Wertebasierte Führung: Taten statt Worte
Wie Sie Werte nicht nur kommunizieren, sondern wirklich leben
In einer Welt, die zunehmend von Komplexität, Vernetzung und Wandel geprägt ist, hat werteorientierte Führung in den letzten Jahren stark an Bedeutung gewonnen. Unternehmen, die ihre Werte klar kommunizieren und in ihrer Geschäftspraxis verankern, werden von Kunden und Mitarbeitenden zunehmend geschätzt. Doch trotz dieser wachsenden Relevanz gelingt es vielen Organisationen nicht, das volle Potenzial ihrer Werte auszuschöpfen. Warum ist das so?
Die Antwort liegt in einer oft übersehenen, aber eigentlich so naheliegenden Komponente: dem Transfer in die Praxis. So banal es klingt: Ohne ihn bleiben die besten Absichten und Strategien leere Worthülsen auf einem Poster mit Landschafts- oder Bergmotiv an der Wand der Kaffeeküche. Und es klingt geradezu absurd, dass die meisten Organisationen genau an diesem scheinbar so banalen Transfer in die Praxis grandios scheitern. Das ist fast so, als würde man sagen: Wir backen mit viel Tamtam und Engagement einen Kuchen, hängen ihn aber an die Wand, anstatt uns an seinem Geschmack zu erfreuen.
Die Verankerung von Werten
Immer mehr große und kleine Organisationen orientieren sich an (gesellschaftlicher) Verantwortung und verankern entsprechende Leitbilder. Diese nützen aber nur etwas, wenn sie in die Unternehmensziele sowie in die Personalstrategie integriert werden und durch die Umsetzung in Strukturen und Geschäftsprozesse auch den Weg in den Arbeitsalltag der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter finden. Dann haben Werte viel zu bieten. Sie
- schaffen Stabilität,
- erhöhen die Motivation,
- stiften Sinn und
- geben Orientierung.
Denn indem Werte das Leitbild und die Normen der Organisation prägen, werden sie zur Handlungsorientierung und prägen die Kultur der gesamten Organisation. So verankert, können sie eine Organisation in eine gemeinsame Richtung lenken. Vor allem dann, wenn sich die äußeren Bedingungen ständig ändern, was in der gegenwärtigen weltwirtschaftlichen Situation eher wahrscheinlich als unwahrscheinlich ist.
Werte sind daher sehr wertvoll und bergen ein großes Potenzial für die Organisation, ihre Mitarbeitenden und alle anderen Stakeholder.
Werte sind…
Warum aber sind Werte eher auf Plakaten oder als Videokonferenz-Hintergrund zu finden und nicht als echter Nordstern, der motiviert und verbindet?
Der Grund liegt darin, dass sie sich naturgemäß nur schwer von der Abstraktion in die Realität übertragen lassen. Denn Werte sind zunächst einmal abstrakt. Sie müssen es sein, sonst sind es keine Ideale. Toleranz, Erfolg oder Harmonie müssen abstrakt sein, um ihre Bedeutung und ihr erstrebenswertes Ideal zu behalten.
Außerdem sind Werte individuell. Jeder Mensch hat seine eigenen Ideale. Mehr oder weniger bewusst prägen sie unser Denken und Handeln, unsere Gefühle und unsere Motivation. Viele Konflikte zwischen Menschen – bis hin zu gewalttätigen Auseinandersetzungen – sind auf unterschiedliche Überzeugunen zurückzuführen. Als kleines Beispiel lade ich Sie ein, sich folgende Fragen zu stellen:
- Erinnern Sie sich an Ihren letzten Konflikt mit einer anderen Person? Fragen Sie sich, warum es zu diesem Konflikt gekommen ist.
- Fragen Sie sich noch einmal nach dem „Warum“ und gehen Sie eine Ebene tiefer.
- Wenn Sie jetzt noch eine Ebene tiefer gehen, werden Sie feststellen, dass Sie relativ schnell an einen Punkt kommen, an dem Sie sagen können: Ich hatte einen Konflikt mit einer anderen Person, weil dieser Person etwas anderes wichtig war als mir. Das hat unser Handeln und unsere Kommunikation bestimmt und letztlich zu dem Konflikt geführt.
Und da sind wir. Werte und ihre Interpretation sind individuell, zudem können sie nicht vorgegeben oder verordnet werden.
Das sinnstiftende Element der Werte kann nur unter Beteiligung der Betroffenen wirksam werden. Als der Soziologe Walter Böckmann Ende der 70er Jahre den Ansatz der sinn- und werteorientierten Führung entwickelte, schrieb er:
„Je besser die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter das ‚WARUM‘ verstanden und zu ihrem ‚WOFÜR‘ gemacht haben, desto motivierter werden sie sein, das ‚WIE‘ zu gestalten und notfalls auch zu ertragen.“ [1]
Gerade dieses „WIE“ ist letztlich handlungsleitend und damit entscheidend für das Potenzial von Werten in der Organisation. Auch wenn zwei Personen auf der Werteebene vielleicht sagen, dass sie sich beide zu „Toleranz“ bekennen, kann es sein, dass sie diesen im Alltag völlig unterschiedlich umsetzen:
Die eine Person kann die Lebensweise anderer akzeptieren, ohne aktiv zu werden, während die andere Person dieses Ideal erst dann wirklich für sich lebt, wenn sie aktiv wird. Transparenz bedeutet für die eine Person, alle Mahlzeiten in sozialen Netzwerken zu posten. Für die andere bedeutet es, die gesamte Lieferkette einer Organisation zu verfolgen und öffentlich zu machen.
Es ist also vor allem die Interpretation, also die Übersetzung der Werte auf die Kommunikations-/Handlungsebene, die individuell ist. Werte funktionieren aber nur, wenn die daraus abgeleiteten Normen ein einheitliches Verhalten in der Organisation erzeugen und nicht jeder sein eigenes Süppchen kocht.
Um einen Wildwuchs an individuellen Normen zu vermeiden, müssen diese von einer autorisierten Instanz überprüft werden. Eine inkonsequente Einführung oder „Verwendung“ von Grundsätzen kann schnell zu einer ablehnenden Haltung der Mitarbeitenden führen, weil es sich dann nur noch um Lippenbekenntnisse handelt. Auf diese Weise entstehen aber auch die besten organisationsinternen Meme, die viel Spaß machen, aber viel Potenzial verschenken.
Fazit: Werte…
- sind immer abstrakt und nicht zu befehlen.
- können auf der Handlungsebene nur individuell interpretiert werden.
- müssen aber gleichzeitig, um für die Organisation sinnvoll zu sein, in für alle geltende Normen übersetzt werden, die dann auch befolgt werden.
Hier beißt sich die Katze in den Schwanz, denn Werte kann man nicht verordnen. Richtig!
Was passiert häufig, wenn Organisationen werteorientierte Führung implementieren?
Ein Problem mit werteorientierter Führung liegt im Umgang vieler Organisationen mit dem Thema. Denn das, was sich Organisationen von einem Werteprozess erhoffen, scheitert oft an einer übereilten und unstrukturierten Umsetzung, die die Handlungsebene vernachlässigt. Der klassische Prozess:
- Top-Management gibt Werte vor und hält dazu eine Rede in der Townhall,
- Statements landen als Poster an der Wand und eine Kulturbibel wird erstellt,
- und die Kulturbibel verstaubt im digitalen Äther, derweil back to business as usual.
Vielleicht gibt es anschließend auch den Versuch, die Werte in eine Organisationskultur zu überführen. So wird im Abstand von einigen Monaten immer mal wieder auf das Poster an der Wand gezeigt. Und manchmal machen sich Führungskräfte auf eigene Faust daran, die Werte in ihrem Team umzusetzen. Da dies aber nicht zentral koordiniert wird, kommt es bei der Übersetzung auf die Handlungsebene zu sehr unterschiedlichen Interpretationen der Werte (s.o.). Es entsteht eine gespaltene Unternehmenskultur. Jeder ist ein bisschen „Lost in Translation“, weil jede Subkultur aus den Werten ihre eigene Kultur geschaffen hat. Und wenn übergreifend zusammengearbeitet werden soll, spricht niemand dieselbe Sprache. Erwartungen werden enttäuscht und Spannungen können entstehen, die sich zu handfesten Konflikten auswachsen. Am Ende versanden gemeinsame Projekte oder kommen bestenfalls nur schleppend voran. Und das alles nur, weil nach der Kommunikation der Werte keine konsequente Umsetzung in das tägliche Handeln erfolgt.
Scheinbar trivial, aber mit gravierenden Folgen für alle Organisationsmitglieder.
Und wie funktioniert die Implementierung deutlich besser?
Ganz einfach: Unternehmenswerte können ihre Magie nur entfalten, wenn sie zum Anliegen von Mitarbeitenden und Führungskräften werden. Das geht nur, wenn nicht zu viele Ideale auf einmal umgesetzt werden sollen und die Mitarbeitenden sie auch für gut, wichtig und erstrebenswert halten.
Wertearbeit muss daher Teil der Führungsarbeit werden – eingebettet in den Führungsprozess (Erwartungsmanagement – Erwartungskommunikation, Beobachtung und Förderung, Entwicklungsgespräche und Konsequenzen…). Dabei muss die einzelne Führungskraft nicht nur eine sinnvolle Übersetzung in die Strukturen und Prozesse der Mitarbeitenden leisten, sondern den Raum, in dem die Werte in konkretes Handeln übersetzt werden, gemeinsam mit den Mitarbeitenden mit Leben füllen. Denn Werte vorgeben funktioniert nicht. Es braucht Freiräume und die Beteiligung der Mitarbeitenden, um Werte von abstrakten Themen in den Arbeitsalltag zu übersetzen. Durch die wiederholte Auseinandersetzung mit wertekonformem Verhalten lernen Führungskräfte und damit auch die Mitarbeitenden, die Werte in ihr Handeln zu übersetzen.
Diese Auseinandersetzung nach innen sollte sich im besten Fall auch in der Strategie der Organisation niederschlagen.
Es klingt so einfach, aber es macht einen Unterschied, auch als Führungskraft Verhaltensänderungen umzusetzen und die Werte im Alltag sichtbar zu leben. Dies dann mit den Kundenwerten zu synchronisieren und in die Geschäftsprozesse und Strategien zu implementieren, macht diesen Prozess erst richtig erfolgreich. Denn so kann die Wertschöpfung mit den Kunden auf allen Ebenen umgesetzt werden.
Alle Werte auf einmal umzusetzen, führt zu Konflikten und Frustration, da niemand mehrere Verhaltensänderungen gleichzeitig umsetzen kann. Die Umsetzung der Werte muss, wie jede Verhaltensänderung, schrittweise und allmählich erfolgen. Besser ist es, die Werte als Grundlage für die Entwicklung von Standards zu nutzen und sie so auf eine anwendbare Ebene zu bringen. Und sie dann gemeinsam mit der Organisation und den Kunden aktiv weiterzuentwickeln. Stattdessen einfach immer mehr Werte zu sammeln, ohne sich von einigen zu trennen, führt zu einer mangelnden Fokussierung und ermöglicht es den Mitarbeitenden nicht, sich im Alltag an den Werten zu orientieren.
Erste Maßnahmen können hier sein:
- HR und BR von Anfang an in die Entwicklung einbeziehen, um die Anschlussfähigkeit der Werte an die HR-Instrumente zu gewährleisten.
- Führungskräfte auf einer tieferen Ebene mit den Werten konfrontieren:
Was bedeuten die Werte für mich und mein Team im Arbeitsalltag?
Welchen Werten messen wir mehr oder weniger Bedeutung bei?
Was sage ich, wie handle ich, wie ist mein Führungsverhalten entlang der Werte?
Was muss ich selbst an meinem Verhalten ändern, um die Werte zu leben?
- Werte in Ziele übersetzen, aber sprachlich getrennt halten
Werte: Wir verpflichten uns…
Ziele: Wir wollen…
- Individuelles Coaching zum Transfer der Werte in den eigenen Alltag
Coach fungiert als Spiegel und Unterstützer bei der Umsetzung
- Workshops zur Umsetzung der abstrakten Werte in Handlungen, Kommunikationsregeln und Prozesse gemeinsam mit Führungskraft und Team
- Austausch der Führungskräfte untereinander über diese Ergebnisse im Hinblick auf
Wo interpretieren wir gleich?
Wo haben wir unterschiedliche Interpretationen?
Wo gibt es Konfliktpotenzial, wenn unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter danach handeln?
- Schulungen und Seminare
Führungskräfte brauchen einen sicheren Raum, in dem sie neue Verhaltensweisen im Einklang mit den Werten einüben können. Dort können sie auch ihre gewohnten Praktiken reflektieren und sich mit Kolleg/innen darüber austauschen.
- Townhalls und Großgruppenveranstaltungen – erzeugen Energie für solche Prozesse; Führungskräfte zum „Einsteigen“ einladen; Kohärenz sicherstellen (warum, was, wie, wofür).
Fazit
Werte haben ein großes Potenzial, sehr nützlich für die Organisation und ihre Mitglieder zu sein, aber sie müssen strukturiert in die Organisation getragen werden. Ohne die Einbindung und Mitwirkung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei der Umsetzung in das tägliche Handeln funktioniert dies nicht. Die Führungskräfte müssen sich intensiv mit den Werten auseinandersetzen und die Konsequenzen für ihr Handeln, ihre Kommunikation und ihre innere Haltung diskutieren und daraus Normen ableiten und einhalten. Unsere Erfahrung zeigt, dass Menschen grundsätzlich motiviert sind und gute Ergebnisse erzielen wollen.
Damit dies gelingt, müssen jedoch bestimmte Rahmenbedingungen stimmen. Dazu gehört eine gelebte Wertewelt, in der sich jeder wiederfinden kann. Diese wird stark von den Führungskräften geprägt, die sie in die Organisation tragen. Doch die Verankerung der Werte bei den Führungskräften allein reicht nicht aus. Es bedarf eines Prozesses, der ihnen immer wieder die Möglichkeit gibt, diese Werte bewusst in den Arbeitsalltag einzubringen und Maßnahmen zu ergreifen, die diese Werte lebendig werden lassen. Wie beschrieben, gibt es dafür viele gute Hebel. Es braucht aber auch eine Instanz, die diesen Veränderungsraum hält und dafür sorgt, dass die Erfahrungen immer wieder in Resonanz in die Organisation zurückfließen. Dann können Werte auch der Nordstern sein, der nicht nur in der Kaffeeküche leuchtet.
Hinweise:
[1] Böckmann, Walter (1984): Wer Leistung fordert, muss Sinn bieten. Econ, Düsseldorf
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Leonie Heiß hat einen weiteren Beitrag im t2informatik Blog veröffentlicht:
Leonie Heiß
Leonie Heiß ist Senior Agile Coach bei Chili & Change und begleitet Teams und Organisationen in Veränderungsprozessen von der Teambildung bis zur Strategiefindung.
Ihre zentralen Themen sind dabei Selbstorganisation, Digitalisierung und Innovation mit einem Fokus auf die nachhaltige Veränderung der Zusammenarbeitsstrukturen aus der systemischen Perspektive.
Die Bandbreite ihrer Methoden reicht von Design Thinking bis Corporate Foresight und der Einsatz erfolgt pragmatisch und nach dem Motto “alle Modelle sind falsch, manche sind hilfreich”.