Organisationskultur im digitalen Wandel
Gesamtgesellschaftlich befinden wir uns aktuell in einem großen Umbruch. Elektronische Geräte, die binär codierte Informationen verarbeiten und austauschen können, verbreiten sich rasend schnell. Vor fünf Jahren waren Smartphones für viele noch Zukunftsmusik, mittlerweile sind sie für die meisten ständige Begleiter. Wurde das Internet 2006, im Jahr des Sommermärchens, gerade mal von mehr als der Hälfte der Deutschen genutzt, surfen mittlerweile fast neun von zehn regelmäßig im Netz.¹ Reisende buchen online und checken mobil ein. Wohngemeinschaften arbeiten zusammen am Putzplan – in der Cloud mit Google Docs oder ähnlichen Angeboten. Auch wenn häufig nebulös ist, was genau mit den Daten zwischen Ein- und Ausgabe passiert, und dies bei nicht wenigen für Bauchgrummeln sorgt, – die Digitalisierung ist da und gekommen, um zu bleiben.
Die digitalen Herausforderungen
Landauf und landab investieren Organisationen viel Zeit und Geld, um den digitalen Herausforderungen zu begegnen. Als Beraterinnen und Berater für den öffentlichen Sektor begleiten wir bundesweit Behörden bei der Automatisierung von Prozessen, beim Aufbau digitaler Kanäle zur Kundenkommunikation oder bei der Weiterentwicklung digitaler Kompetenzen in der Belegschaft. Aus einer optimistischen Grundhaltung heraus möchten wir mit unseren Auftraggeberinnen und Auftraggebern die Chancen nutzen, die durch die Digitalisierung entstehen: vom Handlungsdruck zur Schaffenslust, das ist unser Credo.
Das fällt nicht immer leicht: Viele Organisationen experimentieren und versuchen, die neuen Möglichkeiten für sich zu nutzen. Sie gestalten Büros um und geben Laptops aus, programmieren Apps und flexibilisieren Arbeitszeiten. Andere Organisationen wiederum schauen skeptisch auf das, was gerade geschieht: der eigene Schreibtisch bleibt dort der Standard, das Smartphone darf nicht beruflich genutzt werden, die Webseite ist nicht für die Darstellung auf mobilen Endgeräten optimiert, die SSL-Zertifikate sind abgelaufen und Arbeitszeiten werden weiterhin mit Stempelkarten erfasst.
Warum? „Weil ich viel Zeit an meinem Schreibtisch verbringe und mich dann auch wohlfühlen möchte.“ „Aus Datenschutz-Gründen!“ „Das macht unser Personalrat leider nicht mit.“ „Unsere Kundinnen und Kunden sind noch nicht so weit.“
In solchen Situationen und Aussagen kommen spezifische Organisationskulturen zum Ausdruck, die nicht per se gut oder schlecht, sondern zunächst einfach da sind. Organisationen, die erfolgreich sein oder bleiben möchten, sollten ihre individuelle Organisationskultur bei der Umsetzung von Digitalprojekten auf jeden Fall berücksichtigen. Denn die Ideen einer Organisation, wie sie verfolgt und umgesetzt werden – all das ist stark geprägt von der Kultur eines Hauses. Ja, die Digitalisierung ist gekommen, um zu bleiben, doch die Organisationskultur war schon vorher da. Sich zu digitalisieren bedeutet darum immer auch, an und mit der eigenen Organisationskultur zu arbeiten.
Zum Beispiel wird mit der Ausgabe mobiler Arbeitsgeräte und der Parole „wir wollen fortan flexiblere Arbeitszeitmodelle ausprobieren“ die Möglichkeit geschaffen, zeit- und ortsunabhängiger zu arbeiten. Das ist eine Entscheidung, die verstanden werden kann als Resultat eines ganz spezifischen kulturellen Settings. Und gleichzeitig wird sich die intensivere Nutzung des Homeoffice auswirken auf die Organisation der Arbeit – unter anderem werden dadurch die Führungs- und Verantwortungskultur beeinflusst –, was wiederum einen Effekt haben wird auf weitere Entscheidungen usw. In Veränderungsprozessen gilt es, diese Zusammenhänge auf dem Schirm zu haben: ein fundiertes Verständnis von Organisationskultur hilft dabei.
Die Organisationskultur
Was meinen wir, wenn wir „Organisationskultur“ sagen? Wir verstehen darunter:
- Muster des Denkens, Fühlens und Handelns der Personen in einer Organisation.
- Eingeübte, geteilte, meist unbewusste und selbstverständliche Handlungsgrundlagen.
- Handlungsgrundlagen entstanden aus Erfahrungen, die in der Vergangenheit mit gelungenen und misslungenen Problemlösungen gesammelt wurden.
- Handlungsgrundlagen verbreitet und vermittelt in einem Sozialisationsprozess, gestützt auf Symbole und Artefakte.²
Symbole und Artefakte sind der sichtbare Ausdruck einer Organisationskultur. Sie sind die Spitze des Eisbergs und wichtig für die Orientierung und die Sozialisation von Mitarbeitenden. Anders als zum Beispiel Geschäftsprozesse oder Verwaltungsvorschriften, entfaltet die Organisationskultur ihre Kraft aber im Impliziten und Informellen. Wir meinen das von selbst Verständliche, was eigentlich keiner Erklärung bedarf, und was alle Mitarbeitenden unsichtbar im Alltag anleitet. Wenn digitale Projekte geplant und umgesetzt werden sollen, besteht die große Gefahr, dass diese organisationalen Eigenheiten übersehen werden. Der Philosoph und Ökonom Peter Drucker, der als Pionier der modernen Managementlehre gilt, hatte recht mit seiner Behauptung: „Kultur verspeist Strategie zum Frühstück.“
Die Dimensionen der Organisationskultur
Um Veränderungen gut planen und begleiten zu können, versuchen wir stets die Kultur einer Organisation explizit zu machen und unser Vorgehen darauf abzustimmen. Der Blick von außen und ein differenziertes Beobachtungsraster helfen uns dabei, das komplexe Phänomen der Organisationskultur zu fassen zu bekommen. Wir unterscheiden sechs Kulturdimensionen:
- Verantwortungskultur: Wie verorten sich die Mitglieder in einer Organisation mit ihren individuellen Beiträgen gegenüber der ganzheitlichen Zielstellung der Organisation?
- Führungskultur: Wie verstehen die Führungskräfte ihre Aufgaben und ihre Rolle innerhalb des sozialen Systems?
- Kommunikationskultur: Wie und mit welchen verbalen und nonverbalen Formen werden Informationen in der Organisation geteilt?
- Konfliktkultur: Wie wird in einer Organisation mit Regelverstößen und Meinungsverschiedenheiten umgegangen?
- Veränderungskultur: Welchen Umgang hat eine Organisation mit Anpassung und Veränderung und wie gelingt es einer Organisation, Neues in das Bestehende zu integrieren?
- Kultur der Arbeitsorganisation: Wie werden in einer Organisation Aufgaben verteilt und wie wird die Erbringung von Leistung in einer Organisation sichergestellt?
In all diesen Dimensionen drückt sich Organisationskultur als spezifisches Muster des Denkens, Fühlens und Handelns aus. Bei der Unterteilung in diese Kulturdimensionen handelt es sich um eine analytische Trennung, die es uns ermöglicht, die Kultur einer Organisation empirisch zu fassen und für alle Beteiligten besprechbar zu machen.
Die konkrete Praxis
Wir haben alle sechs Dimension in beobachtbare und beurteilbare Teilaspekte heruntergebrochen und in einen Erhebungsbogen überführt, in den wir die beobachteten Ausprägungen einordnen können. Hospitieren wir in der Organisation, die eine Kulturanalyse wünscht, so sammeln wir Eindrücke, Beobachtungen und Aussagen mittels dieses standardisierten Erhebungsinstruments. Um die Kultur einer Organisation erfassen, analysieren und bewerten zu können, verbringen wir außerdem einen angemessenen Zeitraum vor Ort, stützen uns auf unterschiedliche Quellen (zum Beispiel Hospitationen, Einzel- und Gruppeninterviews, Dokumente) und gehen hypothesengeleitet vor. Das bedeutet, dass nach einer Explorationsphase häufig in einem Workshop mit dem Auftraggeber vorläufige Ergebnisse reflektiert werden, um sie nach einer Phase der Verifikation final festzuhalten.
Zum Beispiel würden Trittbrettfahrertum, also eine sehr unterschiedlich stark ausgeprägte Übernahme von Verantwortung, und ein extrem direktiver Führungsstil einer Abteilungsleiterin genauso zur Sprache kommen, wie eine hervorragende Kooperation mit der Personalvertretung. Das bedeutet, dass die Reflexion und die Kommunikation der (Zwischen-)Ergebnisse mit großer Sorgfalt geschehen müssen. Aus einer solchen Kulturanalyse können dann für das Projektmanagement und die kommunikative Projektbegleitung wichtige Ansatzpunkte und Hindernisse abgeleitet werden (beispielsweise Einbinden der Leistungsträger, Fordern der Freerider und ein besonderes Auge auf die Abteilungsleiterin). Außerdem ermöglicht die Kulturanalyse auch, das Thema Kultur selbst zum Gegenstand expliziter Veränderungsversuche zu machen – zum Beispiel durch einen partizipativen Leitbildprozess.
Fazit
Kultur kann Motor oder Bremse von Organisationsentwicklung sein. Das gilt umso mehr für die Entwicklung hin zu einer digitalen Organisation. Digitales Selbstverständnis kann nicht verordnet werden, es kommt auch nicht beiläufig daher, quasi als Nebenprodukt. Ob man will oder nicht: Wer die Chancen der Digitalisierung nutzen will, kommt an der eigenen Organisationskultur nicht vorbei. Dann lieber gleich bewusst mit der eigenen Kultur arbeiten und einen Weg beginnen, der das Digitale zum Normalen werden lässt.
Hinweise:
Interessieren Sie sich für weitere Tipps aus der Praxis? Testen Sie unseren wöchentlichen Newsletter mit interessanten Beiträgen, Downloads, Empfehlungen und aktuellem Wissen.
Eine gute Geschäftsbeziehung beginnt mit einem Gespräch. Vereinbaren Sie einfach einen Anruf mit Dr. Erik Schäfer oder Dr. Friedemann Christ unter https://gfa-public.de/kontakt/.
[1] D21 Digital-Index 2018/2019, S. 12.
[2] Vgl. Georg Schreyögg, Grundlagen der Organisation, 2016, S. 177 f.
Erik Schäfer & Friedemann Christ
Dr. Erik Schäfer ist promovierter Organisationswissenschaftler und Berater bei gfa | public. Er arbeitet vornehmlich für kommunale Auftraggeber in Querschnittsfunktionen und im Arbeitsmarktbereich; inhaltlich fokussiert er aufbaustrukturelle und organisationskulturelle Fragestellungen sowie Prozesse des Lernens und Barrieren des Wandels. Dr. Friedemann Christ ist promovierter Politologe und einer von zwei Geschäftsführern der gfa | public GmbH. Seit fast 20 Jahren begleitet er Kundinnen und Kunden auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene in organisatorischen und strategischen Entwicklungsprozessen.