Was verhindert Kreativität bei der Anforderungserhebung?

Gastbeitrag von | 17.08.2018

Im Requirements Engineering sollte es gelegentlich auch kreativ zugehen. Es wäre schade, wenn man ein umfangreiches Budget investiert, nur um das Altsystem in einer schnelleren Fassung exakt nachzubauen – samt seinen Mängeln. Die Migration auf eine neue Technologie oder die umfangreiche Erweiterung eines IT-Systems stellt die Chance dar, die Arbeit der Benutzer effizienter und angenehmer zu gestalten oder sogar mit innovativen Features positiv zu überraschen. Mangels Kreativität bleibt diese Chance oft ungenutzt.

Fehlendes Budget für einen Kreativitätsworkshop oder Zeitdruck werden gerne als Vorwand vorgeschoben. Angst vor der Kreativität ist aber auch dabei. Wer schon einmal eine Gruppe von Menschen dazu bringen wollte, kreativ zu werden, spürt starke Blockaden.

Wenn man weiß, dass mit der 635-Methode sechs Personen in 30 Minuten 108 Ideen erzeugen können und bedenkt, dass eine Kreativitätssitzung auch als teambildende Maßnahme und / oder zur Auflockerung eines mehrtägigen Workshop-Marathons genutzt werden kann, dann erscheint das Kostenargument als wenig schwerwiegend. Das Hauptproblem liegt in der Angst vor der Kreativität bzw. deren Folgen.

Der Moderator eines Kreativitätsworkshops kann und muss folgenden Ängsten aktiv entgegenwirken:

Die Angst vor dem leeren Blatt

Ganze Romane erzählen von der Angst des Autors vor dem leeren Blatt und vor der Schreibblockade. Allein die Befürchtung, einem könne nichts einfallen, kann Ideenflüsse ausbremsen.

Dagegen gibt es mehr als ein Mittel und bei hartnäckigen Leeres-Blatt-Phobikern kann man gerne mehrere davon einsetzen:

  • Man denkt sich nichts Neues aus, sondern startet vom Altsystem und verbessert es inkrementell. Es ist durchaus möglich, während dieser seriösen, ingenieurmäßigen Vorgehensweise auch ganz neue Ideen zu haben. Als Kreativitätstechnik gilt dies jedoch mit Recht nicht.
  • Der Moderator macht erste Vorschläge. Dann ist das Blatt nicht mehr leer. Den meisten Menschen fällt es leichter, erste Anstöße anderer weiterzuspinnen als selbst etwas aufs leere Blatt zu schreiben.
  • Menge geht über Qualität: Es gilt zu betonen, dass man möglichst viel Material sammeln will. Je mehr Ergebnisse zusammenkommen, umso mehr Goldkörner werden sicher mit dabei sein. Der Rest wird später weggesiebt. Kein Problem!
  • Ideen werden nicht in Stein gemeißelt: Die Kreativität fließt leichter, wenn man sich bewusst ist, dass alle Ideen nur erste Entwürfe sind. Sie werden später noch geprüft, verfeinert und verbessert. Gerade zunächst unrealistisch erscheinende Ideen können bei Tageslicht betrachtet als Anstoß für eine nützliche Innovation dienen. Gesammelt wird während der Kreativitätssitzung nur grobes Rohmaterial. Also locker ans Werk!

 

Die Angst vor Kritik aus der Gruppe

Die Angst vor Kritik ist besonders dann berechtigt, wenn man in einer Gruppe von Menschen kreativ zu arbeiten versucht, die einander schon lange kennen, z. B. ein eingespieltes Team in einer Firma. Bei Fremden benimmt man sich ja üblicherweise anständig, aber wenn sich die Teilnehmer zu gut kennen, gibt es keine Hemmungen, oft sogar konkrete Gründe (Konkurrenz, Feindschaft, Rache), die Ideen anderer bewusst destruktiv zu kommentieren und schlimmstenfalls auch deren Autor persönlich zu beleidigen. Die schon bestehende Hackordnung muss auch bei der harmlosesten Übung eingehalten werden, und das obwohl gerade die Stillen, Nachdenklichen, Langsamen die besten Ideen ausbrüten.

Leider kann man sich seine Teilnehmer nicht vollständig aussuchen, aber solch eine Gruppe sollte man vermeiden. Besser man setzt – weil bei verschiedenem Kenntnishintergrund die Teilnehmer einander besser inspirieren – Mitarbeiter aus verschiedenen Abteilungen zusammen. Das mildert hoffentlich auch ungesunde Gruppendynamik. Hat der Moderator ein eingespieltes destruktives Team erwischt, wird sein Job hart. Er muss unbedingt auf den Regeln beharren: Kritik ist grundsätzlich während der Phase der Ideensammlung verboten, nur in der Bewertungsphase erlaubt und auch hier hat sie sachlich zu bleiben, sich also auf die Idee und nicht die Person zu beziehen, und außerdem gut begründet oder begründbar zu sein. Unsachliche Kritik und Kritik zur falschen Zeit muss der Moderator ahnden, sonst entwickelt sich eine Stimmung, in der die Teilnehmer/innen zu Recht ihre Ideen für sich behalten, weil sie sich damit verletzlich machen. Leider kann der Moderator nur schwer leises Stirnrunzeln und Augenrollen verhindern.

Hilfreich sind auch schriftliche Methoden, bei denen jeder Teilnehmer in Ruhe seine Gedanken sammelt und niederschreibt. Ein richtig schlechtes Team schafft es jedoch sogar dann noch, die Kontemplation der anderen zu stören, in dem der Möchtegernanführer anderen ihr Blatt während des Schreibens unter dem Stift wegzieht, laut deren Notizen vorliest und veralbert. Möglich ist auch, dass Zeitdruck aufgebaut wird, indem Blätter zu früh weitergegeben werden oder jemand nach der halben Zeit verkündet, er sei fertig, wie es mit den anderen stehe. Hier muss der Moderator die Denkzeit der Teilnehmer unbedingt schützen. Ein Kreativitätsworkshop ist kein Wettbewerb, sondern eine gemeinsame Übung.

In einer Gruppe von einander fremden Personen, fällt es leichter, freundlich und konstruktiv kreativ zu arbeiten. Allerdings gibt es Teilnehmer, die gezielt jede Chance nutzen, um sich in der neu zusammengestellten Gruppe als Anführer zu etablieren. Was auch immer sie sagen, dient ihrer Selbstdarstellung und der Konkurrenz gegen die anderen Gruppenmitglieder oder sogar den Moderator. Hier ist disziplinierte Strenge angesagt, die Führung der Gruppe muss in den Händen des Moderators bleiben. Es darf auf gar keinen Fall eine Atmosphäre entstehen, in der es nicht um die Sache, sondern um die Macht geht. Ein Störer muss entweder zur Ordnung gebracht oder entfernt werden. Nutzlos verhallt ein sachlicher Hinweis auf „Wir wollen bei der Sache bleiben“ und „Bitte halten Sie sich an die Regeln“, wenn der Provokateur absichtlich stört. Oft lässt sich mit mehr oder weniger harmlosem Humor die Situation retten. Dem Störer muss klar werden, dass er mit seinem unsachlichen Ablenken seinen sozialen Status nicht hebt, sondern senkt. Ansonsten: vor die Tür mit ihm!

Die Angst vor dem Moderator

Natürlich dürfen die Teilnehmer/innen auch den Moderator der Sitzung nicht fürchten müssen. Wenn sie bei jeder Idee mit ängstlichem Blick auf den Kommentar des Moderators warten, dann ist etwas schiefgelaufen. Der Moderator selbst darf Ideen natürlich auch nicht kommentieren, nur lobend notieren. Und er triggert durch Nachfragen weitere Ideen an oder treibt eine Konkretisierung der Idee voran. Er geht kommunikativ als leuchtendes Vorbild voran, indem er Kritik in der falschen Phase vermeidet und zur rechten Zeit konstruktive Kritik übt. Die Gruppe achtet genau auf seine Worte und ahmt ihn nach.

Leider widerspricht sich die Netter-Onkel-Strategie (oder nette Tante) mit dem im vorigen Abschnitt genannten Führungsanspruch des Moderators. Hat er einen Störer wegen Fehlverhalten gemaßregelt, fürchten ihn die Teilnehmer anschließend, außer er kann transparent machen, welche Regel der Störer verletzt hat. Sinnvoll kann es jedoch sein, im Kreativitätsworkshop zwei Moderatoren einzusetzen: den Good Guy, der alle Ideen toll findet und die Teilnehmer inspiriert, und einen Bad Guy, der streng auf die Einhaltung der Regeln pocht und notfalls mit einem Störer vor die Türe geht, während die anderen weiterarbeiten.

Die Angst vor Fehlern

Alles was man sagt, könnte ja potenziell falsch sein oder negative Folgen haben, die man nicht bedacht hat. Vielleicht wird durch eine schlechte Idee die gesamte Firma ruiniert? Oder die eigene Karriere? Vielleicht muss man sich nachher noch zwölf Jahre lang anhören, was für einen unbedachten Vorschlag man damals einbrachte? In manchen Firmenkulturen passiert das ganz schnell!

Der Moderator muss klar machen, dass die Gefahr, bei der kreativen Sitzung Fehler gar nicht möglich sind. Jede Idee kann nützlich werden. Später im Workshop oder danach werden die Ideen von Experten auf Herz und Nieren geprüft werden, Machbarkeitsuntersuchungen, Kostenschätzungen und Einflussanalysen durchgeführt. Derart gefiltert und verfeinert kommen nur die besten Ideen in die Umsetzung.

Bewährt hat sich in diesem Fall, die Frage umzudrehen. Wenn den Teilnehmern schon nicht einfällt, wie sie die Software schöner machen können, dann fällt ihnen – gerade weil sie so viele negative Szenarien im Kopf haben – ganz sicher ein, wie man die Software zerstören könnte. Brainstorming Paradox heißt das, aber auch jede andere Kreativitätstechnik kann mit einer auf den Kopf gestellten Arbeitsfrage starten. Die Schwarzseher haben ihren Spaß daran und müssen nicht fürchten, dass die Katastrophen, die sie sich ausdenken, so umgesetzt werden. Sie dienen dazu, Fehler gerade zu verhindern.

Um sich auch im kreativen Prozess sicher zu fühlen, kann man auch systematisch vorgehen. Viele Methoden des Requirements Engineerings oder der Risikoanalyse bieten einen guten Rahmen für ein schrittweises Vorgehen mit konkreten Arbeitsfragen und für zielgerichtete Kreativität.

Und ohne Angst fließen die Ideen?

Stellen wir uns vor, der Moderator erschafft eine angstfreie Atmosphäre, die Gruppe fühlt sich wohl … Fließen jetzt die Ideen automatisch? Meistens schon! Allerdings darf es auch nicht ins Gegenteil umschlagen und die Stimmung zu ausgelassen werden. Viele, laute, unrealistische Ideen sind in Ordnung. Aber bei fehlender Disziplin kommt man zu schnell vom Thema ab und das sollte nicht passieren. Darum sind natürlich das A und O der Moderation eine klare Arbeitsfrage, eine Agenda und ein strenger Zeitplan, gerne auch eine Methode, die die Teilnehmer Schritt für Schritt anleitet. Natürlich wird eine kreative Gruppe gerne auch Ideen zum Ablauf äußern („Können wir den Workshop nicht in den Garten verlegen?“ „Nehmen wir uns hierfür doch zehn Minuten mehr Zeit!“ „Warum notieren wir das nicht auf der grünen Tafel statt auf dem Flipchart?“). Alles bestens, solange das Ziel des Workshops erreicht wird!

Kurz und knapp: Der Moderator eines Kreativitätsworkshops balanciert immer auf dem schmalen Grat zwischen Angst und Spaß, Kontrolle und Loslassen.

 

Hinweise:

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Auch im t2informatik Blog hat Dr. Andrea Herrmann weitere Beiträge veröffentlicht, u. a.

t2informatik Blog: Agiles Requirements Engineering

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t2informatik Blog: Die größten Hindernisse im Requirements Engineering

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t2informatik Blog: Missverständnisse im Requirements Engineering

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Dr. Andrea Herrmann
Dr. Andrea Herrmann

Dr. Andrea Herrmann ist seit 2012 freiberufliche Trainerin und Beraterin für Software Engineering. Sie hat mehr als 28 Berufsjahre in Praxis und Forschung.

Frau Dr. Herrmann war zuletzt als Vertretungsprofessorin an der Hochschule Dortmund tätig, sie hat mehr als 100 Fachpublikationen veröffentlicht und hält regelmäßig Konferenzvorträge. Sie ist offizielle Supporterin des IREB-Board, sowie Mitautorin von Lehrplan und Handbuch des IREB für die CPRE Advanced Level Zertifizierung in Requirements Management.