Zwischen Reiz und Reaktion
Na, was macht Ihr Reiz-Reaktions-Raum?
Vielleicht haben Sie von diesem Raum noch nie gehört; vermutlich kennen Sie aber die Ausdrücke „eine dünne Haut“ oder eine „kurze Lunte“ haben. Sie drücken aus, dass Menschen impulsiv handeln, schnell nervös werden oder gereizt reagieren. Bei manchen entzündet das Verhalten von Vorgesetzten, Kolleg:innen oder Kund:innen immer wieder einmal die viel zu kurze Zündschnur, bei anderen droht selbst bei Kleinigkeiten die Explosionsgefahr.
Das muss nicht so sein. Mit einem größeren Reiz-Reaktions-Raum werden auch impulsive Menschen souveräner und zufriedener.
Der Reiz-Reaktions-Raum
Der Reiz-Reaktions-Raum (auch als Reiz-Reaktions-Kette oder Stimulus-Response-Muster bezeichnet) ist ein Konzept aus der Psychologie und Verhaltensforschung. Er wurde erstmals von dem Psychologen Ivan Pawlow beschrieben und thematisiert die Reaktion von Lebewesen auf bestimmte Reize.1 Einfach ausgedrückt: das Verhalten wird durch eine Kette von Reaktionen auf Reize bestimmt. Wird ein Organismus einem bestimmten Reiz ausgesetzt, führt dies zu einer Reaktion. Diese Reaktion kann wiederum einen neuen Reiz auslösen, auf den der Organismus wiederum reagiert.
Das Konzept des Reiz-Reaktions-Raums findet bspw. in der Verhaltenstherapie Anwendung. Dort wird es genutzt, um negative Verhaltensmuster zu durchbrechen und positive Reaktionen zu verstärken.
Dem österreichischen Psychiater Viktor Frankl wird folgendes Zitat (fälschlicherweise) zugeschrieben*:
„Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.“
Und der persische Mystiker Dschalāl ad-Dīn Muhammad Rūmī schreibt:
„Zwischen Reiz und Reaktion gibt es einen Raum: Nur dort kann Begegnung stattfinden. Zwischen Reiz und Reaktion gibt es einen Raum: Nur dort findet Heilung und Entwicklung statt. Zwischen Richtig und Falsch gibt es ein Feld. Dort begegnen wir uns.“
Selfcoaching:
Wenn Sie an dieser Stelle schon etwas für sich tun möchten, halten Sie kurz inne und machen sich einige Notizen. Nach Lesen dieses Artikels, vielleicht mit ein paar Stunden Abstand, nehmen Sie sich diese Fragen noch einmal vor und schauen, ob sich etwas verändert hat.
- Was passiert spontan in Ihnen, wenn Sie diese Zitate lesen? Was denken Sie, was fühlen Sie?
- Was sind Ihre Assoziationen zu den Stichworten Begegnung, Heilung und Entwicklung?
Reflexhaft agieren oder mit dem Gehirnaufzug fahren
Ein Reflex ist eine unwillkürlich ablaufende Reaktion eines Organismus auf einen Reiz aus der Umwelt. Unwillkürlich ablaufende Reaktionen kennen wir Menschen auch; früher waren sie oftmals überlebenswichtig, faktisch können sie selbst heutzutage extrem bedeutsam sein. Im Bruchteil eines Augenblicks entscheidet der Hirnstamm, ältester Teil unseres Gehirns, entsprechend zwischen Angriff, Flucht oder Erstarrung.2
Bei einem Beutegreifer, der sehr schnell ist, aber schlecht sieht und auf Geräusche bzw. schnelle Bewegungen reagiert, ist es bspw. sinnvoll, still stehen zu bleiben. Ein Angriff bietet sich an, wenn man vermutlich stärker ist und eine Flucht, wenn man wahrscheinlich schneller ist.
Übertragen in eine Alltagswelt oder einen Arbeitsalltag ohne Beutegreifer: Ist es schlau, vor Wut rot zu sehen, nur weil Ihnen jemand einen Parkplatz vor der Nase wegschnappt? Ist es clever, Kund:innen oder Mitarbeiter:innen geringschätzend zu behandeln, nur weil Sie sich etwas anderes von ihnen erwartet haben? Ist es klug, gegenüber Vorgesetzten impulsiv zu reagieren?
Um diese Fragen wirklich beantworten zu können, braucht es den aktiven Neocortex (evolutionär jüngster Teil) des Gehirns.3 Gerald Hüther beschreibt mit seinem Erklärungsmodell des Gehirnaufzugs, wie Menschen bewusst vom Hirnstamm – der „untersten Etage“ – in den Neocortex – der „obersten Etage des Gehirns“ – fahren können, um wieder sorgfältig abzuwägen und klar zu denken.4 Klingt gut, oder?
Das Abbauen von Anspannung und das Ändern von Gewohnheiten
Vermutlich ist uns allen bewusst, wer „vor Wut rot sieht“ kann nicht klar denken. Rationalität hat keine Chance. Ähnliches passiert auch bei anderen starken – selbst positiven – Emotionen: Der Zugang zur Vernunft nimmt rapide ab.
Im Zuge einer Anspannung,
- denken Menschen nicht lange nach,
- sind ungeduldig,
- tendieren zur sofortigen Befriedigung und
- übersehen langfristige Nachteile.
Der Wunsch nach Rache geht bspw. kurzfristig mit einem Triumphgefühl und einer Genugtuung einher, führt aber mit etwas Abstand häufig zu einem „Katergefühl“ und dem Bereuen der impulsiven Handlung. Diese Gefühl des Bereuens kennen wir bspw., wenn wir zu schnell zu viel gegessen oder getrunken, unserem Gegenüber etwas Unangemessenes gesagt oder gar größere Schäden verursacht haben. Spätestens in solchen Situationen merken wir, dass es an der Zeit ist, aus entsprechenden Gewohnheiten auszubrechen.
Die Beschäftigung mit der persönlichen Impulsivität und das Umlernen dank Neuroplastizität
Die gute Nachricht lautet: Impulsivität ist nicht vollständig und unveränderbar fest „verdrahtet“.5 Mithilfe von regelmäßigen Trainings lässt sie sich zu großen Teilen in sinnvolle Bahnen lenken.6
Die „Grundierung“ für eine entsprechende Veränderung ist eine aktive Entspannungstechnik. Mein Favorit des Selbstmanagements ist der „X-Prozess“, der zusätzlich bei der Musterunterbrechung hilft.7 Er funktioniert auch vorbeugend. Gelingt es Menschen, den persönlichen Stresspegel zu reduzieren, können sie oftmals souveräner reagieren. Die dünne Haut wird dicker, die kurze Lunte länger. Aufbauend auf der Entspannung lernen Betroffene, die individuellen Auslöser zu erkennen, die zu „ungünstigen“ Reaktionen führen.
Selbstcoaching:
Wenn Sie gerade jetzt etwas mehr für sich selber tun möchten als nur diesen Artikel zu lesen, halten Sie wieder kurz inne und machen sich ein paar Notizen zu diesen Aufgaben:
- Sammeln Sie einige Beispiele für Ihre Impulsivität, kleine und große, die Sie bereuen, und die Sie gern ändern würden.
- Sortieren Sie diese auf einer Temperaturskala von „lauwarm“ bis „heiß“.
- Machen Sie sich einen Trainingsplan und üben Sie mit den „lauwarmen“ Beispielen beginnend langsam aufwärts. Letztlich funktioniert dies wie bei einem Konditionstraining, bei dem Sie mit leichteren Übungen anfangen.
Wichtig ist, dass die Anforderung anstrengend aber bewältigbar ist. Dank der Neuroplastizität8 lernen Sie nicht nur neue Dinge wie eine neue Sprache, sondern „überschreiben“, wenn auch deutlich mühsamer, alte ungünstige Verhaltensweisen durch neue hilfreichere.
Meine besten Methoden dafür basieren auf der Kognitiven Verhaltenstherapie (KVT), die aus klinisch-wissenschaftlicher Sicht die bevorzugte Psychotherapie bei Angststörungen9 und Depressionen ist, die sich aber auch für nicht-krankhafte Problemstellungen bewährt hat. Sie beruht im wesentlichen darauf, dass ein belastendes Gefühl oder eine unerwünschte Reaktion durch einen allgemeinen Auslöser erfolgen. Der Schlüssel ist die individuelle Bewertung (ABC-Modell). Gäbe es diese Komponente nicht, hätten zum Beispiel alle Menschen gleichermaßen vor denselben Dingen Angst. Die Lösung liegt in der Neubewertung hin zu einer hilfreicheren Reaktion.
Wenn Menschen keine entsprechende klinische Diagnose haben oder brauchen, können diese mit den Methoden der KVT in Form eines regelmäßigen Trainings belastende Muster überwinden. Dazu gehört auch die Impulsivität. Weiterentwicklungen wie die integrative KVT10 „boostern“ die Wirksamkeit dieses Ansatzes. Persönlich habe ich gute Erfahrungen mit Verfahren wie bspw. SFBT, MCT, MBSR/MBCT gemacht, die ich in meiner Tätigkeit als Wachstumsbegleiter auf die individuellen Bedürfnisse zuschneide.
Fazit
Menschen können lernen, die eigene kurze Lunte zu verlängern, wenn sie sich mit ihrem dem Reiz-Reaktions-Raum und der individuellen Impulsivität auseinandersetzen. Selbst wenn sich alte Denk- oder Verhaltensmuster nie vollständig auslöschen lassen11, gelingt es oftmals, den Raum zwischen Reiz und Reaktion zu vergrößern. Die Veränderung ist jedoch kein Sprint, sondern eher ein Marathon. Im Ziel winken dafür
- ein ruhigeres, souveräneres und friedlicheres Leben,
- ein umgänglicheres Miteinander mit anderen Menschen,
- erträglichere Mitmenschen,
- eine Ko-Kreation anstelle von Kampf,
- ggf. bessere Karrierechancen und
- oftmals auch eine geringere Fluktuation in Organisationen.
Für die auf der Temperaturskala „heißen“ Situationen, kann es zudem hilfreich sein, externe Hilfe zu nutzen. Bei Bedarf unterstütze ich Sie gerne.
Hinweise:
Gerne erzählt Ihnen Mario Hauff in einem Infogespräch mehr und findet mit Ihnen heraus, wie eine optimale Unterstützung für Sie aussehen könnte. Unter https://www.angstlotse.de/ können Sie leicht Kontakt aufnehmen.
* Dieses Zitat entspricht dem Grundgedanken von Viktor Frankls Logotherapie und Existenzanalyse, allerdings stammt es nicht von Frankl. Steven Covey, Autor von „7 Wege zur Effektivität“, schreibt im Vorwort zu „Pattakos“ (2004), dass er während eines Sabbatjahrs auf Hawaii in einer Bibliothek diese Zeilen entdeckte. Seiner Meinung nach bestätigten sie Frankls zentrale Lehren, den Namen des Autors hatte er sich aber leider nicht notiert. Aufgrund der gedanklichen Übereinstimmung nahm er an, es könnte von Frankl stammen, in dessen Schriften ist die Aussage jedoch nicht zu finden. Quelle: Lilian Loton
[1] Ivan Pavlov beschrieb im Rahmen seiner Forschung zur Konditionierung von Reflexen bei Hunden den Reiz-Reaktions-Raum. Er zeigte, dass Hunde lernen können, auf bestimmte Reize, wie zum Beispiel das Klingeln einer Glocke, mit bestimmten Reaktionen, wie zum Beispiel dem Speicheln, zu reagieren.
[2] Der Schaltkreis der Angst
[3] Baustelle im Kopf
[4] Das Hirnaufzugsmodell nach Gerald Hüther
[5] The Five-Factor Model of Impulsivity-Like Traits and Emotional Lability in Aggressive Behavior
[6] Epidemiologic and clinical updates on impulse control disorders: a critical review
[7] Einführung in den X-Prozess
[8] Neuronale Plastizität: Das formbare Gehirn
[9] Behandlung von Angststörungen
[10] Was ist Integrative KVT?
[11] Extinction Learning: Behavioural, Neural and Clinical Mechanisms, https://gepris.dfg.de/gepris/projekt/179167628
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Mario Hauff hat im t2informatik Blog weitere Beiträge veröffentlicht, u. a.:
Mario Hauff
Dipl.-Ing. Mario Hauff – Angstlotse · Wachstumsbegleiter – führt Menschen und Organisationen durch schwierige Phasen, die mit Angst zu tun haben und legt mit ihnen deren Potenziale frei. Wie ein Lotse geht er „an Bord“ bis wieder „sichere Fahrwasser“ erreicht sind und vermittelt dabei Selbstwirksamkeit und Selbstbefähigung. Nach 20 Jahren als Elektroingenieur für Mikroelektronik in einem amerikanischen Unternehmen bietet er heute in Einzel- und Gruppencoachings, Workshops und Impulsvorträgen Wachstum in Sicherheit mit modernsten, wissenschaftlich fundierten, Erkenntnissen.