Raus aus der Komfortzone. Oder rein?
Ich liege auf meiner Couch und lese ein Buch. Es ist warm, das Licht sorgt für ein Hygge-Gefühl, und ich habe eben gut gegessen. Mir geht es klasse. Das Buch ist von einer Physikerin über die Gesetze des Universums – disruptiver, fordernder Stoff, und nicht alles verstehe ich Nichtphysiker auf Anhieb. Trotzdem: alles super. Ich nähere mich einem hochspeziellen Thema, möchte mehr darüber erfahren. Ich liege entspannt und zufrieden auf meiner Couch und merke mit jeder Seite, die ich umblättere, dass ich klüger werde.
Managementmenschen würden mir jetzt heftig widersprechen. Sie nennen meine Couch meine „Komfortzone“. Wie wir alle wissen, lernt man dort nix. Kann dort gar nichts lernen. Um wirklich zu lernen, sagen die Managementmenschen, müsse ich raus aus meiner Komfortzone. Runter von meiner Couch wenigstens. Darf ich das Buch mitnehmen?
In der Kälte liegt die Kraft – oder?
Ich liege an einem Winterabend im warmen Bett und lerne über Kopfhörer spanische Vokabeln. Hab die Augen geschlossen und lausche der warmen Stimme der Spanischlehrerin. Ich tue eigentlich nichts. Nichts, was Ökonomen „Arbeit“ nennen würden. Ich atme ein und lausche. Ich atme wieder aus und lausche weiter. Von außen betrachtet bin ich in einem Zustand minimalen Energieverbrauchs und maximaler Entspannung. Ein Zustand, in dem die Managementmenschen wieder sagen: Hier lernst Du nichts. Kannst gar nichts lernen. Du lernst nur draußen, außerhalb Deines warmen Betts. Schlafzimmer zählt nicht, das ist noch zu sehr Komfortzone. Flur: Schon besser. Da ist es kühler, und da hängt Deine Jacke am Haken. Jetzt mach die Vokabel-App aus und ziehe Dir diese Jacke an. Geh raus in die Nacht, schnell. Es regnet und hat 2 Grad über Null? Super Bedingungen: Hier lernste was! Nimm das Buch und lese es draußen im Regen. Stell Dich nicht so an, Du willst doch weiterkommen, oder? Hör gleichzeitig dort Deine Vokabeln – besser hier draußen in der usseligen dunklen Straße als bei Dir daheim im Bett, ist doch logisch.
Raus aus der Komfortzone! Nur dort kommst Du weiter, oder?
Wenn wir Kinder stark machen wollen für ihr Leben, was tun wir dann? Wir geben ihnen Sicherheit, Wärme, Liebe. Wir stärken ihr Selbstbewusstsein und geben ihnen Gewissheit, dass wir immer für sie da sein werden. Komfortzone? Ja, ganz viel. Damit sie stark werden. Damit sie lernen. Damit sie wachsen. Wir kämen niemals auf die Idee, sie mehrere Tage vor die Tür zu setzen, damit sie sich draußen selber durchschlagen müssen. Wir geben ihnen einen Raum, eine Zone, in der sie sich wohlfühlen dürfen. Verrückterweise lernen sie dort jeden Tag. Und wachsen. Bis sie dann erwachsen sind und auf eigenen Füßen stehen. Wenn es besonders behaglich war bei uns, kommen sie gerne immer wieder zurück. Wenn wir sie dem kalten Wind unserer Leistungsgesellschaft ausgesetzt haben, haben sie Magenschmerzen, wenn sie uns besuchen müssen.
Wo lernen sie besser? In einem schimmeligen, baufälligen Klassenzimmer bei einem Feldwebel, der sie täglich in Angst und Schrecken versetzt oder in einer warmen freundlichen Atmosphäre, die Sonne scheint und die Lehrerin geht liebevoll und individuell auf sie ein? Warum glauben wir, die Komfortzone sei schlecht für uns und wir müssten schnellstmöglich raus da?
„to comfort someone“ heißt so viel wie „jemandem Trost geben“ [1]. Heißt, jemanden in den Arm zu nehmen und wortlos zu verstehen zu geben: I feel you. Die böse kalte Welt da draußen halten wir für einen kurzen Moment von Dir fern: Bei uns bist Du sicher. Wir halten Dich fest, wenn Du den Halt verloren hast. Wir möchten, dass es Dir gut geht, dass Du Dich wohlfühlst. Wir fangen Dich auf.
Der deutschsprachige Wikipedia-Artikel zur Komfortzone ist erstaunlich kurz geraten, sieht das aber ähnlich [2]. Er zitiert die Autorin Brené Brown, die die Komfortzone hier verortet: „Wo unsere Unsicherheit, Knappheit und Verletzlichkeit minimiert werden – wo wir glauben, dass wir Zugang zu genug Liebe, Essen, Talent, Zeit und Bewunderung haben werden. Wo wir das Gefühl haben, etwas Kontrolle zu haben. […]“ Der Ruhepol, der uns auffängt. Die Heimat, die wir uns alle wünschen.
Nackt im Schnee: Dort lernen wir – oder?
Weinerliche Gefühlsduselei, die niemanden weiterbringt, sagt der Managementmensch. Umarmung beenden und zackzack raus in die Kälte, sofort! Dort, haha, in der Kälte, wo Dir der Wind so richtig ins Gesicht bläst: Da ist es viel besser für Dich! Vertrau mir: Komfortzone ist schädlich, Du wächst nur, wenn wir Dich traurig und allein draußen im Regen stehen lassen. Hätte sich Heinrich IV. im Schneefall von Canossa [3] direkt in die warme Küche zum Topf mit den Cabanossi begeben [4], würden wir heute nicht mehr davon reden! Halbnackt frieren im Schnee – das hat Europas Geschichte vorangebracht! Das Königtum zwar nicht so sehr, aber – egal. Kälte und Härte, Tränen und Unfairness: Das ist es, was wir zum Wohlergehen brauchen, capice?!
Das Komfortzonenmodell [5] stammt aus der Pädagogik und unterscheidet drei Phasen: Die erste Phase, die Komfortzone, gibt uns Sicherheit. Die zweite Phase ist die Lernphase. Unterstellt wird, dass uns dabei die Sicherheit verloren ginge, wir neuen Herausforderungen begegnen müssten, bei denen wir nicht wüssten, wie sie ausgehen. Unklarheit herrscht, aber wenn wir dieser Unklarheit begegnen, würden wir wachsen. Die dritte Phase schließlich ist die Panikphase, eine Phase völliger Überforderung.
In welcher Phase befinde ich mich, wenn ich zwar vor etwas Neuem stehe, das aber ganz amüsant oder spannend oder freudvoll empfinde? Ist das dann noch Komfortphase, weil ich mich tief im Herzen sicher fühle und mich die neue Herausforderung kaum unter Stress setzt? Wenn die Neugierde die Unklarheit überwiegt, wenn die Vorfreude und das Sich-Einlassen auf die neue Situation völlig „normal“ erscheinen? Bin ich dann immer noch in der Komfortzone? Und lerne ich dann nix?
Oder bin ich bereits in der Lernphase? Gibt es jemals einen Moment, in dem ich nichts lerne? Selbst abends vor der Rosamunde-Pilcher-Schmonzette lerne ich ja dazu: Ich lerne neue Charaktere kennen, neue Landschaften zu bewundern, einen weiteren Abklatsch eines uralten Plots zu dekonstruieren…
Fahre ich beispielsweise in den Urlaub in eine Gegend, in der ich noch nie zuvor war und deren Sprache ich nicht verstehe. Dann bin ich in der Lernphase, oder? Ich fahre dort mit meinem eigenen Auto hin, das Hotel ist gebucht und meine Familie ist mit dabei. Vieles also „safe“ – für mich ist das trotzdem immer noch Komfortzone. Was allerdings, wenn ich alleine reisen müsste, wäre ich dann in der Lernphase? Und: Würde ich den Phasenübergang als relevant empfinden, oder würde ich einfach sagen: Hey, ich bin im Urlaub, und dieses Restaurant da vorne kenne ich nicht, also gehe ich da jetzt mal rein. Ganz natürlich, weil ich ja neugierig bin.
Seltener raus müssen
Wann muss ich aus der Komfortzone wirklich raus, und wann kann ich mit einem Bein immer noch drin stehen bleiben? Ich wage zu sagen: Es ist übertrieben, wie häufig uns die Managementmenschen aus der Komfortzone rausjagen wollen. Wir kommen auch ganz gut zurecht, wenn wir offen sind für Neues aus reiner menschlicher Lust am Entdecken, aus Lust an Herausforderungen. Und manchmal auch: Aus der Hoffnung heraus, dass etwas besser wird.
Wenn ich bspw. einen neuen Job suche, dann aus mehreren Gründen heraus:
- Weil mir im alten Job langweilig geworden ist. Langeweile kann ich in meiner Komfortzone nicht gebrauchen, da muss immer ein bisschen Aktion dabei sein.
- Weil ich mehr Geld verdienen will. Dann kann ich meine Komfortzone noch komfortabler ausgestalten, yeah!
- Weil ich Karriere machen möchte, die im bestehenden Job nicht (schnell genug) möglich ist. Dann suche ich doch genau nach dem, was ich will; das ist doch Komfortzone in Reinform!
Ich bin also bereit, Neues zu wagen, weil ich es will. Und ich weiß auch relativ genau, was ich will, habe also relativ viel Klarheit über den Wunsch, den Prozess und die Folgen. Das gibt mir psychologische Sicherheit. Und ich bin zuversichtlich, dass es klappen wird, weil ich es selbst steuere. Ist das nicht sogar die Definition von Komfortzone?
Es kann natürlich auch negative Gründe für eine Jobsuche geben:
- Weil ich mit meinen Kolleg:innen oder den Vorgesetzten nicht zurechtkam. Dann war die Situation bisher nicht schön und kann eigentlich nur besser werden; es bleibt Unklarheit. Aber ich suche aktiv nach etwas Neuem, ich steuere auch hier den Prozess hin zu etwas Besserem. Ich vergrößere meine Komfortzone wieder auf Normalmaß, ich trete nicht aus ihr heraus!
- Weil ich den Job verloren habe. Okay, dann ist es umso wichtiger, dass ich eine verlässliche Komfortzone habe, die mich auffängt! Jetzt sind Sicherheit und Trost wichtig, also: Warum ausgerechnet dann die Forderung, aus meiner Komfortzone herauszu treten, lieber herzensguter Managementmensch?
- Weil ich den bisherigen Job nicht mehr schaffe. Ja, dann muss ich mutig sein und mir dies eingestehen. Aber dieses Mutigsein klappt doch viel eher, wenn ich mich psychologisch sicher fühle. Die Forderung, aus der Komfortzone herauszutreten, ist hier ja ein Stressfaktor. Nein: Sichere Deine Komfortzone und suche Dir einen Job, der dazu passt. Aber: Bleib drin! Vergrößere Deinen Stress nicht noch zusätzlich!
Ich verstehe nicht, warum man notgedrungen „seine Komfortzone verlassen soll“ für einen neuen Job? Er soll doch besser sein als der alte, also: größere, komfortablere, gemütlichere Komfortzone als vorher! Schmunzeln muss ich, wenn Personalberater sogar ultimativ das Verlassen der Komfortzone fordern, wenn man Karriere machen möchte. Karriere ist offenbar etwas so Schlimmes, dass es nicht mit der Komfortzone kompatibel ist. Ich würde den Karrieresprung ja anders verkaufen, wünsche allen HRlern aber viel Erfolg. Ich persönlich fühle mich in meiner abwechslungsreichen Komfortzone pudelwohl…
Rein in die Komfortzone ist das Ziel, nicht raus!
Eigentlich möchten wir doch „rein“ in die Komfortzone, oder? Wollen ankommen, geliebt werden, allen Stress und allen Ärger draußen vor der Tür lassen. Doch dann klingelt ein trotziger Managementmensch an unserer Tür und will uns rauslocken.
Ich jogge manchmal und möchte bald einen Halbmarathon laufen. Ja, das Training ist eine Qual, aber es ist eine Qual, die ich im Griff habe, die ich kontrolliere. Wenn es zu schlimm wird, kann ich jederzeit aufhören. Und das muss ich auch, wenn der Fersensporn brennt und der Unterschenkel krampft. Quälereien um der Quälerei willen sind schädlich. Sport, der kaputt macht, auch. Wachse ich nur, wenn ich mich wirklich quäle und völlig außer Puste gerate? Oder wachse ich nicht viel mehr in einem klug gewählten Trainingsbereich, bei dem ich noch einigermaßen Luft bekomme? Welches Training ist erfolgsversprechender? Und welches liegt letztlich näher an meiner Komfortzone?
Ich schreibe diesen Blogpost am Jahrestag eines Unglücks. Im Rana Plaza Gebäude in Bangladesch konnte von Komfortzone keine Rede sein [6]. Dort saßen 3.000 Näherinnen eng an eng und haben unter unmenschlichen Bedingungen komfortable Kleidung für uns Europäer genäht, ehe das Gebäude einstürzte. 1.135 Menschen kamen ums Leben. Sie hatten keine Komfortzone, nirgends. Auch, weil wir es in Europa billig, billig wollen. Die Forderung, nur vorankommen zu können, wenn man außerhalb einer Komfortzone bleibt, klingt hier zynisch. Aber vermutlich ist das die eigentliche Bedeutung dieses Managementmantras: Wir sollen raus aus unseren Komfortzonen, weil sie Geld kosten. Weil sie Luxus sind, der den Profit schmälert. Wir sollen es unkomfortabel und trostlos haben, es soll anstrengend sein, wir sollen frieren und uns quälen.
Dann erst werden wir klüger sein.
Hinweise:
Wollen Sie Ihre Kundinnen und Kunden gewinnen und dabei in Ihrer Komfortzone bleiben? Dann schauen Sie doch einfach mal auf Harald Illes schöner Website vorbei.
[1] LEO: to comfort
[2] Wikipedia: Komfortzone
[3] Planet Wissen: Heinrich IV. und Canossa
[4] esssen 6 trinken: Infos & Tipps: Cabanossi
[5] Karrierbibel: 3-Zonen-Modell
[6] Wikipedia: Einsturz der Rana-Plaza-Textilfabrik
Wenn Ihnen der Beitrag gefällt oder Sie darüber diskutieren wollen, teilen Sie ihn gerne in Ihrem Netzwerk.
Harald Ille hat weitere Beiträge im t2informatik Blog veröffentlicht:

Harald Ille
Harald Ille ist ein erfahrener Journalist und Hochschuldozent für Public Relations (PR). Seit fast 25 Jahren arbeitet er in der PR und Unternehmenskommunikation für Kommunen, Kliniken und Konzerne. Als selbstständiger „Digital Enthusiast“ ist er begeistert von den lebensverändernden Möglichkeiten, die uns die Digitalen Technologien ermöglichen.
Im t2informatik Blog veröffentlichen wir Beträge für Menschen in Organisationen. Für diese Menschen entwickeln und modernisieren wir Software. Pragmatisch. ✔️ Persönlich. ✔️ Professionell. ✔️ Ein Klick hier und Sie erfahren mehr.