Mehr Mut zum User Testing!

Gastbeitrag von | 05.12.2019

Um Eines vorweg zu nehmen: Wer ernsthaft an der User Experience seines (Software-)Produkts arbeiten will, darf sich vorm User Testing nicht wie der Elefant vor der Maus verstecken. User Testing bedeutet, dass Produkt- und Feature-Ideen möglichst frühzeitig in die Hände von echten bzw. potentiellen Nutzer*innen gegeben werden, um aus deren Perspektive betrachtet und bewertet zu werden. Im Gegensatz zu der sonst oft „unsichtbaren“ Nutzungserfahrung, lassen sich die Nutzer beim User Testing über die Schulter schauen und geben wertvolles Feedback zur Bedienbarkeit oder zur Brauchbarkeit der Idee im Allgemeinen. Mit Hilfe von User Testings können nachweislich schnellere und passendere Entscheidungen für ein zukünftiges oder bestehendes Produkt getroffen werden. Allerdings wird das Thema in vielen Softwareproduktionen nach wie vor recht stiefmütterlich behandelt: „Zu aufwendig, zu teuer, zu wenig output, kein Personal, steht nicht im Scrum Guide… und außerdem sind wir doch die Experten, wieso sollten wir uns von unseren Nutzer*innen sagen lassen, was wir zu tun haben?“.

Für mich klingt das alles ein wenig nach Ausreden. Natürlich ist es viel bequemer im eigenen Saft zu schmoren und sich nicht mit der Meinung der Nutzer*innen auseinander setzen zu müssen. Nur führt dieses Abtauchen dazu, dass Design- und Produktentscheidungen vor allem durch Technik getrieben werden oder aber durch permanentes Mutmaßen. Das böse Erwachen kommt schließlich nach dem Release, wenn Supportanfragen oder schlechte Bewertungen eintrudeln oder aber schlimmer noch, man gar nichts mehr von den Nutzer*innen hört (also auch nichts Positives). Dann tappt man munter weiter im Dunkeln.

Die Magie von User Testing

„User Experience Designer*innen können leider nicht zaubern“ sage ich bei jedem Kennenlerngespräch für ein neues Projekt. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass auch sonst niemand, der an der Entwicklung beteiligt ist, über Zauberkräfte verfügt und eben mal so das perfekte Produkt aus dem Hut zaubert. User Testing hingegen ist meiner Erfahrung nach tatsächlich magisch, denn es ermöglicht die dunklen Ecken zu beleuchten, die von der kollektiven Betriebsblindheit sonst völlig übersehen wurden.

Noch viel eindrucksvoller ist jedoch die Magie, welche durch die zwischenmenschliche Beziehung entfacht wird: Auf der einen Seite sind da die Nutzer*innen, die auf einmal eine Stimme bekommen und die erleben, dass hinter der Entwicklung einer Software Menschen stehen, keine Fließbänder. Ihre Loyalität zum Produkt steigt und sie erwarten auch nicht, dass alles was sie im User Testing gesagt haben, morgen gleich behoben bzw. umgesetzt ist.

Auf der anderen Seite stehen Menschen, die motiviert sind, ein Produkt zu entwickeln. Sie bekommen die Gelegenheit zuzuhören und die Probleme und Bedürfnisse ihrer Nutzer*innen kennenzulernen. Besonders spannend ist dies im B2B Bereich, wo es zwar meistens einen starken Austausch mit den Kaufentscheidern gibt, jedoch seltener mit den tatsächlichen Endnutzer*innen. Werden die Schmerzen und Bedürfnisse der Nutzer*innen mit eigenen Augen gesehen, fällt es sehr viel leichter Kundenanforderungen zu verstehen und zu priorisieren. Die Entscheidungen fußen dann auf dem tatsächlichen Nutzererleben und nicht auf dem Ego eines bestimmten Stakeholders. Was mitunter sogar dazu führen kann, dass viel weniger oder etwas völlig anderes nötig ist als gedacht, damit das Produkt seinen Mehrwert liefert.

Der Kontakt zu Nutzern ist kein Monopol

User Testing oder allgemein der Kontakt zu Nutzern sollte daher kein Monopol von einzelnen Personen oder Abteilungen im Unternehmen bleiben. Entwicklungsteams mit Kontakt zu Nutzern erkennen mehr Sinnhaftigkeit in ihrer Arbeit, sind motivierter und bauen Empathie zu denen auf, für die sie produzieren. Mit dem Ergebnis, dass Anforderungen besser verstanden und in passende technologische Lösungen übersetzt werden. Allerdings ist hierfür in der Tat ein direkter Kontakt wichtig, nicht – wie es häufiger der Fall ist – die Erfahrung aus zweiter Hand.

In agilen Projekten ist das unmittelbare Nutzerfeedback in der Theorie sogar ein essentieller Bestandteil des Erfolgsrezepts. In der Realität begegnet man jedoch in den wenigsten Reviews echten Nutzer*innen. Stattdessen werden im Scrum Team die Product Owner oder – falls vorhanden – User Experience Designer*innen zum Sprachrohr der Nutzer*innen, was keinesfalls verkehrt, aber eben auch keine echte Begegnung ist. Auch hier fehlt es letztendlich an Mut, die übliche Rollenverteilung zu durchbrechen. Auch ein Entwickler oder andere Projektbeteiligte sind prinzipiell in der Lage, Feedback von Nutzer*innen einzuholen.

Schlechtes User Testing ist besser als gar kein Testing

Für die Überprüfung von Ideen und Produktfeatures braucht es am Ende gar nicht so viel wie man meint. Es braucht nur Menschen, die zuhören können und Nutzer*innen, die Feedback geben. Die Aussage „User Tests sind aufwendig“ sollte so gesehen längst obsolet sein.

Der Usability Experte Jakob Nielsen plädierte bereits 1985 für eine ‚Discount Usability‘ und zeigte, dass kontinuierliche kostengünstige Maßnahmen zur Erfassung von Nutzerfeedback effektiver sind als großangelegte, teure und zumeist einmalige Studien. Um die schwerwiegendsten Probleme zu identifizieren, braucht es seiner Studie nach nicht einmal eine perfekte Methodik oder ausgebildete Usability Spezialisten. Zwar werden mehr Probleme identifiziert, je sauberer die Methodik dahinter funktioniert, aber bereits Laien, die ein Testing mit drei Nutzer*innen durchführen, finden mehr heraus als ohne Testing. Anders gesagt: Am Ende ist nur etwas mit der Testmethode oder mit der Auswertung schief gelaufen, wenn gar kein Fehler gefunden wurde. Denn eines ist klar: Die perfekte Software gibt es nicht, dennoch lohnt es sich, sie kontinuierlich zu verbessern.

Prinzipien für mehr Mut zum User Testing

Im Artikel wollte ich zeigen, das User Testing ein wirklich einfaches Mittel ist, um frühzeitig zu überprüfen, ob die Entwicklung eines bestehenden oder neuen Softwareprodukts auf dem richtigen Weg ist oder wo Probleme bei der Bedienung auftauchen. Im Grunde ist das ein alter Hut, aber die Realität zeigt, dass es nach wie vor viele Vorurteile gegenüber dem Einholen von User Feedback gibt.

Hier noch einmal die wichtigsten Kernaussagen in Form von 7 Prinzipien für mehr Mut zum User Testing:

  • Annahmen über Nutzer*innen bleiben Annahmen, bis sie von Nutzer*innen bestätigt werden.
  • Softwareentwickler*innen implementieren Lösungen, aber die Nutzer*innen sind Expert*innen für ihre Aufgaben, Ziele und Bedürfnisse.
  • Testen was es zu testen gibt: Wir müssen nicht warten bis etwas technisch implementiert ist, sondern können eine Idee notfalls sogar mittels Strichzeichnung auf einer Serviette verproben.
  • Für User Testing braucht es keine Expert*innen, sondern Menschen, die zuhören können und Nutzer*innen, die sich einbringen möchten.
  • Häufigeres Testen mit Low-Budget-Methoden bringt mehr als eine einmalige, langwierige Studie.
  • Nicht alles was im Nutzer Testing gelernt wird, muss auch direkt umgesetzt werden.
  • Die perfekte Software gibt es nicht, aber das Streben dorthin macht ein Produkt erfolgreicher gegenüber Konkurrenzprodukten.

Falls Sie nun das Gefühl haben, User Testing fehlt in Ihrer Produktentwicklung oder wird zu sporadisch eingesetzt: Haben Sie Mut, versuchen Sie es!

 

Hinweise:

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Anna Zinsser hat im t2informatik Blog weitere Beiträge veröffentlicht, u. a.

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Anna Zinsser
Anna Zinsser

Anna Zinßer ist freie Kreative, User Experience Designerin und Kreativ Coach aus Karlsruhe. Auf Projektbasis unterstützt sie IT-Unternehmen sowohl in Richtung Produktmanagement (UX Konzepte, Nutzeranalysen, Problemstatements, Prototyping) als auch in Richtung Entwicklung (Interaktionsdesign, Designvorgaben, Mockups). Dabei verbessert sie das Nutzererlebnis von bestehenden Softwareprodukten und hilft innovative Produkte mit Fokus auf den Endnutzer und seine Bedürfnisse neu zu designen.