Die Wirksamkeit von Agile Coaching – Teil 1

Gastbeitrag von | 16.05.2024

Warum die Diskussion über die Wirksamkeit von Agile Coaching wichtig ist, warum sie oft falsch geführt wird und eine mutige Alternative

Kürzlich hatte ich ein interessantes Gespräch mit einer Kollegin. Sie erzählte mir, dass in ihrem aktuellen Kontext ein Streit darüber entbrannt sei, wie man die Wirksamkeit von Agile Coaches am besten messen könne. Das Management wolle den Nutzen der Agile Coaches anhand von Kennzahlen wie Cycle Time, Throughput, Customer Satisfaction und auch Mitarbeiterzufriedenheit messen.

Agile Coaches kosten Geld. Organisationen achten auf Wirtschaftlichkeit. Daher ist es durchaus sinnvoll, den Wert der eingekauften Leistung zu betrachten. Wenn Agile Coaches mehr sein wollen als schmückendes Beiwerk, dann müssen sie sich auch die Frage stellen, welchen Wertbeitrag sie leisten und wie dieser gemessen werden kann.

Die Tatsache, dass Agile Coaches nicht direkt produzieren, sondern indirekt wirken, macht diese Betrachtung allerdings anspruchsvoll. Das ist eine gute Voraussetzung für hitzige, aber wenig zielführende Debatten.

In Teil 1 des zweiteiligen Beitrags möchte ich einen Blick auf die Wirksamkeit von Agile Coaching werfen und eine Erklärung liefern, warum Diskussionen oft “falsch” geführt werden. In Teil 2 werde ich dann einen Weg zur Bewertung der Leistung von Agile Coaches aufzeigen.

Ein typisches Szenario beim Agile Coaching

Agile Coaching gibt es in verschiedenen Formen und Ausprägungen. In einem typischen Szenario arbeitet ein Agile Coach mit einem mehr oder weniger cross-funktionalen Team, um es “agiler” zu machen. Dieses Team ist in eine Organisationsstruktur eingebettet und untersteht einem Manager oder einer Managerin mit Budgetverantwortung. Formal ist diese Person für die Ergebnisse ihres Bereiches gegenüber der ihr übergeordneten Ebene verantwortlich und entscheidet über den Einsatz von Agile Coaches (zumindest sind sie Teil ihrer Budgetkalkulation).

Daraus ergeben sich drei wesentliche Beteiligte für das Agile Coaching: Manager:in, Team und Agile Coach. Diese drei Parteien haben meiner Erfahrung nach oft unterschiedliche Ansichten darüber, was Agile Coaching bringen soll.

Manager:in

Der Ausspruch “You can’t manage what you can’t measure” spiegelt die Denkweise vieler Führungskräfte wider. Erfolg wird häufig anhand von Kennzahlen gemessen.

Es liegt nahe, diese Kriterien auch auf den Einsatz von Agile Coaches anzuwenden. Eine Product Ownerin mit Vergangenheit in einer großen Unternehmensberatung sagte bei unserem Kennenlernen direkt: “Was bringt mir ein Agile Coach? Da nehme ich doch lieber einen anderen Softwareentwickler.”

Agile Coaches sind betriebswirtschaftlich gesehen Overhead. Sie verursachen Kosten und schaffen durch ihre Arbeit keinen unmittelbaren, greifbaren Wert wie geschriebenen Code oder implementierte Features. Im Erfolgsfall sorgt ihre Arbeit dafür, dass andere mehr Wert schaffen.

Aus dieser Logik heraus ist es naheliegend, die Verbesserung der Leistung dieser Anderen – des betreuten Teams – als Erfolgsmaßstab heranzuziehen.

Team

Für viele Teams in der digitalen Produktentwicklung sind Agile Coaches ein vertrauter Teil ihrer Arbeitsumgebung. Die Teammitglieder erwarten Unterstützung bei der Anwendung agiler Methoden und bei der Verbesserung der Zusammenarbeit. Typische Erwartungen sind z.B. die Unterstützung bei der Schätzung oder die Verbesserung der Kommunikation im Team.

Häufig wünschen sich Teams auch, dass Agile Coaches ihre Meetings moderieren und dadurch effektiver gestalten. Es wird auch sehr geschätzt, wenn der Agile Coach lästige organisatorische Aufgaben wie Raumreservierungen oder die Verwaltung von Tools übernimmt.

Agile Coach

Agile Coaches lassen sich in zwei Lager einteilen:

  • Das erste Lager zeichnet sich durch einen starken Fokus auf die korrekte Anwendung agiler Frameworks wie bspw. Scrum aus, meist geprägt durch entsprechende Zertifizierungsschulungen.
  • Das zweite Lager besteht aus Personen mit einem Hintergrund im professionellen Coaching – in der Regel mit entsprechenden Coachingausbildungen im Hintergrund. Diese Coaches verstehen sich (überspitzt formuliert) als Prozessbegleiter ohne eigene Agenda, die “Räume öffnen” und “Impulse geben”.

Von der ersten Gruppe hört man auf die Frage nach Erfolgskriterien Dinge wie Prozesstreue oder auch Reifegrade. Die zweite Gruppe sieht ihren Erfolg darin, dass Menschen selbstbestimmter arbeiten und sich in ihrer Persönlichkeit entwickeln.

Wer hat nun Recht?

Leidenschaftliche Debatten über die Motive der Beteiligten

Ich erlebe häufig, dass sich aus einer solchen Konstellation leidenschaftliche Debatten darüber entwickeln, wer nun Recht und wer Unrecht hat. Doch damit nicht genug. Der jeweils anderen Seite werden offen oder unterschwellig unlautere Motive unterstellt.

Aus Sicht der Teams und der agilen Coaches werden Manager:innen zu “Mikromanagern”, die alles kontrollieren müssen und denen das agile Mindset fehlt. Manager:innen gelangen immer wieder zu der Überzeugung, dass die Mitarbeitenden nicht bereit wären, Verantwortung zu übernehmen oder sich mal richtig anzustrengen. Agile Coaches würden sich aus der Verantwortung stehlen und “Ringelpiez mit Anfassen” veranstalten, anstatt mal richtig zu arbeiten. Von Seiten der Teams werden Agile Coaches manchmal als “Besserwisser aus dem Elfenbeinturm” ohne Realitätsbezug oder gar als “Erfüllungsgehilfen” des Managements angesehen.

Solche Auseinandersetzungen führen fast nie zu einem konstruktiven Ergebnis. Entweder setzt sich eine Seite durch und zwingt der anderen ihre Sichtweise auf, es kommt zu einem faulen Kompromiss oder die Diskussion versandet ergebnislos.

Die Funktion gegenseitiger (Vor-)Urteile

Solche Situationen finde ich spannend. Folgt man dem systemischen Denken, haben alle Verhaltensweisen, auch die scheinbar dysfunktionalen, eine Funktion. Sie lösen oder vermeiden ein anderes, schwierigeres Problem. Welche Funktion könnten diese gegenseitigen Vorurteile haben?

Eine Funktion könnte die Reduktion von Unsicherheit und Komplexität sein: Durch die Anwendung von Vorurteilen können Menschen komplexe soziale Situationen vereinfachen und in leicht verständliche Kategorien einteilen. Auf der Grundlage von Stereotypen können sie Entscheidungen treffen und Handlungen ableiten, ohne sich mit der tatsächlichen Komplexität der Situation auseinandersetzen zu müssen. Dies kann dazu beitragen, Unsicherheit zu reduzieren und das Gefühl der Kontrolle zu erhöhen.

Eine zweite Funktion könnte der Schutz vor Verwundbarkeit sein: Indem sich jede Gruppe auf stereotype Vorstellungen von der anderen stützt, kann sie sich vor der potenziellen Verwundbarkeit schützen, die mit echtem Verständnis und echter Zusammenarbeit verbunden sein könnte. Diese Vorurteile können als eine Art Schutzmechanismus dienen, um sich emotional zu distanzieren und sich vor möglichen negativen Erfahrungen zu schützen.

In jedem Fall verhindert das Führen einer Richtig-Falsch-Debatte und die Unterstellung negativer Absichten eine echte Auseinandersetzung mit den Bedürfnissen anderer. Die Anerkennung positiver Absichten und legitimer Interessen würde bedeuten, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, wie diese Aspekte berücksichtigt werden können.

Teil dieses Prozesses könnte auch die Auseinandersetzung mit Selbst- und Fremdbildern sein. Und anzuerkennen, dass die Kritik nicht ganz unberechtigt ist. Das klingt nicht nur anstrengend, das ist es auch.

Zwischenfazit und Ausblick

Es tut mir weh, wenn sich Menschen in Auseinandersetzungen darüber verstricken, wer nun Recht hat oder stärker ist. Diese Kämpfe rauben Energie, die meiner Meinung nach besser für kreative Arbeit genutzt werden könnte. Aber wie kommen wir da raus? Habt euch alle lieb! Nein, das klebt im schlimmsten Fall eine dicke Schicht Zuckerguss über die noch vorhandenen Vorurteile und macht das gegenseitige Verstehen noch schwieriger.

Eine so geführte Debatte ist aus meiner Sicht der falsche Weg. Doch was könnte die Alternative sein? Und wie lässt sich die Wirksamkeit von agilem Coaching bewerten? Das erfahren Sie in Teil 2 des Beitrags.

 

Hinweise: 

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Peter Rubarth
Peter Rubarth

Peter Rubarth ist Systemischer Agile Coach und als Senior Agile Coach für die solarisBank AG tätig. Großartige Teams sind seine Leidenschaft. Seit nun mehr als 14 Jahren unterstützt er Teams und Organisationen dabei, sich zu finden, Hindernisse zu beseitigen und das volle Potential agiler Konzepte für sich zu realisieren.