Konflikte im Team produktiv nutzen

Gastbeitrag von | 22.07.2024

F: Sag mal, gibt es bei euch im Team manchmal auch Konflikte?

A: Klar, ständig. Heute Vormittag haben wir uns in eine fachliche Entscheidung so richtig verbissen, da fallen schon mal deutliche Worte.

F: Und was macht das mit der Atmosphäre im Team?

A: Nichts. Ich weiß, dass die anderen auch nur gute Arbeit leisten wollen. Es gibt nur manchmal unterschiedliche Auffassungen darüber, was gute Arbeit ist.

F: Wie habt ihr die Situation heute Vormittag gelöst?

A: Nachdem wir unsere Standpunkte diskutiert haben, hat sich eine Lösung herauskristallisiert, mit der alle leben können. Hätte das nicht geklappt, hätte unser Teamleiter ein Machtwort sprechen müssen.

F: Und wie geht es danach weiter?

A: Naja, wir gehen zusammen essen und alles ist wieder gut. Die anderen meinen es ja nicht böse. Ich bin ihnen eher dankbar dafür, wenn sie ehrlich sagen, wenn meine Idee Quatsch ist.

Die reibungslose Zusammenarbeit im Team

Neulich wurde bei einem Meetup die Frage gestellt: “Wie erreichen wir eine reibungslose Zusammenarbeit im Team?”

Mich irritiert diese Frage. Nicht, weil eine reibungslose Zusammenarbeit nicht möglich wäre, sondern weil ich davon überzeugt bin, dass dies im Hinblick auf Entscheidungsfindung und Ergebnisse überhaupt nicht erstrebenswert ist.

Der Satz “Es gibt einen Konflikt im Team” lässt bei Führungskräften und Teamentwicklern automatisch den Puls in die Höhe schnellen. Konflikte werden in den meisten Organisationen als etwas Schlechtes und Zerstörerisches angesehen – eine “Störung im Betriebsablauf”, eine (hoffentlich) seltene Dysfunktion in der normalerweise harmonischen Zusammenarbeit. Ein gutes Team zeichnet sich (in dieser Sicht) dadurch aus, dass alle gemeinsame Ziele und Interessen verfolgen, Entscheidungen möglichst im Konsens getroffen werden und der Alltag von Einigkeit geprägt ist. Die klassische Managementlehre mit ihrem mechanistischen Weltbild hat hier tiefe Spuren hinterlassen. Erfolgreiche Organisationen werden gerne mit “gut geölten Maschinen” verglichen – eine solche Maschine hat möglichst wenig Reibung, denn Reibung bedeutet Verschleiß und Ineffizienz.

Diesen Gedanken möchte eine konträre Sicht entgegenstellen; eine Perspektive, in der Konflikte nicht nur unausweichlich, sondern sogar notwendig und förderlich für gelungene Zusammenarbeit sind. Ohne Konflikte werden Schwächen nicht hinterfragt, Alternativen nicht erkundet, Optimierungspotenziale nicht genutzt. Es geht in meinen Augen nicht darum, sie zu vermeiden, sondern sie als Werkzeug und Ressource für den gemeinsamen Erfolg zu nutzen. Wie das funktioniert, ist nicht nur eine methodische Frage. Es gibt Werkzeuge, die uns dabei helfen können, vor allem aber braucht es dazu einen Paradigmenwechsel im Umgang mit unseren Mitmenschen.

Konflikte und Organisationen

Betrachtet man das Thema durch eine sozialtheoretische Brille, so wird schnell klar, dass Konflikte grundsätzlich und dauerhaft in Organisationen eingewoben sind. Organisationen existieren, weil drei unterschiedliche Anspruchsgruppen (Kunden, Eigentümer, Mitarbeitende) gleichzeitig unterschiedlichen Nutzen aus ihnen ziehen können. Eine Schnittmenge gemeinsamer Interessen sorgt dafür, dass es überhaupt zu einer Zusammenarbeit kommt, gleichzeitig stehen diese Interessen an anderer Stelle im Widerspruch zueinander. Die daraus resultierenden Zielkonflikte erzeugen einen permanenten Kommunikations- und Entscheidungsbedarf, der immer wieder neu bearbeitet werden muss. Diesem grundsätzlichen Spannungsverhältnis von partieller, aber nicht vollständiger Einigkeit können sich Organisationen nicht entziehen. Wo Menschen zusammenarbeiten, wird es immer unterschiedliche Auffassungen darüber geben, wann und für wen die Zusammenarbeit welchen Mehrwert hat.¹

Organisationen haben verschiedene Möglichkeiten, mit diesen dauerhaften Konflikten umzugehen. Eine Option ist die klassische Arbeitsteilung, bei der unterschiedliche Organisationsbereiche für unterschiedliche Interessen zuständig sind. Das funktioniert, verlagert die Konflikte allerdings an die Schnittstellen zwischen diesen Bereichen, wo sie schnell in politische Machtkämpfe ausarten und auf allen Seiten Frustration erzeugen können (“Der Vertrieb stellt sich schon wieder quer…”). Eine andere Möglichkeit besteht darin, ein komplettes Thema mit all seinem Konfliktpotential in ein Team zu verlagern, das dann im kleinen Kreis die notwendigen Diskussionen und Entscheidungen (hoffentlich) schneller und effektiver bewältigen kann als die große Organisation außenherum. Begriffe wie “interdisziplinär”, “crossfunktional” oder “bereichsübergreifend” in Bezug auf Teams drücken aus, dass in ihnen tagtäglich sehr unterschiedliche Expertisen, Perspektiven und Interessen aufeinander prallen und prallen sollen. Meinungsverschiedenheiten gehören in solchen Teams dazu, so viel ist klar – und zwar nicht aus Versehen, sondern bewusst so angelegt. So gesehen wirken viele Teams weniger wie “gut geölte Maschinen”, sondern eher wie bewusst abgesteckte Arenen der Konfliktbearbeitung.

Diese Überlegungen decken sich mit meiner praktischen Erfahrung, dass gerade besonders erfolgreiche und leistungsfähige Teams sich nicht durch Harmonie, sondern durch Spannung und Dissens auszeichnen. In Hochleistungsteams (für mich ein positiv besetzter Begriff) wird oft mit einer für Außenstehende schockierenden Direktheit miteinander gestritten, ohne dass dies die weitere Zusammenarbeit der Teammitglieder beeinträchtigt. Themen werden energisch diskutiert, Optionen verglichen, unterschiedliche Standpunkte angegriffen und verteidigt, anschließend gehen die Teammitglieder entspannt zusammen essen und plaudern über das Wochenende, als wäre nichts gewesen. Nach meiner Erfahrung steigt das Konfliktbedürfnis (!) eines Teams mit der internen Abhängigkeit der Teammitglieder untereinander und mit der Leistungsorientierung des Teams. Eine Gruppe, die unbedingt liefern muss und will, deren Mitglieder aber nur gemeinsam zum Ergebnis kommen, muss streiten können, oder sie zerbricht.

Was Hochleistungsteams auszeichnet, ist nicht die Abwesenheit von Konflikten, sondern der reflektierte und kontrollierte Umgang mit ihnen. Die Kunst besteht darin, Konflikte fachlich offen austragen zu können, ohne auf die persönliche Ebene zu eskalieren – dafür ist es elementar, dass alle Teammitglieder wissen und darauf vertrauen können, dass mit Konflikten so umgegangen wird. Meiner Erfahrung nach hat diese Voraussetzung wenig mit den Persönlichkeiten der Teammitglieder zu tun, dafür umso mehr mit den Regeln und Erwartungen innerhalb des sozialen Systems “Team”. Menschen sind bereit und willens, eine fachliche Debatte energisch, aber konstruktiv zu führen, solange die “Spielregeln” der Situation eine solche Auseinandersetzung fördern und gleichzeitig persönliche Angriffe als unzulässig markieren.

Diese Spielregeln sind kein Zufall, sondern können für einen bestimmten Kontext bewusst gestaltet werden. Beispiele für “konfliktfreundliche” Kontexte reichen von der Plenardebatte im Parlament über den Rhetorik-Club an der Universität bis hin zur politischen Debatte in der WG-Küche – überall dort, wo Menschen wissen, dass es einen feinen, aber wichtigen Unterschied zwischen fachlicher Auseinandersetzung und “echten”, dauerhaften Beziehungen gibt. Ein Schlüssel zur Entwicklung erfolgreicher Teams liegt darin, die tägliche Zusammenarbeit als einen sozialen Kontext zu etablieren, in dem über fachliche Fragen offen gestritten werden darf, gleichzeitig aber die zwischenmenschlichen Beziehungen gepflegt und intakt gehalten werden. Beide Erwartungen sind wichtig und müssen nicht nur initial aufgebaut, sondern auch über die Lebensdauer eines Teams immer wieder bestärkt und nachgeschärft werden. Schauen wir uns an, wie das funktionieren kann.

Gängige Konfliktmodelle

Wer bewusst mit Konflikten arbeiten will, muss sie beobachten und zwischen konstruktiv und destruktiv unterscheiden können. Ein weit verbreitetes Hilfsmittel dazu ist das neunstufige Eskalationsmodell des Konfliktforschers Friedrich Glasl.²

Neunstufiges Konfliktmodell nach Glasl

Im Kern besagt Glasls Modell, dass sich mit zunehmendem Eskalationsgrad das Konfliktverhalten der Beteiligten grundlegend ändert. Geht es zu Beginn noch um die fachliche Auseinandersetzung und das Überzeugen mit Argumenten, so gehören später zunehmend destruktive Verhaltensweisen wie Lagerbildung, Angriffe auf die Glaubwürdigkeit des Gegners, Drohstrategien bis hin zu gegenseitigen Vernichtungsversuchen zum Verhaltensrepertoire.

Für die Teamarbeit liefert das Glasl-Modell zwei wichtige Erkenntnisse:

  • Fachliche Auseinandersetzungen, selbst hitzig geführte, sind im täglichen Umgang normal, zu erwarten und bedürfen nur selten korrigierender Eingriffe. Meist genügt es, auf einen lösungsorientierten Diskurs zu achten und persönliche Angriffe als unzulässig auszuschließen. Ein kritischer Wendepunkt in einer Auseinandersetzung ist der Abbruch der Kommunikation: “Mit dem zu reden bringt doch eh nichts.”
  • Sobald Menschen anfangen, übereinander statt miteinander zu reden, öffnet dies einer Reihe gefährlicher Dynamiken Tür und Tor. Teams können ihre eigene Kommunikation auf solche Situationen hin beobachten, Lagerbildung verhindern und darauf hinwirken, dass Meinungsverschiedenheiten im Dialog gelöst werden, bevor es zu Frustration und Abbruch des Dialogs kommt.

Ein weiteres hilfreiches Modell stammt von dem Organisationsberater und Coach Klaus Eidenschink.³ Hier werden entlang einer Reihe von Konfliktfacetten verschiedene mögliche Handlungsstrategien aufgezeigt:

Konfliktfacetten mit Handlungsstrategien nach Eidenschink

Gegenüber dem ersten Modell lassen sich hier zwei weitere wertvolle Erkenntnisse gewinnen:

  • Zum einen handelt es sich beim Konfliktverhalten häufig gerade nicht um eine lineare Abfolge von Eskalationsstufen, sondern um ein breites Spektrum unterschiedlicher Verhaltensweisen, die nahezu beliebig ausgewählt und miteinander kombiniert werden können. So ist es z.B. durchaus möglich, einen freundlichen Umgangston auf der sozialen Ebene mit einer totalen Verweigerungshaltung auf der Sachebene zu kombinieren.
  • Zum anderen betont Klaus Eidenschink, dass Konflikte in vielen Fällen sinnvoll und notwendig sein können und daher die souveräne Beherrschung sowohl von Eskalations- als auch von Deeskalationsstrategien entscheidend für einen gesunden Umgang mit Konflikten ist.

Dies möchte ich noch einmal betonen: Im Gegensatz zu dem, was in vielen Konfliktseminaren vermittelt wird, ist es für einen gesunden Teamalltag wichtig, auch mal inhaltlich einseitig, sendend, durchsetzungsfähig, egoistisch etc. sein zu können, wenn es Situation und Sachfrage erfordern! Der Trick ist, dies bewusst und reflektiert zu tun, auf kontrollierte Art und Weise, und den dadurch geschürten Konflikt zeitnah wieder in eine fachlich und sozial akzeptable Lösung überführen zu können.

Sechs praktische Tipps für die produktive Nutzung von Konflikten

Zum Schluss noch ein paar Ideen und Tipps, wie Teams Konflikte produktiv nutzen können:

Wir sind klar in der Sache, aber wertschätzend im Umgang.

Während Konflikte auf der Ebene von Sachfragen, Vorgehensoptionen, Zielsetzungen und Prioritäten für Teams normal und sogar notwendig sind, haben sich persönliche Konflikte in der Praxis selten als hilfreich erwiesen. Eine Grundregel für das Miteinander im Team könnte daher lauten:

Sachfragen dürfen klar und auch mal emotional diskutiert werden, aber Angriffe auf die Intelligenz, Kompetenz oder den guten Willen der anderen Beteiligten sind absolut inakzeptabel. Ob man eine Idee mit den Worten ablehnt: “Ich habe verstanden was du möchtest, das funktioniert aber für mich nicht”, oder ob man einen Konflikt auf der Beziehungsebene eröffnet mit: “Ich finde es eine Frechheit, dass du diesen Vorschlag überhaupt machst”, macht für den weiteren Verlauf der Diskussion einen großen Unterschied.

Es ist Aufgabe des Teams, diese Regel gemeinsam aufzustellen und dann auch gemeinsam durchzusetzen! Ein häufiger Fehler ist es, Regeln wie diese implizit als “offensichtlich” vorauszusetzen – dass in einer beliebigen Besprechung eine harte fachliche Debatte erwünscht ist, versteht sich meiner Meinung nach nicht von selbst. Ich selbst stelle die Regel “klar in der Sache, wertschätzend im Umgang” z.B. zu Beginn meiner Workshops ausdrücklich auf und mache damit deutlich, dass ich sie als Voraussetzung für die Teilnahme an dem Termin betrachte. Die Wirkung auf den weiteren Verlauf ist spürbar, nicht nur in Form besserer Diskussionen, sondern die “Erlaubnis” zum klaren Widerspruch in der Sache entspannt die Teilnehmenden auch spürbar emotional.

Konflikte eröffnen, wenn sie notwendig sind – aber nur dann.

Wenn wir Konflikte als gut und notwendig betrachten, dann ist natürlich die Frage, welche Konflikte wir eröffnen (und wie!), für die Zusammenarbeit entscheidend. Nicht jede Meinungsverschiedenheit bringt zwangsläufig die gemeinsame Sache voran. Im richtigen Moment mit den richtigen Worten einzugreifen, will geübt sein.

Eine soziale Funktion von Konflikten besteht unter anderem darin, Alternativen zum Status quo aufzuzeigen. Ein Anlass, einen Konflikt zu beginnen, kann also dann gegeben sein, wenn bestimmte Alternativen noch nicht ausreichend betrachtet wurden. Die bloße Wahrnehmung eines “hmm, ich persönlich würde es aber anders machen” ist dagegen in der Regel kein ausreichender Anlass. Unterschiedliche Stile müssen in einem Team auch einmal ausgehalten werden. Im Zweifelsfall muss der Moderator eines Meetings entscheiden, welche Diskussionen und Einwände Raum bekommen sollen.

Die Königsdisziplin: Entscheidungen treffen können, auch wenn man nicht einer Meinung ist.

Konflikte werden durch Entscheidungen gelöst. Einigung im Konsens ist nur eine Möglichkeit, diese Entscheidung zu treffen – und wenn wir die Vielfalt der Perspektiven im Team als Ressource bewahren wollen, ist Einigkeit nicht unbedingt immer etwas, das wir anstreben sollten!

Das Team braucht also Möglichkeiten, Entscheidungen zu treffen, ohne sich einigen zu müssen. Ein für mich sehr erfolgreicher Weg ist, “Themenowner” festzulegen, die unterschiedliche Perspektiven anhören und integrieren können und im Zweifelsfall per konsultativem Einzelentscheid das letzte Wort haben. Diese Rolle wird als solche respektiert und ihre Existenz und Besetzung während der laufenden Debatte auch nicht in Frage gestellt. Ansonsten braucht das Team Entscheidungsmethoden, die trotz Uneinigkeit auf Ergebnisse führen können – Mehrheitsabstimmungen und Widerstandsabfragen bieten sich an.

Vorschläge sind zweitrangig, Interessen entscheidend.

Viele Debatten drehen sich oft um die Frage, welcher Vorschlag aus einer Reihe von Möglichkeiten nun Vorrang haben soll. Das Problem mit Vorschlägen ist, dass sie sehr spezifisch und oft mit schwer durchschaubaren persönlichen Präferenzen aufgeladen sind – beides erschwert die Suche nach der bestmöglichen Lösung. Ein hilfreicher Grundsatz aus der Harvard-Verhandlungsmethode lautet, den Dialog nicht über Vorschläge, sondern über die dahinter liegenden Interessen zu führen: “Warum ist dir dieser Vorschlag so wichtig?” Vorschläge werden so zu einem flüchtigen Teil der Diskussion, können nach Bedarf kommen und gehen, während die Beteiligten gegenseitig ihre Vorstellungen und Bedürfnisse erforschen.

Dissens normalisieren, wertschätzen und bewusst herausfordern.

Die wenigsten von uns lernen jemals bewusst, wie man einen Konflikt kontrolliert eröffnet – infolgedessen fühlen wir uns schon beim Ansprechen eines Problems unsicher und peinlich berührt und reagieren empfindlich auf Zurückweisung. Es ist daher wichtig, im Team eine Atmosphäre zu schaffen, in der sowohl Widerspruch als auch das Ablehnen von Vorschlägen jederzeit möglich sind, ohne dass sich jemand angegriffen fühlt.

Ein wichtiges Ritual dabei ist, den Dissens bei jeder Gelegenheit wertzuschätzen: “Danke, dass wir das so offen diskutieren konnten – eure Einwände und Gegenvorschläge haben das Ergebnis heute wirklich besser gemacht”. Dissens kann auch zu Beginn einer Diskussion oder eines Termins ausdrücklich als erwünscht markiert werden. Hier ein Beispiel, wie ich eine Arbeitssitzung mit einer Teamkollegin eröffnen würde:

“Danke, dass du dir Zeit nimmst. Ich hatte eine schlechte Idee und hoffe, dass du mir helfen kannst, daraus eine gute Idee zu machen. Ich brauche dich nicht unbedingt, um mir zu erzählen, was daran toll ist – davon überzeugt bin ich schon. Du würdest mir heute am meisten helfen, wenn du mir zeigen könntest, welche Schwächen und blinden Flecken meine Idee im Moment noch hat.”

Auch der Umgang mit Entwürfen und Zwischenergebnissen hat großen Einfluss auf die Wahrnehmung von Dissens im Team. Ich vermeide es mittlerweile, meinem Team “fertige” Ergebnisse zu zeigen, für die ich mir Kritik lieber nicht anhören möchte. Stattdessen binde ich mein Team dort ein, wo es einen spürbaren Unterschied machen kann und soll: bei halbfertigen Entwürfen, groben Lösungsskizzen, ersten Ideen und Prototypen. Weil ich weiß, dass diese Zwischenergebnisse noch nicht besonders gut sind (und auch nicht sein müssen), kann ich in dieser Phase auch harte Kritik viel besser annehmen und integrieren.

Check-in und Check-out als Schlüsselrituale nutzen.

Ein Arbeitsalltag, der jeden Tag aus 8 Stunden Konflikt und harter Auseinandersetzung besteht, wäre enorm anstrengend und ermüdend. Wir brauchen in jeder Zusammenarbeit Zeiträume, in denen wir uns einfach gut verstehen und gegenseitig bestärken können. Für den gezielten Einsatz von Konflikten kann es daher hilfreich sein, Phasen, in denen Dissens notwendig ist, explizit zu definieren und mit entsprechenden Ritualen zu eröffnen bzw. zu schließen.

Ein Check-in und Check-out zu Beginn und am Ende eines Meetings oder Workshops ist dafür prädestiniert. Der Beginn eines Meetings kann z. B. dazu genutzt werden, ausdrücklich zu Widerspruch und Einwänden einzuladen, Verhaltensregeln festzulegen und zu klären, wie Entscheidungen getroffen und Einwände integriert werden sollen. Am Ende einer Sitzung wird das Engagement der Beteiligten noch einmal gewürdigt, eventuelle Spannungen in der Beziehung bereinigt (“Ich meinte das vorhin nicht böse”) und der Rahmen wieder geschlossen. Ideal ist es, wenn sich direkt im Anschluss eine Möglichkeit zur entspannten sozialen Beziehungspflege schaffen lässt, z. B. durch ein gemeinsames Essen oder eine lockere Kaffeepause an der frischen Luft. In gewisser Weise ähneln diese kleinen Rituale dem zeremoniellen Verneigen zu Beginn und am Ende eines Sparrings im Kampfsport – nicht nur markieren sie die Grenzen der Auseinandersetzung für alle gut sichtbar, sie drücken auch gegenseitigen Respekt und Dank für die Teilnahme aus.

Fazit

Um erfolgreich zu sein, brauchen Organisationen immer eine Balance zwischen Stabilität und Veränderung, Eindeutigkeit und Mehrdeutigkeit, Übereinstimmung und Konflikt. Eine Zusammenarbeit, in der Widerspruch und Einwände keinen Platz haben, stagniert und erstarrt mit der Zeit und baut Druck und Unzufriedenheit auf, die sich früher oder später auf andere Weise Bahn brechen müssen. Das weit verbreitete Narrativ, dass Harmonie im Team gut und Konflikt schlecht ist, finde ich persönlich daher nicht hilfreich.

Die Fähigkeit zu streiten, ist eine wesentliche Voraussetzung für erfolgreiche Teamarbeit. Wie die meisten anderen Fähigkeiten muss auch das Streiten bzw. der Umgang mit Konflikten bewusst und regelmäßig geübt werden. Statt diese Tatsache zugunsten eines “harmonischen Miteinanders” zu verleugnen, ist es für Teams besser, explizite Räume dafür zu schaffen und gemeinsam auszuhandeln, wann und wie Widersprüche und Meinungsverschiedenheiten am besten für gute Ergebnisse genutzt werden können. Eine gute Hilfe in der Praxis sind die genannten 6 Tipps; jeder einzelne Tipp entfaltet für sich bereits Wirkung, gemeinsam bilden sie eine sehr gute Basis, um Konflikte im Team produktiv zu nutzen. Probieren Sie es einfach bei nächster Gelegenheit selbst aus.

 

Hinweise:

[1] Sehr anschaulich ausgeführt z.B. bei Simon, F. B. (2021). Einführung in die systemische Organisationstheorie. Carl-Auer Verlag, Kapitel 3.1.
[2] Siehe z.B. Glasl, F. (2020). Konfliktmanagement: Ein Handbuch für Führung, Beratung und Mediation (12. Aufl.). Freies Geistesleben. S. 243.
[3] Eidenschink, K. (2024). Die Kunst des Konflikts: Konflikte schüren und beruhigen lernen. Carl-Auer Verlag.

Kai-Marian Pukall arbeitet seit über zwölf Jahren mit agilen und selbstorganisierten Teams. Drei Jahre lang begleitete er als Agile Coach bei DB Systel eine der größten Transformationen im deutschsprachigen Raum. Aktuell berät er als Seniorberater für Chili and Change Kunden deutschlandweit zur Verbesserung ihrer Zusammenarbeit. Sein Arbeitsschwerpunkt liegt in der Erkenntnis, dass sich besonders erfolgreiche Teams oft durch Aspekte wie freiwillige Mitgliedschaft, hohes Engagement und klare interne Strukturen auszeichnen. Wie man diesen Zustand als Team erreicht, davon handelt sein Fachbuch Selbstorganisation im Team. Sehr lesenswert!

Kai-Marian Pukall: Selbstorganisation im Team

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Kai-Marian Pukall
Kai-Marian Pukall

Kai-Marian Pukall arbeitet als Organisationsentwickler für die Seibert Media GmbH. Seit vielen Jahren begleitet er agile Teams, immer mit dem Ziel, die Zusammenarbeit wertvoll und professionell, einfach und menschenfreundlich zu gestalten. Den Lean-Grundsatz “Eliminate Waste” wendet er bevorzugt auf alles an, was nach Methoden- und Businesstheater riecht.