Sinn und Unsinn von Pain Points

Gastbeitrag von | 21.10.2024

Mehr Gain als Pain

Manchmal fühle ich einen Schmerz. Nein, nicht diesen persistenten Muskelkater im Oberschenkel, der sich immer dann meldet, wenn ich im Theater stillsitzen soll. Und nicht diese hämmernden Kopfschmerzen, die sich einstellen, wenn ich fünf leere Weinflaschen rausstelle; diese sind natürliche Folge einer veritablen Alkoholvergiftung und genauso unausweichlich.

Ich meine Schmerzen diagnostiziert von Dr. Marketing und behandelt von Schwester Sales. Schmerzen, die ich haben muss, damit ich mich überhaupt zum Einkaufen schleppen kann. [1]

Ohne Schmerzen, so die These, kein Wirtschaftskreislauf. „Pain Points“ heißt dieses schmerzerfüllende Konzept. [2] Je schmerzhafter es ist es, desto eher kaufen wir ein. Die Fachleute sind sich einig und entsprechend findet sich unendlich viel Literatur zur These. [3]

Die Annahme: Wir kaufen aus zwei simplen psychologischen Gründen ein:

  1. Weil es uns einen „Gewinn“ bringt.
  2. Weil wir damit einen „Schmerz“ verhindern können.

Gain und Pain, um es in gewinnbringend schmerzhaftem Denglisch zu sagen. Dabei seien die Pain Points empfehlenswerter als die Gain Points, sagt die Theorie.

Wenn es uns dreckig geht und wir mies gelaunt durch öde usselige Industriegebiete stolpern, kaufen wir verlässlicher ein als wenn wir glücklich und bedürfnislos durch den Sommer tanzen. Das hat grundsätzlich evolutionäre Gründe: Das Negative rechtzeitig zu erkennen und ihm aus dem Weg zu gehen ist wichtiger für unser Überleben als Menschheit gewesen als das unbeschwert freudige, spaßvolle und damit potentiell tödliche.

Die Pain-Gain-Korrelation

Die Wirklichkeit ist logischerweise komplexer als diese einfache Pain-Gain-Korrelation.

Drücken wir die Schmerzpunkte mal einzeln durch und fragen: Warum kaufen wir eigentlich ständig ein?

Wir kaufen zuerst einmal Dinge, um unsere Grundbedürfnisse zu stillen: Essen, Kleidung, Dach überm Kopf. Unser Magen knurrt, also kaufen wir Sahnetorte. Wir möchten’s warm untenrum, daher shoppen wir löchrige Jeans. Wir schlafen nicht gerne mit dem Kopf auf dem Tresen, daher mieten wir uns im Atlantic Hotel ein. Ich bin zwar schon pappsatt, laufe aber „zufällig“ an diesen leckeren Bratwürsten vorbei und hole mir noch mal „Drei im Weckla“ – was überwiegt: Pain oder Gain?

Wir müssen überleben, also gestalten wir dies so gemütlich wie möglich. Pain und Gain halten sich in etwa die Waage.

Wir kaufen Dinge, weil wir bequem sind: Ich verschütte immer die Hälfte des Kaffeepulvers, wenn ich morgens meinen Espressokocher betanke – nun brüht mir ein teurer Vollautomat meinen Cappuccino. Manche kaufen sich einen Hometrainer, damit sie sich den Fußweg zum Fitnessstudio sparen. Ich habe mir ein komfortables Sofa gekauft und einen Haarschnitt gegönnt, der mit drei Handgriffen zur Frisur wird.

Unser Körper will Energie sparen und freut sich, wenn er das darf. Er zieht daraus einen Gain. Energie aufzuwenden bedeutet eher Pain – und mein Hometrainer hört mich fluchen, es muss also stimmen…

Wir kaufen Dinge, weil sie uns emotional erfüllen: Einkaufen kann Glücksgefühle auslösen. Wir bauen Stress ab (außer in der Spielzeugabteilung zwei Tage vor Heiligabend) und gönnen uns eine Belohnung, wenn wir einkaufen: Die schreiendbunte Blumenvase. Die Highend-Lautsprecher, die wir vor allem formschön finden, weil wir den Unterschied ohnehin nicht mehr hören können. Das 47. Paar Schuhe. Das Badesalz für unsere Dusche. Diesen Fugenkratzer gegen Moos auf der Terrasse.

Wir empfinden Freude an Dingen, die wir nicht brauchen. Dafür geben wir gerne Geld aus. Wir empfinden Gain, no Pain.

Wir kaufen, weil wir dazugehören möchten: Wir leisten uns einen Roadster ohne Dach, damit wir im Wiesmann Club [4] mitfahren dürfen. Wir zahlen 5,99 Euro für den White Chocolate Mocha Venti [5], damit wir unseren eigenen Becher unter falschem Namen mit vor die Tür nehmen können. Wir setzen uns die verspiegelte Ray-Ban auf die Nase, damit uns Unbekannte schon von Weitem erkennen. Wie viel Freude uns Gesellschaft bringt, wissen wir auch ohne den finanziellen Aspekt: Wir sind im Sportverein und in der Häkelgruppe, lesen uns gegenseitig unsere Gedichte vor (okay, manchmal Pain) und helfen freiwillig unserer demenzkranken Nachbarin, den Alltag zu bewältigen (ganz viel Gain für alle).

Wir sind glücklicher, wenn wir Teil einer Community sind. Uns fehlt aber nichts, wenn wir die Community nicht kennen oder fahren Sie einen Wiesmann MF5?

Wir kaufen auch, um unsere Persönlichkeit auszudrücken: Vielleicht kaufen wir auch, um die Persönlichkeit auszudrücken, die wir gerne wären? Eine Studie der Duke University hat einer Gruppe von Menschen ein Apple Logo gezeigt, einer anderen ein IBM-Logo. Die „Apple-Gruppe“ fühlte sich hinterher kreativer. [6] Wir kaufen, weil wir mit der Marke eine bestimmte Identität verbinden – die wir für uns annehmen. Wir möchten dazu gehören und ziehen daraus unsere Identität. Wir kaufen uns also unseren eigenen Purpose ein. Das macht uns zufrieden, das gibt uns Identität, das gibt uns Freude. Wieder: Ganz viel Gain, Pain nur, wenn die Marke ausverkauft ist.

Wir kaufen oft Dinge, die uns helfen sollen, Herausforderungen zu bewältigen: Deshalb hab ich den Fugenkratzer gekauft! Coaches bezahlen wir dafür, besser zu werden, und das IHK-Zertifikat erarbeiten wir uns, um künftig mehr zu verdienen. Das Steigeisen, um El Capitan hochzukraxeln und den Gleitschirm, um wieder runterzuschweben – beides notwendige Hilfsmittel für den Gain-Point „Bergsteigen“.

Fehlen sie indes und ich stürze ab, ist in der Tat mein Schmerz groß – aber das ist eine semantische Spitzfindigkeit.

Und wir kaufen, um für die Zukunft vorzusorgen: Hier könnten die Pain Points einen Punkt landen: Damit ich bei einem Katastrophenfall in der Zukunft nicht verhungern muss, horte ich einen Schrank voller Ravioli-Dosen. Weil ich in der Zukunft ganz bestimmt abnehmen werde, kaufe ich den zwei Nummern zu kleinen Anzug auf Vorrat. Und weil die Nutella heute im Supersonderangebot ist, fahre ich mit dem Anhänger zum Edeka. Es könnte in der Zukunft Schmerzen geben, die ich verhindern möchte – aber eigentlich empfinde ich einen großen Gewinn, vorgesorgt zu haben. Also: Pain oder Gain – was ist die eigentliche Triebfeder?

Pain Points im Fokus

Wir kaufen also eher ein, um einen Gewinn zu haben. Sonst würden wir ja aufhören, einzukaufen, wenn die Schmerzen gelindert sind – und genau das tun wir nicht. Wir kaufen fröhlich weiter, obwohl wir angezogen und satt im Trockenen sitzen.

Schmerzen? Haben wir kaum, wenn wir nicht wirklich ernsthaft erkrankt sind. Und dann können wir uns Heilung leider nur schwer einkaufen – es wäre super, wenn das möglich wäre…

Aber das Marketing liebt die Erzählung von den Pain Points. Schauen wir uns auch das etwas genauer an:

Wir Menschen haben tatsächlich reale Bedürfnisse im Rucksack. Kluges Marketing packt uns sicherheitshalber noch ein paar „künstliche“ Probleme dazu. Hauptsache, es tut schön weh.

Wenn ich kein Auto habe, aber eines brauche, um in die Stadt zu fahren – dann ist das ein reales Problem, einen echten virtuellen „Schmerz“. Ein gebrauchter Renault Clio oder eine simple Busfahrkarte würden sowohl das Problem als auch den Schmerz lösen. Manche kaufen sich aber dennoch einen Ferrari. Hausaufgabe: „Um wie viele PS muss Dr. Marketing den Schmerz erhöhen, damit ihn nur ein Luxussportwagen stillen kann?“

Kluges Marketing übertreibt gerne Dinge, die alltäglich sind. Das Leben ist nun mal kein Ponyhof und jeden Augenblick zwickt und zwackt etwas bei uns: je oller je doller. Das ist auch gut und richtig so: Durch dieses biologische Feedback stellt unser Körper sicher, dass wir noch nicht tot sind. Leichte Schmerzen sind positive Vitalzeichen und kein Grund zur Panik, könnte man sagen. Und das ist ein großes Problem für kluges Marketing.

Fehlende Panik ist bekanntlich das Verkaufshemmnis Nummer 1. Wer satt und zufrieden auf dem Sofa sitzt, tätigt keine Panikkäufe – also kommandiert ihn Dr. Marketing eiligst aus der Komfortzone heraus. Alltägliche kleine Unannehmlichkeiten pumpt er nun zu großen Pain Points hoch – und plötzlich bemerken wir schmerzerfüllt, dass uns auf dem Sofa die zugehörige Chipstüte fehlt: „Uber Eats, schnell, ein Notfall!“

Dieser psychologische Mechanismus funktioniert bei uns Menschen super: Wir neigen dazu, Probleme zu vermeiden oder zu lösen. Und Schwester Sales dreht uns liebend gerne allen möglichen Plunder dagegen an. Temu produziert ihn sogar just in time und individuell nur für uns – was vor 100 Jahren noch Apotheken für uns zusammengemischt haben, wird heute 3D in Fernost gedruckt. Schöne neue Welt.

Geschicktes Marketing weckt Bedürfnisse. Gerade solche, die es vorher nicht gab. Wir Konsumenten lernen Tag für Tag, Phantomschmerzen mit phantastischen Überweisungen zu lindern. Der Blick auf den Kontostand schmerzt uns dann real – der Kreis ist geschlossen.

Das Konzept der Schmerzpunkte sorgt auch für die wichtige Differenzierung im Markt: Unternehmen können sich mit Leichtigkeit von Konkurrenten abheben, indem sie die schwindende Rolle der Apotheken übernehmen und spezifische Tinkturen für moderne Wehwehchen offerieren – individuell, maßgeschneidert und nur auf Privatrechnung. Dieses geniale Prinzip der Schmerzlinderung haben auch Dienstleister und Coaches für sich entdeckt: „Das Leben ist kein Ponyhof? Du hast immer noch keine Patek Philippe am Handgelenk? Das schmerzt uns sehr – hier unser Zwei-Tages-Workshop ‚Nach Bezahlung bist Du klüger!'“

Komplexe Kaufentscheidungen auf ein leicht verständliches Konzept zu reduzieren – das macht das Konzept der Pain Points so gewinnbringend – für die anderen…

Fazit

Meines Erachtens nach kaufen wir Menschen überwiegend, weil wir etwas haben, erlangen, erreichen, besitzen möchten – also aus Gain-Gründen. Manchmal wollen wir tatsächlich Schmerzen lindern oder verhindern, dass sie überhaupt entstehen. Aber das scheint mir viel seltener der Fall zu sein. Seltener jedenfalls, als uns Mr. Marketing und Schwester Sales mit ihren Erzählungen zu Pain Points weismachen wollen.

Ein Gedanke zum Mitnehmen

Limitieren wir uns, wenn wir uns im Vertrieb und Marketing nur auf die ‚Pain Points‘ unserer Kunden konzentrieren? Was könnte passieren, wenn wir stattdessen stärker auf die positiven, unentdeckten Wünsche und Potenziale (‚Gain Points‘) eingehen?

Hinweise:

[1] Gründer.de: So findest du die größten Pain Points deiner Kunden heraus
[2] Pain points: what they are, examples and how to identify them
[3] Google Scholar: Pain Points Marketing
[4] Wiesmann Club
[5] Starbucks Preisliste 2024
[6] The Neuroscience of Branding. How Apple and Nike have branded your brain.

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Best of Blog 2024 Beitrag

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Harald Ille
Harald Ille

Harald Ille ist ein erfahrener Journalist und Hochschuldozent für Public Relations (PR). Seit fast 25 Jahren arbeitet er in der PR und Unternehmenskommunikation für Kommunen, Kliniken und Konzerne. Als selbstständiger „Digital Enthusiast“ ist er begeistert von den lebensverändernden Möglichkeiten, die uns die Digitalen Technologien ermöglichen.