Agile ist kein Mindset
In den letzten Jahren haben unzählige Unternehmen eine agile Transformation gestartet. Nach Anfangserfolgen stellen aber die meisten dieser Organisationen so nach 1-3 Jahren auf der Reise fest: Irgendwie ist es nicht wirklich besser geworden.
Dabei meint „nicht besser geworden“, dass zwar die gewählten Frameworks (bspw. SAFe, LeSS, Scrum etc.) oder die selbst entwickelten Arbeitsweisen (bspw. in Form eines „Playbooks“) von der Organisation angewendet werden. Doch die damit erhoffte Wirkung (bspw. Time-to-Market, Kundenzufriedenheit, Mitarbeiterzufriedenheit, Business Value etc.) tritt nicht ein. Auch stellen viele Organisationen fest, dass nach einer anfänglichen erfolgreichen Startphase die Veränderungsgeschwindigkeit signifikant abnimmt bzw. nicht selten sogar stagniert.
Die Symptome dieser stagnierenden Transformation zeigen sich dabei wie folgt:
- Methoden werden zwar genutzt, aber die Situation wird nicht besser.
- Mitarbeitende haben anfänglich mitgemacht, aber eine kontinuierliche Verbesserung fehlt.
- Die Prozesse werden zwar eingehalten, aber die Prinzipien dahinter nicht (bspw. Kundenperspektive etc.).
- Leadership hat anfänglich mitgemacht, aber nun fehlt es am nächsten „mutigen“ Schritt.
- Nur Teile der Organisation sind agil, dadurch gibt es Reibungsverluste mit der „alten“ Welt.
Der Graben von Doing zu Being Agile als Grund für die Stagnation
Diese Stagnation wird oftmals gleichgesetzt mit dem Graben von Doing Agile zu Being Agile. Dabei wird „Doing Agile“ als die Anwendung von agilen Praktiken verstanden (bspw. SAFe, LeSS, Scrum), während „Being Agile“ meint, dass die Organisation tatsächlich agil ist – also die Fähigkeit besitzt, sich (proaktiv) auf Veränderungen anzupassen.
Als heiliger Gral für die Überwindung dieses Grabens wird dann oftmals das „Mindset“ proklamiert. So wird oftmals auch behauptet „Agilität ist ein Mindset“, weshalb „Being Agile» auch damit gleichzusetzen sei, mit dem „Agilen Mindset“. Dies greift aber deutlich zu kurz und simplifiziert, wie der Graben von Doing zu Being Agile tatsächlich überwunden werden kann.
Warum Agilität kein Mindset ist
Ein paar einfache Beispiele zeigen deutlich auf, weshalb „Being Agile“ nicht einfach gleichzusetzen ist mit dem Mindset – also der Haltung eines Individuums. So ist ein erfolgreiches, wohlklingendes Orchester bestückt mit talentierten Musiker:innen, die dank ihrer professioneller Haltung zur Musik die Fähigkeit besitzen, hier mitzuspielen. Damit das Orchester aber gut harmoniert, reicht diese Haltung alleine nicht. Auch eine erfolgreiche Fußballmannschaft baut auf Individuen mit einer entsprechenden Haltung auf – aber der Erfolg hängt von noch ganz vielen anderen Faktoren ab. Das Mindset alleine hilft also nicht, ein erfolgreiches Team zu sein. Organisationen wiederum bestehen oftmals aus mehreren Teams, die zusammenarbeiten müssen. Umso komplexer wird der Anspruch nach „Being Agile“ und umso geringer wird der Einfluss des einzelnen Individuums.
Wie der Sprung von Doing zu Being Agile wirklich gelingt
Damit der Sprung von Doing Agile zu Being Agile tatsächlich gelingt, braucht es natürlich „agile Individuen“. Also Mitarbeitende, die eine „agile Kompetenz“ besitzen. Eine Kompetenz wiederum besteht aus den drei Dimensionen
- Mindset,
- Wissen und
- Fertigkeiten.
Doch einzelne „agile“ Mitarbeitende alleine reichen nicht, damit der Wandel zu „Being Agile“ gelingt. Vielmehr müssen die Verhaltensweisen im Team geändert werden. Denn erst, wenn diese Individuen ihre Kompetenzen auch in der Praxis (also im Team) anwenden, dann verändert sich das „Being“. Nun bestehen (agile) Organisationen grundsätzlich aus mehreren Teams. Gleichzeitig werden die Teams von den übergeordneten organisationalen Rahmenbedingungen beeinflusst. Fragen wie: „Wer darf wie entscheiden?“, „Wie sehen Anreizstrukturen aus?“ oder „Wer wird wie und warum befördert?“ haben einen großen Einfluss darauf, wie sich die Mitarbeitende im Team verhalten.
Damit der Sprung zu „Being Agile“ also auch wirklich gelingt, reicht es nicht aus, nur am Mindset zu arbeiten. Vielmehr müssen alle drei Ebenen adressiert werden: Agile Kompetenz, Team-Kultur und organisationale Rahmenbedingungen.
Ebene 1: Aufbau einer individuellen agilen Kompetenz
Der Aufbau einer individuellen Kompetenz gelingt dann, wenn alle drei Dimensionen dieser Handlungsfähigkeit adressiert werden: Mindset, Fertigkeiten und Wissen. Je nachdem in welcher Dimension ein Entwicklungsbedarf festgestellt wird, eigenen sich unterschiedliche Lösungsansätze.
Geht es um die Entwicklung von Wissen, dann sind es typischerweise Schulungen & Trainings, die hier als Maßnahme gewählt werden. Auch Learning Nuggets, also kleine Lerneinheiten, bewähren sich beim Wissensaufbau. Sei es als kurze Videobeiträge, Blogartikel oder auch Brown-Bag Sessions über den Mittag.
Sollen effektive Fertigkeiten entwickelt werden, dann reicht es meist nicht, klassische Trainingsangebote umzusetzen. Hier braucht es dann eher Maßnahmen, die das reflektierte Einüben agiler Praktiken fördern. Dies kann eine „Learning Journey“ sein, bei der jeweils kurze (theoretische) Inhalte kollaborativ erarbeitet werden, um anschließend diese in der Praxis zu üben und dann in Coaching-Sessions regelmäßig gemeinsam zu reflektieren. Auch das Üben solcher Praktiken in einem „geschützten Rahmen“ wie beispielsweise anhand einem Spiel kann helfen, die Fertigkeiten zu agilen Praktiken zu stärken.
Die Entwicklung des Mindsets – also er individuellen Einstellung einer Person – ist wie erwähnt am anspruchsvollsten. In der Praxis werden hier Rollenspiele oder Entscheidungsdilemmas genutzt, die gemeinsam reflektiert werden. Dadurch können Einstellungen zu konkreten (Handlungs-)Entscheidungen transparent gemacht und entwickelt werden.
Ebene 2: Förderung einer agilen Teamkultur
Haben die einzelnen Mitarbeitenden eine agile Kompetenz aufgebaut, dann existiert die notwendige Grundlage, um eine entsprechende Teamkultur zu gestalten. Doch eine Kompetenz alleine reicht noch nicht. Vielmehr muss gefördert werden, dass sich das Team als kollektiv auch so verhält, wie es für „Being Agile“ nötig ist. Damit dies gelingt, sind drei Stellhebel zentral:
Kultur meint „how we do things around here“. Im Kern besteht Kultur also aus den Interaktionen innerhalb des Teams. Diese können auf verschiedene Wege beeinflusst werden: Sei es durch Training oder Coaching, durch die Einführung von neuen Prozessen, Methoden oder Tools oder auch durch die bewusste kollektive Reflexion der Kommunikation (bspw. Im Rahmen einer Retrospektive).
Ein zweiter Stellhebel sind die Akteure im Team selbst. Dabei geht es nicht nur um die Kompetenzen der Personen, sondern auch, welche Mitarbeitende (wie) rekrutiert werden. Oder wer (aus welchen Gründen) befördert wird. Ein wichtiges Element zur Gestaltung der (Team-)Kultur ist auch die Art und Weise, wie neue Mitarbeitende ein Onboarding erhalten.
Die Veränderungen der systemischen Bedingungen sind der dritte Stellhebel für die Teamkultur. Bspw. die Art und Weise wie bestimmtes Verhalten gefördert bzw. bestraft wird (Anreiz-/Bonussysteme). Aber auch die Entscheidungsprozesse (Governance) oder auch die Arbeitsinfrastruktur haben einen großen Einfluss auf die Kultur.
Ebene 3: Sicherstellung der richtigen Rahmenbedingungen
Als dritte Dimension für „Being Agile“ müssen auch die richtigen organisationalen Rahmenbedingungen gefördert werden. Darunter fallen (nicht abschließend):
- Human Resources
- Organisationsstruktur
- Leadership Verhalten
- Arbeitsinfrastruktur
- Governance und Administrationsprozesse
- Finanzierungsprozesse
Fazit
Viele agile Transformationen stagnieren aktuell, weil der Sprung von Doing zu Being Agile nicht funktioniert. Oftmals wird dies mit einem fehlenden agilen Mindset begründet. Doch dies ist eine eingeschränkte Sicht auf die Problematik. Being Agile bedeutet, dass die Organisation die Fähigkeit besitzt, (proaktiv) auf Veränderungen zu reagieren. Ein agiles Mindset als individuelle Haltung ist nur eines von mehreren Elementen, damit diese organisationale Fähigkeit entstehen kann. So muss generell eine individuelle agile Kompetenz aufgebaut werden, wobei Mindset ein Element davon ist. Zusätzlich muss diese individuelle Kompetenz im Team in entsprechendes Verhalten übersetzt werden. Anschließend braucht es noch die richtigen Rahmenbedingungen, damit sich „Being Agile“ nicht nur auf Teamebene beschränkt.
Hinweise:
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Dr. Joël Krapf hat einen weiteren Beitrag im t2informatik Blog veröffentlicht:
Dr. Joël Krapf
Dr. Joël Krapf begleitet seit über 10 Jahren Transformationen von Unternehmen. Aktuell unterstützt er Organisationen als Senior Manager bei Accenture auf ihrer digitalen Reise. Zuvor war er bei der Migros, der größten Arbeitgeberin der Schweiz, Head Lean Portfolio und Agile Transformation. Weitere Stationen waren PwC und die Schweizerische Post.
Joël hat an der Universität St. Gallen hat er zum Thema Agilität und Transformation promoviert. Er hat diverse Bücher und Artikel zum Thema Agilität publiziert und ist regelmäßig als Keynote Speaker an Konferenzen eingeladen. Auf LinkedIn folgen ihm und seinen Posts rund 30’000 Menschen.