Katastrophenhilfe als Vorbild bei Unternehmenskrisen

Gastbeitrag von | 04.11.2024

Was Unternehmen von der Katastrophenhilfe lernen können

Krisen gehören zum Alltag, auch für Unternehmen. Während noch vor wenigen Jahren der Eindruck vorherrschte, Krisen kämen in erträglichen Dosen, häufen sich spätestens seit Corona die Anzeichen, dass sich manche Krise zur Katastrophe auswachsen kann.

Gerade in Deutschland bestimmen derzeit Unternehmenskrisen unsere Wahrnehmung. So steht z.B. die Automobilindustrie vor großen Herausforderungen und auch mein ehemaliger Arbeitgeber aus der Pharmaindustrie balanciert seit der Übernahme durch einen amerikanischen Konzern am Abgrund; viele meiner ehemaligen Kolleginnen und Kollegen haben das Unternehmen verlassen (müssen) oder agieren in ständiger Sorge um den Aktienkurs und den damit verbundenen eigenen Arbeitsplatz.

Auch in meinen Coachingsitzungen nimmt das Thema Jobkrise zu; oft geht es um Jobverlust und langwierige Jobsuche. Gleichzeitig kommt aus der konservativen Politik der Ruf nach “mehr Arbeit”. “Ja, wo denn?” und “Wie kommt man denn an die angeblich so vielen offenen Stellen?” frage ich mich oft, wenn verzweifelte, gut ausgebildete Coachees einen neuen und vor allem angemessen bezahlten Job suchen. In meiner zugegebenermaßen subjektiven Beobachtung passen Fachkräftemangel und Bewerbungsmarathon nicht wirklich zusammen.

Aber darüber zu klagen, dass Unternehmen und Politik die Zeichen der Zeit verschlafen haben oder staatliche Förderung das Alte manifestiert, statt in das Neue zu investieren, bringt uns nicht weiter. Krisen und manchmal auch Katastrophen gehören zum Leben – das gilt für Unternehmen nicht weniger als für den Einzelnen.

Mein Vorschlag:

Statt immer nur zu jammern, sollten wir uns in herausfordernden Zeiten auf Krisen- und Katastrophenkompetenz konzentrieren.

Wie spezialisierte Organisationen auf Krisen reagieren

Werfen wir einen Blick über den unternehmerischen Tellerrand: In Deutschland sind hervorragende Organisationen in der Katastrophenhilfe tätig. Was tun Organisationen wie das Technische Hilfswerk oder die Feuerwehr, um in Krisen und Katastrophen angemessen reagieren zu können?

Juniorprofessorin Danner-Schröder hat das Vorgehen dieser Organisationen analysiert und daraus wichtige Erkenntnisse für die Resilienz von Organisationen abgeleitet. [1] Im Prozess der Katastrophenhilfe sind vor Ort zwei Phasen zu beobachten:

In der ersten Phase herrscht ein gewisses Chaos.

Die Katastrophenhelfer treffen am Einsatzort ein, machen sich mit dem Geschehen vertraut und schaffen eine Basis für das später notwendige flexible Agieren im Unbekannten. Zu dieser Basis gehört der rasche Aufbau von (vertrauten) Strukturen, wie z.B. das immer gleiche Basiscamp, sowie eine erste Komplexitätsreduktion durch initiale Prioritätensetzung für die dann folgende eigentliche Katastrophenbewältigung.

Die erste Phase gibt Orientierung und fördert das notwendige Sicherheitsgefühl. Sie schafft damit unverzichtbare Voraussetzungen, um in der Folge angemessen handeln zu können; dazu bedarf es einer erweiterten Wahrnehmung der Situation durch die Helfer und klarer Vorgaben, wie in Phase 1 vorzugehen ist.

In der zweiten Phase geht es um die eigentliche Krisen- bzw. Katastrophenbewältigung.

Hier gilt es zu reagieren, zu agieren und aus der Situation zu lernen. Im Katastrophenschutz werden in dieser zweiten Phase eingeübte Routinen flexibel kombiniert und der Situation angepasst.

Darüber hinaus gibt es klare Abläufe vor und nach den eigentlichen Einsätzen:

  • Vor Einsätzen müssen Routinen trainiert und Pläne für den Aufbau des Basislagers erstellt werden. Wichtig ist, dass das Camp unabhängig von den lokalen Gegebenheiten aufgebaut wird, damit alle Beteiligten mit der Nutzung vertraut sind.
  • Nach der Krise gibt es eine Lessons Learned, auf deren Basis Routinen angepasst und Pläne modifiziert werden. So wächst die Expertise aller Beteiligten.

 

Der Nutzen der Katastrophenhilfe für Unternehmen

Diese Art des stufenweisen Vorgehens lässt sich auch auf Krisen in Unternehmen anwenden. Insbesondere im produktiven Umfeld, wo der Ausfall von Produktionseinheiten zu einer unternehmerischen Katastrophe führen kann, erscheint es mir sogar 1:1 geeignet. Am Beispiel des Ausfalls zentraler IT-Komponenten eines Rechenzentrums würde dies bedeuten (vereinfachte Darstellung):

  • Es gibt Notfallpläne inkl. technischer Abhängigkeiten sowie eine Priorisierung der Anwendungen nach Geschäftskritikalität; die Mitarbeiter sind mit Wiederanlaufplänen und -verfahren inkl. Datenwiederherstellung vertraut.
  • Nach Feststellung eines Ausfalls wird ein Krisenzentrum eingerichtet. Dort wird eine Task Force gebildet, die Entscheidungen trifft.
  • Nach einer ersten Abstimmung arbeiten die beteiligten Mitarbeiter an der Wiederinbetriebnahme der IT-Infrastruktur. Dabei greifen sie auf definierte Wiederanlaufroutinen zurück, die flexibel kombiniert und angepasst werden müssen.
  • Immer wieder kehren die Mitarbeiter in das Krisenzentrum zurück, tauschen sich aus und bauen so auch persönlichen Stress ab, denn das Krisenzentrum ist ein bekannter Ort, an dem sie auch ihre Grundbedürfnisse wie Essen und Trinken befriedigen.
  • Auch so einfache Dinge wie die formale Anordnung der Überschreitung der gesetzlichen Arbeitszeit bei gleichzeitiger Einhaltung der notwendigen Pausen – notfalls in Form einer Ad-hoc-Anordnung – entlasten die mit der Störungsbehebung beauftragten Mitarbeiter.
  • Nach Beendigung der Störung und einer angemessenen Erholungszeit für alle Beteiligten erfolgt die Auswertung des Einsatzes. Wiederanlaufroutinen werden angepasst, Anwendungsprioritäten ggf. modifiziert und Schulungsbedarfe für die Mitarbeiter abgeleitet, denn in Krisen spielen Erfahrung und Expertise eine wesentliche Rolle.

Aus meiner unternehmerischen Praxis weiß ich, dass viele Rechenzentren solche Prozesse für Ausfälle etabliert haben. Was oft fehlt:

  • Nicht das Entscheidungszentrum fehlt, sondern die Notwendigkeit einer Versorgungsbasis für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wird unterschätzt – und ja, dazu gehören auch Kaffee und Kekse. Ob und wie die Versorgungsbasis eingerichtet wird, ist individuell und hängt auch von der Einschätzung der für den Einsatz verantwortlichen Führungskräfte ab.
  • Vor- und Nachbereitung kommen im Alltagsgeschäft und aufgrund von Ressourcenengpässen zu kurz.
  • Die erweiterte Wahrnehmung wird nicht geschult.

Natürlich spielen sich Unternehmenskrisen nicht nur in produktiven Organisationseinheiten oder Umgebungen mit etablierten Prozessen und Routinen ab. Die Bewältigung von Ereignissen, die z.B. in Form einer wirtschaftlichen Bedrohung das gesamte Unternehmen betreffen, kann nicht allein durch die situative Rekombination von Routinen bewältigt werden.

Aber auch hier kann der in der Katastrophenhilfe entwickelte Rahmen hilfreich sein: Die Einrichtung eines vorbereiteten Krisenzentrums und die Benennung einer (vordefinierten) Task Force – hier vielleicht eher eine Art Projektteam mit zentralem Projektraum – schafft Strukturen. Experten mit unterschiedlichen Perspektiven können zusammengerufen werden und entwickeln Konzepte, die dann in kleinen Schritten erprobt und modifiziert werden müssen. Auch hier wird Bekanntes neu kombiniert, auch hier findet Lernen im Tun selbst und in Form gezielter Lessons Learned statt. [2]

Was machen Krisen und Katastrophen mit den Menschen in Unternehmen?

Nicht überraschend, aber im beruflichen Kontext gerade in Krisen und Katastrophen wichtig und schnell vergessen: Führungskräfte und Mitarbeiter sind ganz normale Menschen. Krisen oder gar Katastrophen machen daher auch im beruflichen Kontext mit ihnen nichts anderes als das, was wir aus dem privaten Bereich kennen: Sie erzeugen Angst und können sogar traumatische Erlebnisse hervorrufen oder auslösen. [3]

Aus meiner Sicht lohnt sich daher auch beim Thema Unternehmensresilienz ein Blick in die so genannte Traumaforschung. Ohne gleich dramatisch zu werden – die Wahrscheinlichkeit von (Re-)Traumatisierungen bei Krisen in und von Unternehmen ist hierzulande eher gering, es sei denn, es handelt sich bei der Krise um einen schweren Unfall. [4] Auch die in Krisen beobachtbare Empörung (über Führungskräfte, Prozesse, Kunden etc.) bis hin zu Aggression, Hass und Verschwörungstheorien werden in der Traumaforschung als mögliche Verarbeitung von bedrohlichen Erfahrungen gesehen.

Relevant erscheint mir hier, dass all dies angstreduzierend wirkt und damit ein durchaus erwartbares Phänomen in Unternehmenskrisen sein kann, das konstruktives Handeln behindert oder gar verhindert. Aus der Traumaforschung lassen sich hier Gegenmittel ableiten.

Unternehmenskrisen mit Hilfe der Traumaforschung bewältigen

In der Traumaforschung spielt die Wiedererlangung der individuellen Handlungsfähigkeit und der Kontrolle über die eigenen Emotionen eine wesentliche Rolle. Im Hinblick auf Unternehmenskrisen lohnt sich insbesondere ein Blick in die Forschung zu gruppenweiten Traumatisierungen und was hilft, diese zu überwinden oder zu vermeiden.

Wie im individuellen Bereich spielt das Thema Sicherheit – nun in der Gruppe – eine zentrale Rolle. Wichtig ist sowohl die Verbundenheit mit (den Mitgliedern) der Gruppe als auch ein gefühlter (gemeinsamer) Zugewinn an Kontrolle in der Krise. Daraus ergeben sich Aspekte, die Unternehmen beachten sollten:

  • Menschen wollen mitgestalten, aber das ist in akuten Krisen natürlich nicht immer flächendeckend möglich. Hier ist eine adäquate Kommunikation, die das Kontroll- und Sicherheitsbedürfnis der Betroffenen berücksichtigt, entscheidend.
  • Aufgrund der evolutionären Strategie der Spezies Homo Sapiens ist es ein urmenschliches Bedürfnis, mit anderen verbunden zu sein und ihnen zu vertrauen; in Krisen ist es daher absolut kontraproduktiv, Menschen zu trennen oder zu verunsichern, da dies ihre Leistungsfähigkeit reduziert.

Hier einige Erkenntnisse aus der Traumforschung, die sich auch auf Unternehmen übertragen lassen:

  1. Stärken Sie informelle Netzwerke.
  2. Schaffen Sie Begegnungsräume, wie z.B. einen “War-Room” (was für ein schrecklicher Name für ein so wunderbares, angstreduzierendes Mittel) oder Räume für nur indirekt Betroffene, in denen diese Informationen erhalten oder ihre Sorgen adressieren können.
  3. Nutzen Sie in wirtschaftlichen Krisen positiv besetzte Erinnerungen. Die gute alte Zeit “schweißt zusammen”, auch bei notwendigen Einschnitten und Veränderungen. In langjährige Rituale wie das jährliche Betriebsfest können Aspekte des Neuen integriert werden. So verbinden Sie notwendige, manchmal für die Betroffenen schwierige Veränderungen mit einer Erinnerungskultur.
  4. Schaffen Sie gemeinsame Symbole. In kritischen Projekten und Task-Forces finden Sie oft ein Stofftier oder etwas ähnliches. Oft hat es einen Namen und steht für eine wichtige Aufgabe. Auch der bewusste Einsatz eines alten, positiv besetzten Symbols für eine anstehende Krisenintervention oder Transformation ist im Sinne einer positiven Erinnerungskultur möglich.

Natürlich ist es sinnvoll, zwischen einer kurzfristigen Krise wie dem Ausfall einer IT-Infrastruktur und einer längerfristigen, mitunter existenziellen Bedrohung des Unternehmens durch wirtschaftliche Probleme zu unterscheiden. Im ersten Fall wird es bei den zu treffenden Maßnahmen eher um die Stabilisierung des an der Bewältigung arbeitenden Teams gehen, im zweiten Fall ist der Kreis der einzubeziehenden Personen sicherlich deutlich größer.

Fazit

Aus der Katastrophenforschung lassen sich wichtige Kompetenzen für resiliente Organisationen ableiten. Wichtig ist vor allem eine gute Vorbereitung auf mögliche Krisen – je früher, desto besser. Diese Vorbereitung umfasst sowohl organisatorische Aspekte (Routinen, gezielter Aufbau von Know-how-Trägern) als auch Mitarbeiterkompetenzen (Stärkung von Selbstwirksamkeit, Expertise, Sicherheitsgefühl, Wahrnehmungskompetenz).

In der Krise selbst ist ein Vorgehen in zwei Phasen sinnvoll: In der ersten Phase geht es darum, vertraute Strukturen zu schaffen und Prioritäten für die aktuelle Situation zu setzen. Vertraute Strukturen und Prioritäten sind ein geeignetes Mittel gegen operative Hektik. In der zweiten Phase geht es um die eigentliche Arbeit zur Bewältigung der Situation.

Während der Krisenbewältigung ist eine Stabilisierung der an der Lösung Beteiligten notwendig, mit zunehmender Dauer wird dieser Kreis um weitere Betroffene erweitert. Maßnahmen aus der Traumaforschung geben weitere Hinweise, wie mit Krisen und Katastrophen verbundene Ängste, die die Handlungsfähigkeit blockieren, abgebaut werden können.

Schließlich erfordert Krisenmanagement eine lernende Organisation – sowohl als Lessons Learned nach der Krise als auch als Lernen im Tun während der Krise selbst. Diese Kultur in den Unternehmen positiv zu besetzen und zu etablieren, halte ich für essentiell, wenn wir uns den Herausforderungen unserer unternehmerischen Zukunft stellen wollen.

 

Hinweise:

[1] Zeitschriftenaufsatz Organisationale Resilienz – wie Unternehmen Krisen erfolgreich bewältigen können, Danner-Schröder, D. Geiger 2016, Führung + Organisation, Vol. 85, 3, S. 201-208

[2] Die Benennung entsprechender Teams sollte anhand ihrer Expertise und Erfahrung und nicht (ausschließlich) anhand “firmenpolitischer” Gegebenheiten erfolgen. Und es sollten klare und operativ einfach nutzbare Regeln zur Zusammensetzung der Teams und möglicher Projektstrukturen geschaffen werden, BEVOR die Krise eintritt. Ebenfalls im Vorfeld sollten potentielle Mitglieder der Teams Ungewissheitskompetenzen trainieren mit Fokus auf erweiterte Wahrnehmung und gefühlte Sicherheit.

Zu Ungewissheitskompetenzen und zur Relevanz gefühlter Sicherheit siehe “Was wir von Raumschiff Enterprise lernen können” und Wissen kompakt: Ungewissheit.

[3] Ein traumatisierendes Ereignis ist im Gehirn nicht vollständig als vergangenes Ereignis abgespeichert und kann dadurch durch Auftreten eines Momentes aus dem damaligen Erleben, wie z.B. einem Geruch oder einem Farbimpuls, zum erneuten Erleben des traumatisierenden Ereignisses führen, eine Art Film des Gehirns, der für die Betroffenen nicht von der Realität unterscheidbar ist.

[4] Die Amygdala löst Angst-Reduktion aus, sobald wir handeln, unabhängig davon, ob das Handeln wirklich sinnvoll zielgerichtet oder eben eher hektisch ungerichtet ist.

Hier finden Sie eine Vorlage zur Dokumentation von Lessons Learned.

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Astrid Kuhlmey hat weitere Beiträge im t2informatik Blog veröffentlicht, u. a.:

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Astrid Kuhlmey
Astrid Kuhlmey

Dipl.Inf. Astrid Kuhlmey verfügt über mehr als 30 Jahre Erfahrung im Projekt- und Linienmanagement der Pharma-IT. Seit 7 Jahren ist sie als systemische Beraterin tätig und begleitet Unternehmen und Individuen in notwendigen Veränderungsprozessen. Ihr liegen Nachhaltigkeit sowie gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Wandel und Entwicklung am Herzen. Gemeinsam mit einem Kollegen hat sie einen Ansatz entwickelt, Kompetenzen zum Handeln und Entscheiden in Situationen der Ungewissheit bzw. Komplexität zu fördern.