
[4] Frederic Laloux: Reinventing Organizations
[5] Das Graves-Modell. Eine etwas andere Sicht auf die Entwicklung von Organisationen.

Wenn Sie sich für weitere Fachartikel aus den Bereichen KI, agile Methoden, Testautomatisierung und Business Process Management interessieren, dann schauen Sie gerne im Blog der viadee Unternehmensberatung AG vorbei. Es lohnt sich! Und wenn Ihnen dieser Beitrag gefällt, teilen Sie ihn gerne in Ihrem Netzwerk.

Claudia Simsek-Graf hat im t2informatik Blog einen weiteren Beitrag veröffentlicht:

t2informatik Blog: Der Betriebsrat im Zuge der agilen Transformation

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Claudia Simsek-Graf
Claudia Simsek-Graf

Claudia Simsek-Graf hat Technische Informatik studiert und arbeitet seit mehr als 25 Jahren in IT-Projekten. Durch ihre früheren Aufgaben als Team- und Abteilungsleiterin kennt Sie die Herausforderung im Umgang mit menschlichen Faktoren und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen aus eigener Erfahrung. Als Wirtschaftsmediatorin und Organisationsentwicklerin ist es ihre große Leidenschaft, die Entwicklung von Menschen und Teams zu begleiten.