Von „Setzen, sechs“ zur Fehlerkultur?
Immer wieder sprechen wir über die Notwendigkeit einer Fehlerkultur in Unternehmen, doch was verstehen wir eigentlich darunter? Meinen wir wirklich Fehler, die durch menschliche Hand entstehen können? Soll wirklich etwas falsch laufen? Oder wollen wir durch eine “Einführung” Mitarbeiter motivieren, auch einmal mehr zu wagen? Wer sagt uns, wann wir einen Fehler gemacht haben? Riskieren wir dadurch nicht mehr, als wenn es einfach klare Regeln geben würde? Wer wiederum entscheidet, was unumstößlich und richtig ist?
“Kultur bezeichnet im weitesten Sinne alles, was der Mensch selbst gestaltend hervorbringt.“ So die vermeintlich einfache Einleitung in die Definition von “Kultur” in Wikipedia. Das hört sich zunächst völlig positiv an. Fehler sind aber in unsere Gesellschaft von Beginn an negativ besetzt. Und jetzt sollen beide Dinge zusammengebracht werden, um “mehr” zu erreichen?
Wie lernen wir, was ein Fehler ist?
Das offensichtliche Beurteilen von falsch und richtig beginnt mit den ersten Erziehungsmaßnahmen. Wir lassen unsere Kinder nicht auf die heiße Herdplatte fassen, damit sie merken, ob das falsch oder richtig ist. Wir wissen um diesen Fehler und haben darum Regeln. In der Grundschule gibt es bunte Stempel für das Null Fehler Diktat, später ein Sehr gut für die Null Fehler Mathearbeit. Eine Ehrenurkunde gibt es für den perfekten Absprung auf und nicht neben der Linie an der Sandgrube und ins Team wird gewählt, wer Tore schießt. “Nicht aus der Reihe tanzen” – darauf ist unser gesamtes Bildungssystem ausgelegt. Die langsamen Gehversuche Richtung Inklusion zeigen ja, wie schwierig es ist, Menschen mit vermeintlichen “Fehlern” nicht frühzeitig aus dem System auszusortieren. Wir leben in einer Gesellschaft, in der Menschen an ihren Leistungen und Erfolgen gemessen und für ihre Niederlagen verurteilt werden.
Und jetzt sollen wir – im fortgeschrittenen Alter und nach all dieser Prägung – plötzlich Fehler machen, uns entfalten und uns ausprobieren?
Fehler im Job
Wenn wir von Fehlern im Arbeitskontext sprechen, meinen wir meistens menschliche Fehler. Der Kollege X hat wieder vergessen etwas abzuspeichern, die Kollegin Y hat die falsche Rechnung verschickt und Kollege Z hat eine Deadline vergessen. Das alles sind klassische “Fehler”. Man wird vermutlich sagen, dass es auf den ersten Blick nicht schlimm ist – diese „Fehlerchen“ passieren doch täglich im daily business. Genau, auf den ersten Blick sind das keine großen Fehler. Aber es sind eben die, die nicht passieren sollten, weil sie
a. das Unternehmen kein Stück weiterbringen,
b. aus Unachtsamkeit resultieren und aufgrund unsere Erahrungswerte vermieden hätten werden können,
c. schädlich für das Geschäft sind. Wenn eine Datei nicht abgespeichert wird und man keinen Zugriff mehr auf die Daten hat, ist dies unternehmensschädlich. Wenn eine Deadline für ein großes Projekt nicht eingehalten wird und dadurch Kosten für Zulieferer und Kunden entstehen, ist dies ebenfalls schädlich.
Was also meinen wir dann mit einer Fehlerkultur?
Und noch ein Einwand: Darf/muss sie in jeder Branche existieren?
Wenn ein Chirurg in der OP am offenen Herzen einen Fehler macht, in seiner ganzen Laufbahn ist ihm aber sonst noch nie ein Fehler unterlaufen – sagen wir dann auch “kann passieren – weitermachen”? Das Beispiel mag für den ein oder anderen makaber oder nicht geeignet sein. Wir meinen: doch!
Genau solche Beispiele zeigen, dass neues Arbeiten nicht wahllos Buzzwords und neue Methoden zum Postulat erhaben darf, um dann zu glauben, eine neue Unternehmenskultur geschaffen zu haben. Einfach mal eine Fehlerkultur auszurufen ist genauso sinnlos wie das Aufstellen des Tischkickers: es ändert nichts an den grundlegenden Einstellungen.
Was passiert in einem Unternehmen, wenn die Führungsriege wechselt und das Kind des Chefs die Unternehmensleitung übernimmt, obwohl er keine Ahnung vom Business und Management? Was passiert, wenn er lediglich gut Geld ausgeben und in Märkte investiert, die nicht zum Unternehmen passen? Wenn er die Ratschläge der Mitarbeiter ignoriert, er lieber gegen alle Regeln spielen und alles etwas mutiger angehen möchte? Ein Jahr später: Insolvenz. 200 Mitarbeiter verlieren ihren Job und stehen auf der Straße, Existenzsicherung verloren. In dem Moment ist auch der Unternehmer Chirurg mit Verantwortung für Menschenleben.
Zugegeben, hier haben wir gerade zwei extreme Beispiele überspitzt.
Testumgebung & Innovationskultur
Nicht umsonst leisten sich Konzerne Think Tanks, Inkubatoren oder Labs, in denen sie neue Techniken, neue Arbeitsmethoden und Innovationen testen. Geschützte Räume, die Fehler erlauben ohne Wirkung auf das Gesamtunternehmen. Ist das besser, als die OP am lebenden Objekt? Arbeiten dann in diesen Keimzellen Versuchskaninchen und weiße Mäuse? Nicht ganz so extrem vielleicht, aber es zeigt, wie vorsichtig wir mit dieser Fehlerkultur umgehen (müssen). Allerdings hilft die Testumgebung nur bedingt weiter, denn der Schritt vom Labor in die reale Arbeitswelt kann nicht völlig ohne Risiko ablaufen – irgendwann müssen Mut und die Möglichkeit des Scheiterns kalkuliert werden, um Erfolg und Fortschritt zu ermöglichen.
Abgesehen davon, dass sich viele mittelständische Unternehmen einen Think Tank aus Ressourcenmangel gar nicht leisten können, dauert es oftmals auch zu lange, jedes neue Projekte erst zu perfektionieren, bevor es auf dem Markt und am Kunden getestet werden kann. Die Digitalisierung zwingt uns auch aufgrund der Geschwindigkeit und der Komplexität zu Fehlern. Sie zwingt uns, uns zu irren und risikoaffiner zu werden – sonst würden bspw. keine finanziellen Mittel für eine notwendige Ausstattung, eine Optimierung oder Ressourcen freigeben.
Fehler, Irrtum, Scheitern, Misserfolg, Lapsus…
Wir wollen uns nicht in sprachlichen Kleinigkeiten verlieren – erstaunlicherweise gehen wir aber mit unsere eigenen Sprach oft FALSCH um – wir verwenden die vielen möglichen Begriffe alle synonym – sogar mit “Genehmigung” durch den Duden. In einer Fremdsprache lernen wir Feinheiten zwischen Begriffen oft besser kennen – denn im Englischen zum Beispiel wissen wir vielleicht, dass „mistake“ ein Fehler (obwohl man es besser wissen müsste) und „Error“ der Fehler aus Unwissen ist.
Wir müssen genau hinschauen, was wir zulassen und was damit erreicht werden soll. Fehlerkultur bedeutet nicht, dass viel falsch läuft und es bedeutet auf keinen Fall einen Freifahrtschein für Blindheit, Schusseligkeit, mangelnde Absprache und fehlende Vorbereitung. Sie fordert Mut, Neues auszuprobieren und das Risiko in Kauf zu nehmen, zu scheitern. Aber unter Beachtung erprobter Prozesse. Man darf den selben Fehler keinesfalls mehrmals machen. Dann tritt man auch auf der Stelle. Und die Fehlerkultur fordert die Auseinandersetzung mit den Konsequenzen von Irrtümern – zeitlich, finanziell, organisatorisch. In der Interpretation eines negativen Ereignisses liegt der Schlüssel, um zufrieden damit weiterleben zu können, um daraus zu lernen und neue Versuche zu entwickeln. Teams müssen wissen, was passiert, wenn sie scheitern, damit eine vertrauensvolle Umgebung entsteht. Quasi eine etablierte Laborumgebung.
Lernen, es richtig zu machen?
Was wir eigentlich brauchen ist eine Lernkultur – beim Lernen macht man Fehler, übt, trainiert und versucht sich zu verbessern. Dabei erfindet man für sich neue Prozesse und Arbeitswege. Genau aus diesem Grund macht übrigens eine KI genau so viele Fehler, wie wir selbst – denn sie wurde ja von Menschen entwickelt und durch uns trainiert. Sie macht eins aber nicht: Flüchtigkeitsfehler aus Unachtsamkeit. Das kann sie nicht, denn sie lernt nur im Rahmen der vorgegebenen Möglichkeiten. Hier liegt unsere Chance. Wir können auf neuen Wegen lernen, “Out of the Box”, kreativ. Wir können Prozesse grundlegend umgestalten, verwerfen, neu erfinden. Im Vertrauen darauf, dass wir das im Sinne des Unternehmens und des Erfolgs dürfen.
Und damit wäre das unser Wunsch für Unternehmen: Eine Lernkultur, die Zeit gibt eigene Lernmuster und -verhalten auszuprobieren. Damit wir etwas Neues gestaltend hervorbringen: unsere Unternehmenskultur.
PS: Leider hilft uns weder bei Lern- noch bei Unternehmenskultur irgendeine Definition so richtig weiter – da werden wir wohl jeder für uns individuell und dauerhaft dran arbeiten müssen …
Hinweise:
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Auf doppel[t]spitze.de finden Sie interessante Informationen zu den beiden Autoren Julia Collard und Sven Schnitzler. Sehr lesenswert ist auch ihr bekannter Digital Blog.
Julia Collard und Sven Schnitzler haben einige weitere Beiträge im t2informatik Blog veröffentlicht, u.a.:
Julia Collard & Sven Schnitzler
Julia Collard und Sven Schnitzler sind Doppel[t]spitze. Netzwerken & Lernen sowie der persönliche und virtuelle Austausch von Wissen sind ihre Leidenschaften. Als Wissensnetzwerker machen sie Meinungen, Menschen, Unternehmen und deren Arbeit sichtbar. Innovatives Arbeiten bedeutet dabei, dass sie ohne Machtspiele & Konkurrenzdenken auskommen und die individuelle Leistung, die Anstrengungen und die Ideen im Vordergrund stehen.
Doppeltspitze heißt, dass Julia und Sven im Tandem in ihrer Agentur innovative und praktische Online-Marketing-Konzepte entwickeln und umsetzen. Eine klare Marketingstrategie ist der Schlüssel zum Erfolg. Im Mittelpunkt stehen immer Menschen und ihre Geschichten. „Teil deine Story“ kann so viel aussagen – Storys verbinden Menschen, Unternehmen und Abteilungen. Sie machen sichtbar und wirken. So leben Julia & Sven Marketing.