Der Scrum Master als agiler Lerncoach
- Wie kann man als Scrum Master Teams konkret in ihren Sprints beim Lernen unterstützen?
- Was zeichnet gute Team- und Individual-Lernstorys aus?
- Was ist der Mehrwert eines Rollenverständnisses als Scrum Master und agiler Lerncoach?
Die Ausführungen erweitern und vertiefen die Überlegungen des Beitrags Mit Lernstorys im Backlog zum Erfolg, bei dem es um die Unterstützung eines Kunden und dessen „Team Zero“ sowie das Verankern von Lernen in Scrum mittels Lernstorys geht. Lernstorys werden analog zu User Storys im Backlog verwaltet.
Heikos Story
Werfen wir wieder einen Blick auf das „Team Zero“, das wir als IT-Dienstleister unterstützen dürfen. Da einzelne Teammitglieder – darunter der Product Owner – englischsprachig sind, ist die Arbeitssprache seit dem Kickoff Englisch. Nun stellt sich heraus, dass das Team grundlegende Kenntnisse im Bereich Testautomatisierung aufbauen muss. Schnell macht das Team Fortschritte, da zahlreiche Fachartikel und Publikationen über Testautomatisierung in Englisch verfügbar sind.
Nach einer Retrospektive kam ein Teilnehmer – nennen wir ihn „Heiko“ – auf unsere Scrum Masterin zu. Heiko, bereits etliche Jahre im Unternehmen als Softwareentwickler tätig, hatte früher in der Schule Englischunterricht. Sonderlich Spaß hatten ihm die Sprache und der Unterricht damals nicht gemacht. Danach aber reduzierte sich seine Sprachpraxis auf ein Minimum.
„Englisch zu sprechen, ist einfach nicht meins“, begann Heiko, was ihn sichtlich Überwindung kostete, „und jetzt auch noch diese Fachartikel – ehrlich, da tu ich mir schon schwer. Ich frage mich auch, ob ich z. B. im Backlog Refinement oder Sprint Planning alles richtig verstehe, will aber auch nicht immer nachfragen und alle aufhalten.“
Dass Heiko das Thema so offen angesprochen hatte, war nicht nur mutig, sondern auch sehr wichtig und letztlich ein Geschenk für das gesamte Team. Nur auf diesem Weg konnte unsere Scrum Masterin erfahren, was er als Herausforderung oder Überforderung im täglichen Arbeiten empfand. Und nur so konnte sie gemeinsam mit ihm seinen Lernbedarf ermitteln, persönliche Lernziele planen und die passenden Lernschritte daraus ableiten, die ihn letztlich zu einer tragenden Säule in Team Zero machen sollten. Gemeinsam formulierte sie mit Heiko persönliche Lernziele, die wir „Individual-Lernziele“ nennen; die Scrum Master-Rolle wurde so um die Aufgabe des agilen Lerncoachs erweitert.
Agil Lernen – individuell und im persönlichen Coaching
Was Heiko und die Scrum Masterin als individuelle Schritte entwickelten, war eine Kombination aus Text- bzw. Vokabellernen im Selbststudium und der sprachpraktischen Übung im Tandem. Für das Selbststudium baten wir eine fachlich und sprachlich sehr versierte Kollegin, für Heiko die Rolle einer Mentorin zu übernehmen. Mit ihr konnte er Fragen zu englischsprachigen Fachartikeln über Testautomatisierung besprechen und dabei auch Vokabeln klären.
Für die Sprachpraxis fand sich im Unternehmen eine Muttersprachlerin, die sich mit Heiko wöchentlich eine Stunde für ein englisch-deutsches Sprachtandem traf. Neben einer kleinen Hilfestellung, die alle Sprachtandems an die Hand bekommen, erhielten beide kurze thematische Anregungen für ihre Treffen. So konnte Heiko etwa in kurzen Rollenspielen den Austausch in Planning- oder Refinement-Meetings üben.
Auf das erste Treffen zwischen Heiko und unsere Scrum Masterin folgten regelmäßig weitere, in denen beide den Fortschritt reflektierten, die Ziele anpassten und weitere Materialien und Themen eruierten.
Agil Lernen – im Team synchronisiert und kollaborativ
Anders war das Vorgehen in dem schon erwähnten Themenbereich „Testautomatisierung“. Hier wurde der Scrum Masterin in den Retrospektiven schnell deutlich, dass vermutlich fast alle Teammitglieder wesentlichen Lernbedarf hatten. Doch sie wollte es genau wissen und nahm deswegen in den Einzelgesprächen das Vorwissen und den aktuellen Stand in den Blick:
- Was bringen die Teammitglieder mit?
- Was trauen sie sich zu / was nicht?
- Was sind offene Fragen?
Gleichzeitig ging es für sie darum, nötige Schritte der Teamentwicklung zu identifizieren:
- Wo ist Hilfestellung denkbar?
- Welche – besonders kollaborativen – Lernformate sind möglich und sinnvoll?
- Welche Ressourcen stehen zur Verfügung?
Mit den Ergebnissen der Einzelgespräche ging unsere Scrum Masterin in eine Dreierrunde mit dem Product Owner des Projekts und einem nicht beteiligten Experten für Testautomatisierung. Gemeinsam wurde der Horizont der fachlichen Kenntnisse abgesteckt, den das Team für eine erfolgreiche Umsetzung des Projekts benötigen würde; mit anderen Worten: Es wurde der „Lern-Scope“ des Teams für die Erstellung des Prototypen definiert.
Nachdem nun geklärt war, wo die einzelnen Teammitglieder standen und wo die Reise hingehen sollte, trug die Scrum Masterin ihre Erkenntnisse dem versammelten Team vor. Die wichtigsten Fragen lauteten jetzt:
- Wie gehen wir diese Challenge gemeinsam an?
- Wie synchronisieren wir das Lernen mit unseren Produktaufgaben?
- Wie können wir uns gegenseitig unterstützen?
Die Antwort auf diese drei Fragen lautete: Mit „Team-Lernstorys“.
Team-Lernstorys zielführend formulieren
Das Erstellen der Team-Lernstorys nahmen Product Owner und Scrum Masterin gemeinsam vor. Um ein Beispiel zu geben: Das Team musste u.a. eine Entscheidung treffen, welches Testframework künftig genutzt werden sollte. Zwei Alternativen A und B standen zur Wahl. Die Lernstory lautete: „Als Team können wir die Vor- und Nachteile der Alternativen A und B beurteilen, um anschließend fundiert entscheiden zu können, welche Lösung für unser Projekt die bessere ist.“
Die Ähnlichkeit zur Satzschablone einer User Story ist erkennbar. Und ähnlich zu User Storys wurden auch hier Akzeptanzkriterien definiert, z.B. „Ich kann die für unser Projekt relevanten Aspekte der Dokumentation des Produkts XY benennen“ oder „Ich habe die wesentlichen Vorteile der beiden Alternativen stichpunktartig in einer Liste zusammengefasst“.
Doch warum Akzeptanzkriterien beim Lernen? Akzeptanzkriterien in Lernstorys geben Lernenden Orientierung – besonders in einem neuen Themenfeld – und ermöglichen es ihnen zudem festzustellen, ob sie erfolgreich bei der Umsetzung sind. Darüber hinaus (und anders als in User Storys) können Lernstory-Akzeptanzkriterien bereits in den Lösungsraum eines Lernziels weisen, indem sie z.B. auf Informationsquellen hinweisen oder ein bestimmtes Vorgehen vorgeben (oben z.B. der Verweis auf bestimmte Dokumentationen).
Gleichzeitig kann mit Lernstorys der Freiraum für selbstorganisiertes und eigenverantwortliches Lernen eröffnet werden, da dem Team die Bearbeitung der Lernstorys überlassen ist. Das zeigt sich u.a. in der Definition of Done – dazu gleich mehr.
Vom Refinement übers Planning zum Review
Die Team-Lernstorys wurden – wie andere Backlog Items – im Refinement mit dem Team besprochen. Die Scrum Masterin trat hierbei als Fürsprecherin der Lernstorys auf, damit diese im nächsten Planning auch eine adäquate Priorität erhielten und geschätzt werden konnten. Dies ist nötig, da Lernstorys wie technische Tasks die Herausforderung mit sich bringen, nicht unmittelbar wertschöpfend für das Produkt zu sein.
Das Team konnte hierbei auch Verständnisfragen stellen und eigene Vorschläge einbringen. Ein gutes Refinement hilft also allen im Scrum Team ein gemeinsames Verständnis herzustellen, warum, wozu, in welcher Tiefe und mit welchem Benefit für das Produkt bzw. das Team etwas innerhalb des Sprints gelernt werden sollte. Aus diesem Grund haben wir auch Individual-Lernstorys vom Refinement und Planning ausgenommen. Entsprechend stand jedem Teammitglied ein festes Lernzeitbudget pro Woche zu, das er oder sie frei für die Individual-Lernstorys verwenden konnte.
In der Folge ergab sich organisch ein Wechsel von Iterationen, die lernintensiver waren (wie etwa die Entscheidungsfindung zwischen Alternative A und B), und solchen, in denen die Produktentwicklung im Vordergrund stand (z.B. der Aufbau der Testinfrastruktur).
Im Planning schließlich stellte der Product Owner die Team-Lernstorys zusammen mit den anderen Backlog Items vor. Die Priorisierung der Items und der Lernstorys oblag ihm, denn er musste berücksichtigen, dass auf Produktseite entsprechend weniger entwickelt wurde. Anschließend schätzte das Team in Form der Fibonacci-Folge und die Lernstory ging in die Ownership des Teams über.
Auch das Review war nicht viel anders als ein „normales“ Review, mit dem wesentlichen Unterschied, dass die Team-Lernstorys nicht vom Product Owner abgenommen wurden, sondern von der Scrum Masterin. Wie schon in der Planungsphase holte sie dort, wo sie über keine fachliche Expertise verfügte, einen Experten an Board, der mit den Teammitgliedern die Akzeptanzkriterien prüfte und für ein fachliches Sparring zur Verfügung stand.
Die Definition of Done bei Team-Lernstorys
Natürlich wurde für die Team-Lernstorys auch eine Definition of Done im Team entwickelt. Das war wichtig, weil nicht alle Lernstorys von allen parallel oder im selben Umfang bearbeitet wurden, die Ergebnisse aber kollektiv nutzbar sein sollten.
Das Team einigte sich auf fünf Schritte, die für einzelne Lernstorys angepasst werden konnten. So war eine Lernstory „done“, wenn
- eine Materialauswahl getroffen wurde (z.B. Bücher, Dokumente, Tutorials ggf. mit Hilfe eines Experten),
- Übungen entworfen wurden, um neue Kenntnisse und Fertigkeiten praktisch anzuwenden,
- Material und Übungen von den entsprechenden Lernenden bearbeitet wurden,
- die Erkenntnisse in einem Wiki-ähnlichen Glossar dokumentiert waren und
- im gesamten Team vorgestellt und diskutiert wurden.
Gerade mit der Weitergabe und Sicherung von Lernerfolgen wird Lernen nachhaltig und selbst neue Teammitglieder können von den so entstandenen Sammlungen profitieren.
Vom Scrum Master zum agilen Lerncoach
Wie hoffentlich deutlich wurde, sind Lernstorys keine Geheimwaffe, die einmal eingeführt zum Selbstläufer werden. Wenn die Scrum Master-Rolle für die Beseitigung der Team-Impediments verantwortlich ist und in einem Team ein essenzieller Lernbedarf besteht, der zu einem Impediment wird, dann ist es unumgänglich, dass ein Scrum Master sich auch engagiert für das Thema Lernen einsetzen muss.
Lernstorys sind hierbei ein wirksames Instrument, aber der Mehrwert entsteht – wie so häufig – erst im Zusammenspiel der Teammitglieder. Nach unserer Überzeugung schafft ein Scrum Master, der sich aus als agiler Lerncoach begreift, immer einen Mehrwert u.a.
- durch die Förderung einer offenen Lernkultur, z.B. indem Lernende wie Heiko persönlich begleitet werden und einen Lernansprechpartner haben.
- indem der indirekte Wert von Team-Lernzielen für das Produkt sichtbar und diskutierbar wird und so über den Product Owner eine Abbildung im Backlog findet.
- wenn er mit gut geschnittenen Lernstorys dafür sorgt, dass zielführend, motivierend und nachhaltig gelernt wird.
Das Gute an diesem Ansatz ist, dass Sie vieles davon als Scrum Master schon im nächsten Sprint mit Ihrem Team selbst ausprobieren können. Manches fällt sicherlich leichter, wenn man mehr über Lernziele weiß, die Lernbegleitung zuvor übt und reflektiert oder mit Gleichgesinnten im Austausch steht.
Hinweise:
Wenn Sie mehr über QualityMinds und den Lernansatz erfahren möchten, oder sich mit den Autorinnen Eva Dirr-Bubik und Dr. Vera Gehlen-Baum oder dem Autor Dr. Manuel Illi austauschen möchten, können Sie gerne unter https://qualityminds.com/de/qm-portfolio/quality-learning/ Kontakt aufnehmen.
Wenn Ihnen der Beitrag gefällt oder Sie darüber diskutieren wollen, teilen Sie ihn gerne in Ihrem Netzwerk. Und falls Sie sich für weitere Tipps aus der Praxis interessieren, dann testen Sie gerne unseren wöchentlichen Newsletter mit neuen Beiträgen, Downloads, Empfehlungen und aktuellem Wissen. Vielleicht wird er auch Ihr Lieblings-Newsletter!
Von QualityMinds finden Sie im t2informatik Blog weitere Beiträge:
Eva Dirr-Bubik
Eva Dirr-Bubik ist agiler Lerncoach bei den QualityMinds. Dort begleitet sie intern ihre Kolleginnen und Kollegen individuell in ihrem Lernprozess. Sie studierte Pädagogik mit dem Fokus Lehren und Lernen sowie Psychologie und Kommunikationswissenschaft. Anschließend hat sie vielfältige Erfahrungen in der pädagogischen Praxis sowie in der (außer)universitären Forschung gesammelt.
Dr. Manuel Illi
Dr. Manuel Illi ist agiler Lerncoach, Scrum Master und Berater im Bereich agiles Lernen und alternative Lernformen. Früher als Germanist und Kulturwissenschaftler tätig, ist er jetzt als Lerncoach in internationalen Projekten unterwegs. Er unterstützt sowohl Individuen als auch Teams bei den Herausforderungen, die modernes Lernen aufwerfen.
Dr. Vera Baum
Dr. Vera Baum ist Geschäftsführerin bei den QualityMinds. Sie studierte Pädagogik mit den Nebenfächern Psychologie und Informatik und promovierte zum Thema Lernen mit neuen Medien. Sie arbeitet als agiler Lerncoach, Scrum Master und Agile Coach in verschiedenen Projekten. Ihre besondere Expertise liegt im Bereich des agilen Lernens.