Hypothesenbildung: Das vergessene Hilfsmittel
Ich habe eine Hypothese: Dieser Beitrag wird nicht nur Beliebtheitspunkte sammeln.
Warum schreibe ich ihn dann? Weil ich seit geraumer Zeit ein Störgefühl entwickelt habe, das sich aus Beobachtungen bei meinen Kunden und Gesprächen mit Kundinnen, sowie beim Lesen von Beiträgen auf X (vormals Twitter) und LinkedIn nährt.
Im Kern geht es darum: Wie ermitteln wir, was in einem Unternehmen schlecht läuft, bevor Maßnahmen, Workshops oder Interventionen festgelegt werden?
In meiner Ausbildung zum Coach habe folgende systemische Vorgehensweise gelernt:
- Beobachten,
- Hypothesen bilden,
- Ziele festlegen,
- Intervention planen und durchführen,
- beobachten.
Im agilen Kontext wird gerne der sehr ähnliche Deming-Cycle bemüht:
- Plan,
- do,
- check,
- act.
Oder :
- Identify your problems,
- test solutions,
- study results,
- implement best solution.
Bei beiden Ansätzen findet das Bilden von Hypothesen vor dem Festlegen von Maßnahmen statt, die entsprechende Problem lösen sollen.
Und hier die Google Wirklichkeit:
- „Buch Workshop“ – 24,0 Mio. Treffer
- „Workshopmethoden“ – 11,6 Mio. Treffer
- „Workshopspiele“ – 11,4 Mio. Treffer
- „Buch Hypothesen“ – 2,4 Mio. Treffer
- „Hypothesen formulieren“ – 671.000 Treffer
- „Hypothesen aufstellen“ – 132.000 Treffer
Wenn ich in sozialen Netzwerken scrolle, gibt es unzählige Vorschläge zu Workshop-Formaten und -Spielen, Sketchnotes, Check-ins und Check-outs. Hinweise, auf welchen Hypothesen diese beruhen oder was sie bewirken sollen – komplette Fehlanzeige.
Die gelebte Hypothesenpraxis in vielen Unternehmen
Irgendwie scheint die Durchführung von Interventionen viel wichtiger und interessanter zu sein, als das Aufstellen von Hypothesen, aber warum?
Geheimnisvolle Coaching-Magie, die niemand teilen möchte? Vergessenes oder aus der Mode geratenes Hilfsmittel? Unattraktiv zu beschreiben im Vergleich zu Sketchnote-Protokollen oder Fotos von Wänden, die mit Post-Its beklebt sind?
Wenn mir meine Kund:innen in Gesprächen ihre Erfahrungen mit Beratern und Coaches spiegeln, dann fällt eine Aussage immer wieder: Sehr schnell werden Formate oder gar Lösungen festgelegt, sehr selten wird darüber gesprochen, was diesen bewirken sollen. Stunden- und Workshopkontingente werden angeboten, bevor die Auftragsklärung stattgefunden hat. Die vermuteten Zusammenhänge bleiben für die Kunden nebulös.
Gerade von agilen Coaches lese ich immer wieder, dass grundsätzlich jede Form von hierarchischer Führung abgelehnt wird. Hierarchieabbau – Positionen durch Rollen ersetzen – Selbstorganisation, nur einige der agilen „Standardlösungen“, die dann propagiert werden. Als erstes werden im Rahmen großer Workshops Spiele durchgeführt, die den Vorteil agiler Vorgehensweisen sichtbar machen sollen. Na, hoffentlich hat der Kunde ein Problem, das zu einer dieser Lösungen passt, denn sonst wird jedes Problem zu dem Nagel, für den man gerade den (agilen) Hammer in der Hand hält.
Um das klar zu stellen: Ich bin Agilitätsfan und weiß die vielen Vorteile agiler Methoden und Organisationsmodelle sehr zu schätzen. Aber eben dort, wo sie „passen“ und nicht grundsätzlich in jedem Unternehmen und jedem Wertschöpfungsmodell. Aus meiner Sicht muss eine Hypothese zu einem Problem ausreichend plausibel erscheinen, sodass „Agilität“ eine Lösung darstellt.
Das Vorgehen zum Bilden von sinnvollen Hypothesen
Was macht eine gute Hypothese überhaupt aus?
Ich glaube, dass die Einteilung in „gut“ und „schlecht“ die erste Sackgasse ist auf dem Weg zu Verbesserung. Eine Hypothese beruht immer auf die Zukunft betreffende Annahmen und inwiefern sie sich als richtig erweist, weiß man erst, wenn man die sie betreffende Intervention durchgeführt und das Ergebnis beobachtet hat. Eine Bewertung kann immer erst im Nachhinein erfolgen.
Dies führt zu meinen Vorschlägen, wie man zu sinnvollen Hypothesen kommt:
1. Nichts ist so verrückt, dass es in einem Unternehmen nicht passieren würde.
Sammeln – Sammeln – Sammeln , egal wie verrückt die Hypothese zunächst klingt. In 33 Industriejahren habe ich eins gelernt: alles was nie Bestandteil meiner verrücktesten Träume war, ist irgendwann passiert. Manches auch mehrmals. Es ist ein Fehler, Ideen in der Sammelphase zu früh auszuschließen. Jede Idee, die auf den Tisch kommt, verdient es als Ursache für die eigenen Beobachtungen in Frage zu kommen und geprüft zu werden.
Direkt anschließend:
2. Erfahrung ist nicht Voraussetzung, hilft aber ungemein.
Jeder, der lange in multinationalen Konzernen, Mittelstand, Familienunternehmen oder Private Equity geführten Unternehmen gearbeitet (und gelitten) hat, hat schon mal einen Rucksack an möglichen Ursachen für Beobachtungen. Aber Achtung, gerade diese Erfahrung kann auch blind machen für neue Hypothesen, die noch nicht im eigenen Rucksack sind. Die Annahme, dass Unternehmen immer die gleichen Probleme haben, ist schlichtweg falsch und wird der Komplexität von Organisationen nicht gerecht.
3. Also – offen, neugierig und kreativ bleiben.
Queerdenken. Denken in 2. Ordnung. Verrücktes annehmen. Muster suchen und erkennen, auch wenn es niemals die eigenen wären.
Um das zu verstärken, bietet sich folgendes an:
4. Mit diversen Teams agieren
Diverse Teams bei der Hypothesenbildung kommen nicht nur zu mehr Annahmen, sondern erhöhen auch die Wahrscheinlichkeit, dass unter den gesammelten Hypothesen eine richtige dabei ist. Alter, Geschlecht, Ausbildung, beruflicher Werdegang, Erfahrung, soziokultureller Hintergrund, Branchenkenntnis und Branchenblindheit sind Diversitätsdimensionen, die Coaches nutzen können, um Hypothesenvielfalt zu erreichen. Wenn ich mir selbst nicht sicher bin, suche ich andere Perspektiven.
5. Den Blickwinkel wechseln
Nicht nur Unterstützung, sondern Voraussetzung für richtige Hypothese ist, die im beobachteten System vorhandene Diversität zu nutzen. In manchen Unternehmen ändert sich der Eindruck wahlweise danach, mit wem man gerade gesprochen hat. Für mich ist es wichtig, mit jeder Hierarchiestufe, mit jedem Funktionsbereich und sowohl mit „altgedienten“ Mitarbeiter:innen als auch mit Einsteiger:innen im Unternehmen gleichermaßen zu sprechen, bevor ich mich an die Hypothesenbildung begebe. Jeder Blickwinkel hilft beim Perspektivwechsel, auch die in der Küche hängenden Zettel („Spülmaschine leerräumen“) und Toilette („So hinterlassen, wie du sie vorfinden möchtest“). Wer sich auf die Beschreibung der Auftraggebenden (Geschäftsführung, Personal) allein verlässt, wird häufig schon im ersten Workshop böse Überraschungen erleben.
Zu guter Letzt meine zwei Lackmustests:
6. Das Problem zur Lösung
Zu jedem Format, egal ob Workshop oder ein anders, überlege ich mir: Wenn dieses Format die Lösung ist, was ist das Problem dazu? In meinen Angeboten beschreibe ich dem Kunden, was ich beobachtet habe, was meine Annahme ist, welches Ziel ich verfolge und was die Maßnahme ist. Das ist mein Anspruch an meine Arbeit – und das sollte auch der Anspruch der Kunden sein.
7. Der Blick auf mich selbst
Was sagt meine Hypothese eigentlich über mich selbst aus? Warum habe ich mich eigentlich in diese Hypothese verliebt? Habe ich sie gewählt, weil sie mir aus der Vergangenheit bekannt ist? Und: Wofür bin ich gerade blind? Der Blick auf mich hilft mir und damit idealerweise auch meinen Kund:innen, mein eigenes Wirken zu hinterfragen und wirklich nützliche Hypothesen zu bilden.
Fazit
Das Bilden von Hypothesen ist eine unterschätzte Fähigkeit, die Coaches beherrschen müssen. Fast habe ich den Eindruck, Hypothesenbildung ist ein Hilfsmittel, das vielfach und vielerorts vergessen wurde. Ja, die Arbeit mit Hypothesen ist anstrengend. Aber sie ist alternativlos und Coaches müssen sich daran messen lassen. Jeder Workshop, und sei er noch so toll, führt nur zu Verbesserungen, wenn er ein vorhandenes Problem angeht.
Hinweis für Kunden und Kundinnen von Coaching- und Beratungsdienstleistungen: Fragen wie
- Welches Problem soll das lösen?
- Worauf beruhen Ihre Hypothesen?
- Hatten Sie noch alternative Annahmen?
- Was müssen wir nach dem Workshop besonders beobachten?
helfen Ihnen, zu beurteilen, ob Ihre Bedürfnisse an Lösungen erfüllt werden.
Disclaimer 1: Natürlich schreibe ich diesen Artikel auch, weil meine Eigensicht mir einflüstert, dass ich in Hypothesenbildung ziemlich gut bin, während meine Workshopdesigns immer wieder die Hilfe anderer Coaches in Anspruch nehmen. Ich verfolge also damit auch ein Eigeninteresse.
Disclaimer 2: Natürlich schreibe ich Disclaimer 1 auch, um meine Glaubwürdigkeit zu erhöhen.
Wenn Sie das schon beim Lesen vermutet haben, sind sie selbst gar nicht so schlecht im Hypothesen bilden. 😉
Hinweise:
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Nicolas Korte hat zwei weitere Beiträge im t2informatik Blog veröffentlicht:
Nicolas Korte
Nicolas Korte ist ein „Verbündeter für Veränderung“ und unterstützt Unternehmen und Menschen auf ihrem Transformationsweg. Und das ist weitaus mehr, als er sich am Anfang seiner persönlichen Transformationsgeschichte erwartet hatte.