Der Digitale Humanist

Gastbeitrag von | 07.05.2018

Eine Wirtschaftshaltung für das digitale Zeitalter.

Wir leben in einer Zeit, die unser Wirtschaftsleben ständig beschleunigt. Neue bahnbrechende Technologien werden stündlich angekündigt. Wir erfahren davon auf unzähligen verschiedenen Informationskanälen. Unser Blick schweift mehrmals in der Stunde, ja teilweise in der Minute, vom Smartphone zum PC-Bildschirm – von der Zeitung zum Fernseher – vom Mailprogramm zum Teamchat in Slack – von der Virtual Reality Brille in die Ferne der Landschaft, die wir durch das Fenster in unserem Büro erblicken. Ständig neue Produkte in Kombination mit globalen Märkten entfalten noch weitere Kräfte – die Mächtigste ist der erhöhte Marktdruck. Sie zwingt uns dazu, immer schneller auf die Anforderungen von Kunden zu reagieren. Ständige Innovation scheint der einzige erfolgversprechende Weg, um die Zukunft eines Unternehmens zu sichern. Ansonsten wird man von Start-ups rechts überholt – das wars dann, unter Umständen. Als ob das nicht ausreichen würde, kommt noch eine Ressourcenknappheit hinzu – Talente. Wir wissen, dass wir das kreative Potential der Menschen mehr denn je brauchen. Sie sind in der Lage die beschriebenen Herausforderungen zu meistern. Doch wo finden wir Sie? Was müssen wir als Wirtschaftssystem bzw. als Unternehmen tun, damit sie ihr Können in unseren Dienst stellen?

Too big to fail war einmal

Der Druck in der Wirtschaft steigt durch diese Entwicklungen rasant an. Die Lebensdauer von Unternehmen verkürzt sich. Beispiele wie Nokia oder Kodak machen klar – auch die größten und über Jahre markt-dominierenden Unternehmen verschwinden plötzlich leise von der Bildfläche. Gerade in den kommenden Jahren wird an den Stuhlbeinen zutiefst deutscher Industrien (Auto) gesägt werden. Dabei geben die großen Tanker viel Geld für Innovation aus. Doch dieses versandet oft wirkungslos in den Mühlen der Bürokratie. Ich erinnere mich an ein kürzlich geführtes Gespräch mit einer befreundeten Beraterin, die mir ihren Einsatz bei einem deutschen Autokonzern schilderte: “Stell dir vor. Ich war dort, um mit einem Team an Innovationsthemen zu arbeiten. Dann ging es daran einen Prototyp einer Website zu erstellen. Wir haben zwei Tage verloren, weil es keine Einigung über die Farbe des Logos auf der Website gab. Unzählige Seiten von Dokumenten und Richtlinien wurden ausgedruckt, so ging es die ganze Zeit weiter. In der Zeit, in der das Team über das Logo diskutiert hat, schließen andere Teams das gesamte Projekt ab”.

Scheinbar entfalten Konzepte und Methoden zur Steigerung der Innovationskraft nicht ihr Potential, wie mir ein sehr erfahrener Design Thinking Coach erklärt: “Ich habe keine Lust mehr auf diese Konzerne. Ja – sie zahlen gut – aber ich schaffe es nicht, mit all meiner Erfahrung und meinen Methodenkenntnissen Wirkung zu entfalten. Am Ende der meisten Workshoptage fühle ich mich ausgelaugt, weil mein Tun keinen Sinn hatte. Ich muss etwas verändern.”

Die Verweigerung der Realität

Wie kann das sein? Die Nachrichten sind voll von disruptiven Bedrohungen für unsere Unternehmen, doch es bewegt sich scheinbar nichts. An dieser Stelle bin ich froh, meine Erfahrung mit diesem Phänomen bereits hinter mir zu haben. Ich habe mich selbst am Beginn meiner Selbstständigkeit von Konzepten & Methoden als Heilsbringer blenden lassen. Ich habe meinen Kunden eine Methode verkauft, mit dem Versprechen, dass nach erfolgreicher Implementierung alles gut wird. Doch nichts ist gut geworden. Ich war enttäuscht, zweifelte an mir selbst. Meine Intuition sagte mir, dass an diesem Bild von Konzepten und Methoden noch etwas unvollständig war. Dann traf ich Gebhard Borck, er hatte die Antworten nach denen ich gesucht hatte. Nach unserem ersten Treffen war mir alles glasklar. Erfolge auf Konzept- und Methodenebene sind Zufall. Nachhaltige Wirkung erzielen wir nur, wenn wir in der Lage sind, unsere Haltung und unser Menschenbild tief zu hinterfragen. Hier sind wir genau am Schmerzpunkt angelangt. Um unsere Wirtschaft für die kommenden Herausforderungen zu wappnen, brauchen wir Menschen in den Eigentümer- und C-Level-Rollen, die aus dem Industriezeitalter hinauswachsen. Die folgende Grafik stellt die “Hierarchie des Handelns” dar. Im Alltag handeln wir immer automatisiert aus dem Zentrum, unserem Denkmodell – unserer Haltung – unserem Menschenbild. Erst wenn wir in der Lage sind unser Denkmodell zu adaptieren, spiegelt sich dies im Handeln wieder. Das bedeutet in weiterer Folge. Wenn die neue Haltung, und deren Ausdruck im Handeln, in Form von Konzepten – Methoden – Werkzeugen zusammenpassen, entwickeln diese auch Wirkung.

Betriebswirtschaft mit Menschen

 

Humanismus ist keine Sozialromantik

Der Beginn des Industriezeitalters prägt bis heute das Menschenbild in den Entscheider-Etagen. Arbeiter, die nicht lesen und schreiben können, brauchten jemanden, der ihnen sagte, wo es lang geht. Diese Haltung ist so tradiert, als würden wir heute noch im ganzen Land feiern, wenn die ersten 100m eines Eisenbahngleises verlegt wurden. Hoffnung geben uns Vorbilder und Pioniere, wie Stephan Heiler oder Bodo Janssen es sind. Das niederschmetternde Ergebnis einer Mitarbeiterumfrage war der Auslöser für eine 180° Kehrtwende bei Bodo Janssen. Seit ihm seine Mitarbeiter indirekt mitteilten, dass er sein eigenes Unternehmen besser verlassen sollte, hat er seine Haltung radikal geändert. Statt Zahlen – Daten – Fakten in den Vordergrund zu stellen, werden in den Upstalsboom Hotels¹ die Mitarbeiter heute, wie mündige Erwachsene behandelt. Sie zahlen es zurück, sogar mehrfach. Bodo hat seitdem wieder Freude an seinem eigenen Tun.

Als praktischer Nebeneffekt dieses Paradigmenwechsels haben sich die wichtigsten Kennzahlen – Ertrag, Umsatz, Anzahl Bewerbungen oder die Krankenstandstage – sprunghaft zum Positiven entwickelt. Bei Stephan Heiler war der Auslöser die Nachfolge. Stephan hatte die Alois Heiler GmbH², eine Glasmanufaktur, von seinem Vater übernommen. Es wurde ihm schnell klar, dass die klassische Herangehensweise aus dem Industriezeitalter zu nicht zu ihm passte. Nach intensiven Jahren der tiefgreifenden Veränderung, ist die Alois Heiler GmbH nun seit fast zwei Jahren ohne formale Führungskräfte. Stephan sieht in jedem seiner Mitarbeiter das menschliche Potential. Sie danken es ihm, indem sie das Unternehmen gemeinsam durch eine Krise geführt haben. So konnte zum Beispiel durch den aufgeklärten Umgang mit den Mitarbeitern in Bezug auf Finanzkennzahlen, eine nachhaltige Kostenreduktion von 19% innerhalb von 2 Monaten realisiert werden – ohne Kündigung und ohne, dass Stephan Heiler bis heute im Detail weiß, wo die Mitarbeiter dieses Einsparpotential realisiert haben.

Beide Beispiele zeigen, dass sich das Vertrauen in die Menschen und deren Klugheit lohnt. Sie zeigen auch, dass es keine Konzepte oder Methoden braucht, denn von diesen Zutaten verwenden sie kaum etwas.

Neue Paradigmen brauchen eine neue Sprache

Zweifellos stehen wir wieder einmal vor einem großen Umbruch in der Menschheitsgeschichte. Daher erscheint mir die Anwendung des ursprünglichen Humanismus in seiner Reinform unangebracht. Ich plädiere für die Verwendung und Verbreitung des Digitalen Humanisten (im Ursprung verwendet von Gartner auf IT beschränkt). Der Digitale Humanist vereint die Grundwerte des Humanismus und öffnet sich zugleich den Herausforderungen des digitalen Zeitalters, indem er sich mit dem Umgang mit Zukunftstechnologien wie Künstliche Intelligenz oder Blockchain auseinandersetzt. Jeder einzelne sollte für sich klären, wie er sich den Umgang mit Technologie vorstellt. Erst wenn wir diese Klarheit erlangen, sind wir in der Lage, eine übergeordnete Perspektive einzunehmen. Eine Perspektive, die es uns erlaubt, eigenverantwortlich und eigenmächtig mit den Herausforderungen des digitalen Zeitalters umzugehen. Deswegen rate ich jedem Menschen, der für sich Gestalter seines Lebens bleiben will, machen Sie Ihr eigenes Manifest des Digitalen Humanisten – setzen Sie sich aktiv mit der Zukunft auseinander.

Das Manifest – ein Vorschlag für mehr Klarheit

Ich habe das Manifest aus dem Ursprung von Gartner für meine eigene Klarheit weiterentwickelt und werde dies weiter tun, wenn sich mir ungeklärte Fragen stellen. Ich lade Sie ein, lassen Sie sich inspirieren und machen Sie Ihr eigenes “Ding” daraus. Hier ein Auszug aus meinem Manifest des Digitalen Humanisten:

  • Menschen sind das Zentrum: Jedes Unternehmen, stellt auch im digitalen Zeitalter, den mündigen Menschen in den Mittelpunkt des Handelns. Die Klugheit der Menschen stellt, trotz mannigfaltiger technologischer Möglichkeiten, das größte Potential dar.
  • Unvorhersehbarkeit begrüßen: Nutzen wir das Unvorhersehbare, um unseren Alltag zu entlasten. Lassen wir Pläne los, damit wir im Jetzt ankommen. Gestalten wir unsere Arbeit anlassorientiert.
  • Sinnkopplung ermöglichen: Menschen sind stark sinngetriebene Wesen. Wir gestalten unsere Wirtschaftssystem & Firmen so, dass sinnvolles Arbeiten möglich wird.
  • Persönlichen Raum respektieren: Die Unternehmen müssen so durchlässig werden wie Netze. Wer hängen bleiben will, der bringt sich ein. Wer das nicht will, schlüpft durch die Maschen der Firma und kommt später in seinem Leben vielleicht zurück.
  • Strukturen & Prozesse dienen: Unternehmen und ihre Mitarbeiter begegnen sich auf Augenhöhe. Das bedeutet, dass Strukturen und Prozesse so angepasst werden, dass sie der Zusammenarbeit der Menschen – mit dem Kunden im Fokus – dienen.

Werden auch Sie zum Digitalen Humanisten und gehen Sie mit eigener Klarheit in das digitale Zeitalter. Unsere Wirtschaft und unsere Unternehmen brauchen dringend eine zeitgemäße Haltung.

 

Hinweise:

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Informationen zu Joan Hinterauer finden Sie unter www.joanhinterauer.com.

[1] Der Upstalsboom Weg – Der Wandel vom wirtschaftlich geprägten Unternehmen zu einem menschen- und werteorientierten Unternehmen: https://www.der-upstalsboom-weg.de/
[2] Informationen zur Alois Heiler GmbH finden Sie unter https://www.heiler-glas.de/

Joan Hinterauer hat weitere Beiträge im t2informatik Blog veröffentlicht:

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t2informatik Blog: Die Helden haben versagt

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Joan Hinterauer
Joan Hinterauer

Joan Hinterauer liebt es neue Wege zu beschreiten und dabei tief in die unbekannte Umgebung einzutauchen. Nach 15 Jahren klassischer Arbeitswelt und die Karriereleiter hinauf bis zum Geschäftsführer, kennt er die Gesetze der Wirtschaftswelt. Seit 3 Jahren atmet er als absoluter Quereinsteiger New Work Luft ein, um sie als geballtes Erfahrungswissen seinen Kunden zur Verfügung zu stellen. Als Transformations-Katalysator begleitet er Entscheider im Rahmen der Perspektivreise Mittelstand bei der Entwicklung einer zukunftsfähigen Haltung für das digitale Zeitalter. Zudem berät er Firmen mit innovativen Denkwerkzeugen auf dem Weg zur selbststeuernden Netzwerkorganisation und dem sinnvollen Einsatz von agilen Konzepten und Methoden. In verschiedensten Kollaborationen lebt er den Netzwerk-Gedanken selbst vor und kennt die Herausforderungen wie seine Westentasche. Joan Hinterauer ist immer für außergewöhnliche Aktionen zu haben und entkräftet gerne Aussagen, warum etwas nicht möglich sein soll.