Change Projekte funktionieren! – Teil 2

Gastbeitrag von | 16.11.2020

Die Praxis von Change Projekten 4.0

Viele Change Projekte beziehen sich auf eine lineare, prognostizierbare und damit steuerbare Umwelt. Planbare Prozesse werden propagiert, Standardisierungen, Methoden und Zertifizierungen werden verkauft. Mit der Realität hat dies jedoch nichts zu tun. Im Gegenteil:  Das ist – wie in Teil 1 des Beitrags beschrieben – planwirtschaftliches Projekttheater!

Heute wird das Umfeld von Unternehmen zunehmend ungewisser, komplexer und dynamischer. In Diskussionen wird dies oft mit den Akronymen 4.0, VUCA oder Disruption betitelt. Dieses neue Umfeld führt dazu, dass Organisationen Change Projekte 4.0 brauchen, die das klassische Repertoire 2.0 der letzten zwanzig Jahre erweitern. Um diese Erweiterung und die Praxis von Change Projekten 4.0 geht es in diesem Beitrag. Insbesondere beschreibe ich Projektparlamente und Konsenswerkstätten, sowie die Entscheidungsfindung durch Konsent und Konsultation.

Change Management 2.0 vs. Change Management 4.0

Klassische 2.0 Ansätze hatten ausreichend Zeit für die Kommunikation, die Nutzung von Widerständen und das Lernen der veränderten Spielregeln. Heute steht einem Change Projekt 4.0 weniger Zeit zur Verfügung – bei größerer Ungewissheit. Ich nenne diese Entwicklung „Change on the fly“.

Die folgende Abbildung macht deutlich, dass klassisches Change Management 2.0 einem linearen und kausalen Modell folgt, während neuere Ansätze zirkulär und experimentell angelegt sind. Zunächst werden die Werte und Prinzipien der Transformation geklärt, um dann in eine Phase des Experimentierens einzusteigen. Die Ergebnisse dieser Experimente werden unter dem Gesichtspunkt Nutzen bewertet und entweder etabliert oder verworfen, bevor eine neue Phase des Ausprobierens beginnt.

Change Management 2.0 vs. Change Management 4.0
Der Unterschied zwischen Organisationsprojekten 2.0 und 4.0 liegt in der bewussten Mehrdeutigkeit des Vorgehens und dem bewussten Experimentieren! Damit kehrt „Change on the fly“ wieder zu dem Zweck zurück, den Projekte eigentlich mal erfüllen sollten: Pionierarbeit!

In der Norm DIN 69901 ist ein Projekt wie folgt definiert: “Ein Projekt ist ein Vorhaben, das im Wesentlichen durch Einmaligkeit der Bedingungen in ihrer Gesamtheit gekennzeichnet ist, wie z. B.: Zielvorgabe, zeitliche, finanzielle, personelle oder andere Bedingungen, Abgrenzungen gegenüber anderen Vorhaben und projektspezifische Organisation.”

Die Autoren der Norm betonten die “Einmaligkeit”: Es geht in Projekten und insbesondere in Organisationsprojekten darum, etwas zu machen, dass man so noch nicht gemacht hat und wohl auch nicht so oft wieder machen wird. Und dazu bedient man sich einer projektspezifischen Organisationsform. In der Norm ist dagegen keine Rede vom Aufstellen und Abarbeiten eines Plans oder gar von Rollen, Prozesse oder Methoden, die für alle Arten und Zielen von Projekten standardisiert anzuwenden sind.

Projektparlament und Konsenswerkstatt

Ein gutes Beispiel wie das Repertoire von 2.0 auf 4.0 erweitert wird, ist das Projektparlament und die Konsenswerkstatt von Gerhard Wohland.

Projektparlament und Konsenswerkstatt
Die Bereiche 1 und 2 auf der rechten Seite der Grafik zeigen den bekannten, hierarchisch organisierten Teil des Linienmanagements einer Organisation. Links findet sich der Bereich des Projektmanagements, der uns hier besonders interessiert. Die herkömmliche Lösung des Schnittstellenproblems zwischen dem temporären Projekt und der permanenten Linie findet sich oben in der Abbildung: der Lenkungsausschuss. Er ist ein wirksames Gremium für 2.0 Change Projekte für komplizierte Projekte und Themen.

Wenn es allerdings komplex wird, braucht es die Intelligenz der Gruppe, die sich z. B. durch die 4.0 Großgruppenformate Projektparlament und Konsenswerkstatt aktivieren lässt.

Im Projektparlament verhandeln die Projektleitung (bzw. das Kern- oder “Kreativ”-Team) und alle Mitarbeiter der Teilprojekte sowie sämtliche Stakeholder die Interessen, Ziele und Nicht-Ziele. Das Projektparlament tagt anlassbezogen, zumindest immer dann, wenn ein Change Request vorliegt bzw. das Project Backlog einer größeren Anpassung unterzogen wird. Nach einer vorher vereinbarten Entscheidungsregel wird hier gemeinsam die Projektrichtung und -umsetzung verhandelt und entschieden.

Das Projektparlament unterscheidet sich von den bekannten Besprechungen, Sitzungen, Stand-Ups oder Reviews vor allem durch

  • das Setting als Verhandlung, d. h. die Kommunikation orientiert sich an den Interessen und nicht primär an Ergebnissen. Die Verantwortung für die Erzeugung des Projektgegenstandes bleibt jederzeit bei den Teilprojekten.
  • den ständigen Wechsel der Arbeit an Entscheidungen in der Gesamtgruppe (Parlament) und der Verhandlung in Kleingruppen (Ausschüssen/ Teil-Projekte) und
  • die straffe Moderation (z. B. Rede-, Gegenrede, Abstimmung), wie man sie auch sonst aus dem Parlamentsalltag kennt.

Die Konsenswerkstatt ist das Gremium, in dem sich die operativen Kräfte treffen und über die Ergebnisse der Projektarbeit abstimmen. Sie beginnt immer mit einer (geheimen) Abstimmung aller Teilnehmer, ob der gerade fertiggestellte Projektgegenstand “abgenommen” wird. Daher finden Konsenswerkstätten oft in der Nähe von Meilensteinen oder im Rahmen von Sprint Reviews statt und ersetzen die uns allen bekannte Powerpoint-Schlacht, die sonst immer rund um den Meilenstein-Termin im Lenkungsausschuss stattfindet.
Es empfiehlt sich bei Konsenswerkstätten zur Bedingung zu machen, dass bei der Abstimmung eine hohe Zustimmungsrate erreicht wird, um so

  • einerseits eine hohe Verbindlichkeit des Beschlusses herzustellen und
  • andererseits bisher nicht kommunizierte Konflikte und Themen aufzudecken.

An einer Konsenswerkstatt nehmen einerseits Vertreter der Teilprojekte teil, die ihr Ergebnis vorstellen, andererseits Vertreter der Linienorganisation, die das Ergebnis akzeptieren und das Tagesgeschäft übernehmen sollen. Diese Zusammensetzung erzeugt in der Regel eine gewisse Gruppendynamik, die in der Vorbereitung berücksichtigt werden muss. Es ist daher sinnvoll, sowohl das Parlament als auch die Werkstatt von Moderatoren begleiten zu lassen, die im Umgang mit Gruppendynamik erfahren sind.

Entscheidungen durch Konsent und Konsultation

Aus der Arbeit mit Gruppen stammt auch das zweite Beispiel der Repertoireerweiterung auf 4.0: Konsent und Konsultation sind wirksame Entscheidungsprozesse, um Change Projekte sinnvoll zu unterstützen.

Der Konsent ist ein Format zur Integration von Einwänden, Sorgen und Befürchtungen, das für “Change Projekte on the fly” und den darin oft auftretenden Emotionen gut geeignet ist. Konsent ist die Übereinkunft darüber, dass kein begründeter Einwand die Beschlussfassung regiert.

“Begründet” bedeutet, dass man im Konsent nicht nur eine Position bezieht, sondern auch begründen muss, warum man diese Position bezogen hat. In der Praxis der Konsentfindung hat sich die Handabfrage bewährt, die in der folgenden Grafik dargestellt ist.

Konsentfindung per Handzeichen
Die Teilnehmer geben dabei alle gleichzeitig per Handzeichen ihre Position bekannt. So wird rasch transparent, wie die unterschiedlichen Meinungen verteilt sind. Wie viele Personen einen Einwand haben, ist dabei weniger wichtig als der Inhalt des Einwands. Das Argument zählt, nicht die Stimme.

Bei der Entscheidung durch Konsent versuchen alle Beteiligten gemeinsam, die Einwände zu minimieren, also die Lösung so zu variieren (oder nach ganz neuen Lösungen zu suchen), dass weniger oder gar keine Einwände mehr übrigbleiben.

Bei einer Konsultation bzw. dem konsultativen Einzelentscheid entscheidet eine Person, nachdem sie eine Mindestanzahl von Teilnehmern angehört hat. So wird einerseits eine klare Entscheidungsverantwortung erzeugt und gleichzeitig ist Einbindung in die Entscheidungsfindung sichergestellt. Wir kennen dieses Entscheidungsformat beispielsweise bei Ärzten, wenn andere Fachärzte hinzugezogen werden, bevor der behandelnde Arzt den Therapieplan festlegt.

Für die Konsultation gelten einige Prinzipien:

  • Die Klärung des Problems (die Diagnose) steht immer am Beginn der Konsultation, d.h. die Diskussion über denkbare Lösungen ist an dieser Stelle nicht hilfreich und muss konsequent unterbunden werden.
  • Wenn das Problem klar beschrieben ist, wird der Entscheider ausgewählt, denn die Person, die die Konsultation führt, muss in Expertise, Erfahrung und Persönlichkeit zum Problem “passen”.
  • Dem Entscheider obliegt es in der Folge, den Prozess zu gestalten. Wer wird um Rat gefragt? Was wird gefragt? Wie werden die Antworten dokumentiert?
  • Nach der Einholung aller Ratschläge trifft der Entscheider dann eine eigene Abwägung und eine Entscheidung, die für das Problem und die Organisation sinnvoll ist.

Die Konsultation ermöglicht, das oft verteilte Wissen in einem zügigen Verfahren einzubeziehen und so zu raschen, kollektiven Entscheidungen zu kommen. Dabei braucht es die Redlichkeit des Entscheiders, der verpflichtet ist, sich die besten und eben nicht nur die bequemen Ratschläge einzuholen und die Verbindlichkeit der Ratgebenden, die ihre Expertise streng problembezogen und möglichst frei von taktischen und persönlichen Motiven geben.

Mein Appell

Meine beiden Beiträge möchte ich mit einem Appell beenden: Machen Sie Schluss mit Projekttheater und planwirtschaftlichen Change Projekten. Steigern Sie die reale Erfolgswahrscheinlichkeit von Organisationsprojekten. Erweitern Sie Ihr Repertoire. Nutzen Sie Projektparlamente und Konsenswerkstätten. Finden Sie Entscheidungen per Konsent und Konsultation. Und falls ich Sie bei Ihren Change Projekten unterstützen kann, melden Sie sich bei mir.

 

Hinweise:

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In dem lesenswerten Buch zeigt er, wie sich Change Management in der Praxis weiter entwickeln muss. Aus seiner über 20jährigen Erfahrung als Projektmanager und Change Agent trägt er dafür Bewährtes und Neues unter dem Gesichtspunkt “Wirksamkeit” zusammen.

Olaf Hinz hat im t2informatik Blog weitere Beiträge veröffentlicht:

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Olaf Hinz

Olaf Hinz

Olaf Hinz lotst seit fast 20 Jahren Führungskräfte, Projektleiter und Organisationen im Wandel durch unruhige Gewässer. Er findet, dass Widerstand ein kraftvolles Signal, Veränderung die Regel und Segeln auf Sicht die angemessene Reaktion auf das aufziehende VUKA-Wetter ist. Als Sachbuchautor und Speaker ist der bekennende Hanseat und ehemalige Büroleiter von Peer Steinbrück ein gefragter Impulsgeber auf Fachkonferenzen und Barcamps.