Software Engineering im KI-Zeitalter

Gastbeitrag von | 21.07.2025

Wie verändert sich die Rolle des Software Engineers im Zuge von Künstlicher Intelligenz?

Die Automatisierung von Arbeit ist kein neues Phänomen. Seit Jahrhunderten träumen wir Menschen davon, dass uns Maschinen monotone oder gefährliche Aufgaben abnehmen. Lange Zeit betraf dies vor allem körperliche oder klar automatisierbare Tätigkeiten, die sich durch Regeln beschreiben lassen. Heute jedoch, im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz (KI), erreicht dieser Wandel auch die intellektuelle Arbeit. Was bedeutet das für die Softwaretechnik? Welche Aufgaben übernimmt künftig die Maschine, und welche bleiben uns Menschen vorbehalten?

Im Folgenden zeichne ich die Umrisse einer neuen, sich wandelnden Berufsrolle. Die Rolle des Software Engineers wird nicht ersetzt, sondern neu definiert.

Software Engineering im Wandel durch Künstliche Intelligenz

Software Engineering war lange geprägt von menschlicher Disziplin, Systematik und klar strukturierten Prozessen, so wie es im IEEE-Standard 610.12 beschrieben wird: „… a systematic, disciplined, quantifiable approach to the development, operation, and maintenance of software; that is, the application of engineering to software.“ Doch diese Arbeit verändert sich derzeit grundlegend. KI-Modelle wie ChatGPT, Copilot oder AlphaCode sind nicht nur Werkzeuge, sondern handeln als Ko-Produzenten und Partner bei der Erstellung, Prüfung und Optimierung von Softwareartefakten.

Das hat weitreichende Folgen für Prozesse, Aufgaben, benötigte Fähigkeiten, Rollenbilder und auch für die Ausbildung zukünftiger Software Engineers.

Künstliche Intelligenz erleichtert die Automatisierung im Software Engineering

Die Automatisierung in der Softwaretechnik hat lange vor dem Aufkommen moderner KI begonnen. Schon seit Jahren unterstützen Tools die Extraktion von Anforderungen aus Dokumenten, das Reverse Engineering von Altsystemen, die modellbasierte Entwicklung und automatisierte Codeerzeugung. Ebenso sind regel- und kennzahlenbasierte Code-Analysen, modellbasiertes Testen und Testautomatisierung längst etabliert.

Mit der Einführung leistungsfähiger KI-Modelle verändert sich jedoch, wie viel Autonomie und Flexibilität Automatisierung heute leisten kann. Systeme übernehmen nun auch Aufgaben, die bisher nicht rein regelbasiert beschrieben werden konnten. Die KI kann

  • Stakeholder-Analysen und Kontextbeschreibungen erstellen,
  • innovative Anforderungen vorschlagen, Freitext in User Storys umwandeln oder Spezifikationen verbessern,
  • Prototypen und Skizzen für Benutzeroberflächen entwerfen,
  • Code und Testfälle generieren und
  • Reviews mithilfe von Prüfungen unterstützen.

Ein Blick auf die typischen Aufgaben im Software Engineering zeigt, welche Potenziale diese Entwicklung birgt. Zu den klassischen Aufgaben gehören:

  • Anforderungsermittlung
  • Anforderungsdokumentation
  • Anforderungsreview
  • Architekturentwurf
  • Programmieren
  • Testen
  • Dokumentenmanagement
  • Konfigurationsmanagement

Ohne KI konnten davon bisher vor allem das Programmieren (Codeerzeugung), Testen und Konfigurationsmanagement automatisiert werden. Mit KI lassen sich nun fast alle Bereiche zumindest in Teilen automatisch unterstützen, nur die eigentliche Anforderungsermittlung bleibt überwiegend beim Menschen.

Dennoch gilt: Jedes KI-Ergebnis ist nur ein Entwurf oder Vorschlag. Erst durch die Prüfung, Anpassung und Qualitätssicherung durch Software Engineers wird daraus ein verlässliches Arbeitsergebnis.

Ein Beispiel zum Nachspielen

Versuchen Sie es doch mal selbst mit einem beliebigen generativen KI-Modell, beispielsweise mit ChatGPT, und einem Anwendungsbeispiel Ihrer Wahl: „Bitte erstelle mir den Prototypen einer Benutzeroberfläche für eine mobile To-Do-Listen-App in Ascii-Format.“

Anmerkung: Auch Html-Format funktioniert gut, nur grafische Benutzeroberflächen sind noch nicht ausgereift.)

Als Ergebnis lieferte mir chatGPT:

ChatGPT-Dialog zur Prototypenerstellung

Der nächste Prompt kann lauten: „Welche weiteren Benutzeroberflächen benötigt diese Anwendung?“

Oder: „Bitte schreibe mir User Storys für die To-Do-Listen-App.“

Genauso können Sie sich Code und Testfälle erstellen lassen.

RACI-Matrix des Software Engineering ohne und mit KI

In einer RACI-Matrix kann man darstellen, welche Rollen im Softwareentwicklungsprozess welche Aufgaben übernehmen. Tabelle 1 stellt einen typischen Software Engineering Prozess ohne KI dar und Tabelle 2 mit KI.

Die Rolle des Software Engineer umfasst hier als Sammelbegriff Tätigkeiten von Requirements Engineers, Architekten, Entwicklern und Testern.

Projektmanager:in oder Scrum Master Requirements Engineer oder Product Owner Architekt:in Entwickler:in Tester:in Benutzer:in KI
Anforderungsermittlung und Review A R C
Anforderungsdokumentation A R I I I Q
Architekturentwurf A R Q Q
Programmieren A C R Q
Testen A C R Q

 

Tabelle 1: RACI-Matrix ohne KI. Die Buchstaben bedeuten: R = responsible, A = accountable, C = consulted, I = informed, Q = quality assurance

Projektmanager:in oder Scrum Master Requirements Engineer oder Product Owner Architekt:in Entwickler:in Tester:in Benutzer:in KI
Anforderungsermittlung und Review A R C C
Anforderungsdokumentation A Q I I I Q R
Architekturentwurf A Q Q Q R
Programmieren A C Q Q R
Testen A C Q Q R

Tabelle 2: RACI-Matrix mit KI. Änderungen zu Tabelle 1 sind farbig markiert.

Man sieht deutlich, dass die KI die Durchführung (responsibiliy) für viele Aufgaben übernimmt, während die bisher ausführenden Rollen die Qualitätssicherung für das Ergebnis übernehmen.

Die neue Gewichtung von Aufgaben

Die Aufgaben eines Software Engineers ändern sich durch Künstliche Intelligenz grundlegend, nicht in ihrer Zielsetzung, wohl aber in ihrer Gewichtung:

Klassisch Mit KI-Unterstützung
Anforderungen schreiben Prompts schreiben
Architekturen gestalten Vorschläge der KI bewerten und integrieren
Code von Hand schreiben Code-Entwurf begutachten und anpassen
Tests manuell entwerfen Testgenerierung überwachen und Tests verfeinern
Der Vergleich zum Beruf der Übersetzerin bietet sich an: Auch hier hat KI zu einer Verschiebung geführt, von der aktiven Übersetzung hin zum Post-Editing maschineller Ergebnisse.

Und was bedeutet dies konkret für das zukünftig nötige Kompetenzprofil des Software Engineers? Software Engineers müssen zusätzlich zu den bisherigen Qualifikationen Folgendes mitbringen:

  • KI-Kompetenz und die Bereitschaft zum lebenslangen Lernen über KI (Werkzeuge kennen, Prompt-Formulierungen beherrschen)
  • die Fähigkeit, Ethik und Verantwortung in KI-Systeme einzubetten (zum Beispiel Bias reduzieren, Sicherheit und Datenschutz sicherstellen)
  • Review-Kompetenz für die kritische Prüfung maschinell erzeugter Artefakte
  • Kommunikations- und Integrationsfähigkeit für die neuen Arbeitsprozesse

Auch die Fähigkeit zur kontinuierlichen Weiterbildung wird entscheidend. Da sich KI-Modelle und ihre Möglichkeiten rasch weiterentwickeln, ist „Lifelong Learning“ nicht länger ein Ideal, sondern eine berufliche Notwendigkeit.

Konsequenzen für Lehre und Ausbildung

Trotz aller technischen Fortschritte gilt: Die menschliche Rolle wird nicht obsolet. Kreativität, Empathie, Urteilsvermögen und das Verständnis für kontextspezifische Anforderungen bleiben weiterhin dem Menschen vorbehalten. Die Rolle verschiebt sich lediglich von der rein produktiven Tätigkeit hin zur Supervision. Der Software Engineer der Zukunft ist keine Entwicklerin im engeren Sinne, sondern eine Dirigentin KI-gestützter Entwicklungsprozesse.

Aus dieser veränderten Rolle ergeben sich weitreichende Implikationen für Hochschulen, Ausbildungsprogramme und Weiterbildungseinrichtungen:

  • Die Vermittlung klassischer Codierfähigkeiten bleibt wichtig, vor allem um ein tiefes Verständnis für die Konzepte zu entwickeln.
  • Deutlich stärker betont werden müssen Systemdesign, Reviewprozesse, die Kommunikation mit Stakeholdern und der Einsatz KI-gestützter Werkzeuge.
  • Die Integration komplexer Systeme wird zur Kernaufgabe, insbesondere das Zusammenspiel menschlich entwickelter und maschinell erzeugter Komponenten.

Allerdings brauchen wir zunächst ein neues Verständnis von Software Engineering, bevor wir es lehren können.

Fazit: Neudefinition statt Ablösung

KI ersetzt keine Software Engineers, sondern verändert, wie wir arbeiten. Dort, wo früher viel Zeit in das manuelle Erstellen von Artefakten floss, liegt der Fokus künftig auf der Kritik, Verbesserung und Integration von KI-Vorschlägen.

Zukünftige Software Engineers werden:

  • mindestens doppelt so produktiv arbeiten (ähnlich wie Übersetzerinnen und Übersetzer),
  • die Ergebnisse von KI überprüfen und verfeinern,
  • die Einhaltung ethischer und technischer Standards sicherstellen,
  • die Brücke zwischen Stakeholdern und KI-generierten Lösungen schlagen.

Der Gewinn: weniger Routinearbeit, höhere Produktivität, mehr Raum für Kreativität und Verantwortung sowie eine neue, spannende Dimension der Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine.

 

Hinweise:

Dieser Artikel basiert auf Dr. Andrea Herrmanns Vortrag „Vision: Redefining the Role of the Software Engineer in the Age of Artificial Intelligence“, den Sie am 20. Mai 2025 auf der Konferenz der International Software Quality Days gehalten hat.

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Dr. Andrea Herrmann hat im t2informatik Blog weitere Beiträge veröffentlicht, u. a.

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Dr. Andrea Herrmann
Dr. Andrea Herrmann

Dr. Andrea Herrmann ist seit 2012 freiberufliche Trainerin und Beraterin für Software Engineering. Sie hat mehr als 28 Berufsjahre in Praxis und Forschung.

Frau Dr. Herrmann war zuletzt als Vertretungsprofessorin an der Hochschule Dortmund tätig, sie hat mehr als 100 Fachpublikationen veröffentlicht und hält regelmäßig Konferenzvorträge. Sie ist offizielle Supporterin des IREB-Board, sowie Mitautorin von Lehrplan und Handbuch des IREB für die CPRE Advanced Level Zertifizierung in Requirements Management.

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