Macht und Selbstausbeutung

Gastbeitrag von | 27.01.2025

Die Kontrolle von Mitarbeitenden im Wandel der Zeit – ein (unvollständiger) Erklärungsversuch

Wie gut, dass wir den Taylorismus hinter uns gelassen haben. Führung ist heute Mentoring, flexible Arbeitszeiten und autonome Teams in agilen Strukturen sorgen für „Augenhöhe“ und sinnstiftende Tätigkeiten. Die Mitarbeitenden sind zufrieden und motiviert. Die Unternehmen erfolgreich.

Wirklich? Nein.

Mit der Humanisierung der Arbeitswelt wollten die Unternehmen vor allem „weg von“. Weg von starren Abläufen, entmenschlichten Organisationen, wenig Partizipation, formalen Hierarchien und patriarchalen Strukturen. One-size-fits all-Lösungen und heilsversprechende Methoden entstanden so schnell, dass die Trends sich mitunter selbst überholten. Leider fehlte und fehlt der Blick auf die jeweiligen Wirkungen und Konsequenzen von Agil, Lean, Spotify & Co. Wenn kein „Kontrolleur“ der Arbeit mehr anwesend sein muss, werden die Mächte weniger sichtbar. Und doch werden die Menschen produktiv und „auf Spur“ gehalten. Macht hat sich gewandelt. Die Funktionen aber sind geblieben, nur dass sie jetzt von den Mitarbeitenden selbst ausgeübt werden.

Wo früher Anweisung und Kontrolle für das Funktionieren der „Ressource Mensch“ sorgten, haben nun Selbstoptimierung und -verwirklichung Platz genommen. Die Techniken der Macht sind weniger sichtbar. Getarnt mit der Maske der Humanisierung, ist Macht entpersonalisiert und subtil. Wir wähnen uns freier und verhalten uns noch konformer. Gleichzeitig steigen die Zahlen zu Burn-Out und Depression stetig an. Das liegt nicht etwa an den tayloristischen Überbleibseln, sondern am blinden New-Work-Gehorsam.

Taylor kam und blieb

Die Produktivität des Menschen (und damit des Unternehmens) in den Mittelpunkt zu stellen, ist natürlich kein Phänomen der Neuzeit. Die Entwicklung vom Großbetrieb zur industriellen Fabrik beschreibt die sich immer weiter drehende Spirale von Disziplin, Kontrolle und Produktivität. Bald waren mehr Bürokratie, Arbeitsteilung und Mechanisierung nötig, um in Fabriken wie der von Ford ab 1913 am Fließband produzieren zu können. Ab diesem Zeitpunkt wurden auch die Gebäudekonzepte wichtiger. Sollten sie doch Kontrolle und Humanisierung auf einen Schlag ermöglichen. Die panoptische Fabrik entstand. Wenige Kontrolleure hatten den Überblick über die Arbeiter, die ihrerseits nicht wissen konnten, wann genau sie beobachtet wurden. Gleichzeitig wurde es in den Gebäuden heller und schöner.

Nun leben wir nicht mehr im Industriezeitalter, wir fragen uns längst, was nach dem Informationszeitalter kommen mag. Die grundlegenden Ideen von Arbeitsteilung, Kontrolle und Produktivität sind geblieben und haben sich in allen Bereichen der Wertschöpfung etabliert.

Wer viele Menschen koordinieren will, braucht Kontrolle und Konformität. Die Grundzutaten moderner Arbeitsmittel.

Überwachen? Machen wir jetzt selbst!

Ein modernes Bürogebäude mit „Open Space“, kleinen Besprechungsinseln und telefonzellenähnlichen Rückzugsräumen ist die Kulisse, in der eines der agilen Teams seine täglichen Stand-ups abhält. Die Teilnehmenden stehen vor einem Kanban-Board und machen transparent, was ansteht. Auf Post-its wird festgehalten, wer welche Aufgaben übernommen hat und wie weit diese fortgeschritten sind. Ein Meeting ist nötig und leicht zu finden, denn jeder kann den Kalender der Kolleginnen und Kollegen einsehen. Die Kollaborationsplattform zeigt, wer gerade „busy“ ist oder im Urlaub oder abwesend oder, oder, oder. Dass die Teilnehmenden immer wieder auf ihre Smartphones schauen und E-Mails checken ist normal, denn schnelle Antworten gehören zum guten Ton.

Das ist doch gut, oder? Das Team organisiert sich selbst und hat so viel mehr Freiheiten. Ja, das ist gut. An dieser Stelle möchte ich jedoch explizit auf die Funktion der Kontrolle hinweisen. Es braucht selbstverständlich keinen Aufseher oder Vorarbeiter mehr. Die Kontrolle ist in den Arbeitsmodus eingewebt. Angefangen bei den modernen Räumlichkeiten, der Transparenz über Plattformen und Boards, bis hin zu den auskunftsfähigen Post-its. Die Kontrolle von früher ist nicht weg, sie findet nur anders statt.

Produktiv und konform

Überwachung ist die eine Seite der Medaille. Die andere ist Konformität. Die ist zwingend notwendig, wenn viele Menschen koordiniert auf ein unternehmerisches Ziel hinarbeiten sollen. Konformität braucht Leitplanken, also ein Normal, an dem sich die Menschen orientieren können. Deshalb wird in Organisationen fortlaufend ausgerufen, was als normal gilt. Es wird vermessen, getestet und abgefragt. Persönlichkeitstests, Mitarbeitergespräche, Feedbackrunden, Stellenprofile und Zertifikate. Der moderne Mitarbeiter verbringt einen Großteil seiner Zeit damit, seine Normalität zu dokumentieren.

Den Rest erledigen Werte- und Purpose- Workshops. Denn sie produzieren nichts anderes als Zielvorgaben für die Menschen. So werden sie kalkulierbar und konform. „Normal“ eben. Der so freundlich anmutende Leitsatz vieler Organisationen „wir entwickeln unsere Mitarbeiter“ verbirgt den Zweck der Normalisierung (und damit Optimierung) nur leidlich. Sei verantwortlich, sei wirksam, sei selbstwirksam, sei du selbst, finde deinen persönlichen Purpose, Team-Purpose, steuere deine Emotionen, sei fit, gesund und habe die richtige Haltung.

Macht ist die Triebkraft

Gerade die New-Work-Bubble kommt mit dem Slogan der Humanisierung um die Ecke und verspricht so viel für die Menschen und ihre Arbeitsbedingungen zu tun. Es sei hier nicht unerwähnt, dass die handelnden Personen sicher gute Absichten verfolgen.

Humanisierung ist aber nur die Maske, letztlich ist Macht die Triebfeder. Im Sinne des französischen Philosophen Michel Foucault verstanden, ist Macht hier keineswegs negativ konnotiert. Im Gegenteil, ihre verschiedenen Spielarten machen Zusammenarbeit, Kreativität und Erfolg erst möglich. Macht ist die Triebfeder. Nur wenn wir uns nicht bewusst sind, wann und wo wir ihr blind folgen, wird es schwierig, der Selbstausbeutung zu entgehen.

Die Macht muss als etwas analysiert werden, das zirkuliert, oder eher als etwas, das nur in einer Kette funktioniert. Sie ist niemals lokalisiert Hier oder Da, sie ist niemals in den Händen einiger. Die Macht übt sich als Netz aus, und über dieses Netz zirkulieren die Individuen nicht nur, sondern sind auch stets in der Lage, diese Macht zu erleiden und auch sie auszuüben. Sie sind niemals die träge Zielscheibe der Macht, sie sind stets deren Überträger. Die Macht geht durch die Individuen hindurch, sie wird nicht auf sie angewandt. (Michel Foucault, 1973)

„Unsere Mitarbeiter brauchen ein agiles Mindset“ beispielsweise ist reine Disziplinarmacht. Die Vorgabe, welche Haltung und Denkweise „richtig“ ist, will nur für Konformität und Produktivität sorgen. Passender wäre es, über Leistung und erwartete Ergebnisse zusprechen, statt einen großen moralischen Druck obendrauf zu setzen.

Oder betrachten wir die ganze Wellbeing-Bewegung. Es ist, mal wieder der Mantel der Humanisierung, unter dem Yoga, gesunde Snacks oder Massagen angeboten werden. Das greift auf den Körper der Menschen zu, denn der soll schließlich im Sinne der Produktivität ebenfalls fit bleiben. In vielen Organisationen kommen solche Initiativen aus den HR-Bereichen und haben einen sehr pastoralen Unterton. Es ist nicht nur eine Einladung, sondern auch hier geht es um Macht.

Ist das alles schlimm? Natürlich nicht. All diese Machtinstrumente sorgen für Produktivität und das ist gut. Gleichzeitig merken wir nicht, dass sie subtil unsere Freiheit unterwandern und uns zur Selbstausbeutung einladen, auch weil der normative Druck auf die Einzelnen steigt. Und so ist vielleicht die größte Veränderung in der Arbeitswelt, dass die Machttechniken und ihre Ausübung leise und stetig in die Menschen selbst übergegangen sind. Wir werden von keinem Aufseher mehr überwacht, wir machen das selbst. Fitnessuhr, Outlook, Instagram, MS Teams & Co. Wir glauben an unsere Individualität und merken kaum, wie konform wir uns durch die Arbeitswelt bewegen. Wir glauben, dass mehr Selbstbestimmung und Entscheidungsspielräume unsere Freiheit vergrößern und übersehen die Signale der folgenden Selbstausbeutung. Darin liegt die Gefahr. Und sie ist größer als zu Zeiten des Fordismus, weil sie nicht sichtbar ist.

Reflexion der Macht

Gerade Bereiche wie HR, OE und die Führenden sind in der Verantwortung, die wirkenden Instrumente der Macht zu reflektieren. Dies erfordert einen ständigen Blick auf die Wirkung, die mit all den gewählten Maßnahmen, Methoden und Werkzeugen erzielt werden kann. Was bewirken die von uns gestalteten Strukturen bei den Menschen? Wo und wie etablieren wir Normen? Wo machen wir es Menschen leicht, sich selbst auszubeuten? Welche Maskierungen unserer Handlungen verschleiern die Wirkungen?

Für alle Unternehmen, die sich „unsere Mitarbeitenden sind uns wichtig“ auf die Fahne schreiben, ist diese Reflexion zwingend.

 

Hinweise: 

[1] Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft

Stephanie Borgert möchte bei den Menschen, mit denen sie arbeitet, etwas bewirken. Leicht können Sie mit Ihr über LinkedIn Kontakt aufnehmen und sich über das Managen von Komplexität austauschen. Alternativ lohnt sich auch ein Blick auf die interessanten Bücher, die sie veröffentlicht hat.

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Stephanie Borgert
Stephanie Borgert

Stephanie Borgert ist Komplexitätsforscherin und Ingenieur-Informatikerin. Das Managen von Komplexität und dynamischen, komplexen Projekten sind ihre Leidenschaften. Denn darin sind wesentliche Aspekte wie Führung, Management, Kommunikation, Achtsamkeit und Systemik enthalten.

Gemeinsam mit ihren Kunden stellt sie immer wieder fest, dass es oft gar nicht die großen, gestylten und strengen Prozesse sind, sondern die vielen kleinen Stellschrauben in einem System, die es zielorientierter, wertschätzender und erfolgreicher machen.

Mittlerweile hat Stephanie Borgert als ehemalige Wirtschaftskolumnistin der Frankfurter Rundschau acht Bücher veröffentlicht. Ihr Buch „Unkompliziert!“ war 2018 Wirtschaftsbestseller. 

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