Hybride Organisationen – Lösung oder Problem?

Gastbeitrag von | 03.02.2020

Vor einiger Zeit publizierte ich in unserem Blog der Unternehmensdemokraten den Beitrag Die Unvermeidbarkeit hybrider Organisationen. Dabei ging es mir seinerzeit um die im Titel benannte Zwangsläufigkeit, die durch die Transformation traditionell geführter und strukturierter Organisationen in alternative, netzwerkartige (Kreis)Organisationen entsteht. Heute werde ich meine damaligen Gedanken weiterentwickeln und hybride Organisationen weiter unter die Lupe nehmen.

Hybride Organisationen als logische Folge oder die Folgen hybrider Organisationen

Der erwähnte Artikel basierte einerseits ganz allgemein auf gesundem Menschenverstand und meinen Erfahrungen als Berater in Transformationsprozessen. Denn sowohl durch eine kurze Reflexion als auch die praktischen Erfahrungen wird unmissverständlich klar, dass sich die gesellschaftsrechtlichen Rahmenbedingungen von Kapitalgesellschaften nicht einfach in Wohlgefallen auflösen, nur weil ein topmoderner Geschäftsführer auf die Idee kommt, seine Mannschaft auf die Holacracy Verfassung einzuschwören und diese mit seinem Blut zu unterschreiben. Amüsanterweise hatte das schon in einem deutlich älteren Beitrag über Holacracy zu einem Aufschrei bei allen teuer zertifizierten Holacracy Berater*innen geführt. Gerade so, als ob dieses angeblich neue Managementsystem über dem Gesetz stünde.

In den letzten Monaten gesellte sich dann noch eine weitere Erfahrung dazu: Ich führte bei zwei kleinen Berliner Unternehmen einen CultureCheck durch. Obwohl in beiden Firmen mit viel authentischem Engagement an der Transformation gearbeitet wird und auch viel Know-how vorhanden ist, entstanden natürlich auch dort hybride Organisationen, die beide Firmen und ihre Belegschaften täglich aufs Neue herausfordern. Diese Herausforderung liegt unter anderem an der institutionalisierten Schizophrenie zweier widersprüchlicher Konzepte.

Dies brachte Andreas Ulrich sehr gut auf den Punkt, der bei der DB Systel GmbH gleichzeitig agiler Berater und Führungskraft ist. Somit ist er gezwungen, mehr oder minder täglich im hybriden Modus zu arbeiten: „Was mir aktuell wirklich große Probleme bereitet, ist der ständige Paradigmenwechsel. Ich schalte quasi gedanklich mehrmals an einem Tag zwischen zwei Kontexten hin und her. Beide haben ihre eigenen Rahmenwerke, Abläufe und vor allem ganz unterschiedliche Erwartungshaltungen an mich.“¹ Womit spätestens klar werden sollte, dass die hybride Organisation bzw. das „duale Betriebssystem“ als Ideal, wie es der amerikanische Professor John Kotter vorschlägt, ein wenig fraglich ist. Was in der Theorie noch nachvollziehbar ist, um Effizienz und Stabilität einerseits und Innovation und Agilität andererseits gleichermaßen zu realisieren, wird in der gelebten Praxis schnell ein nicht zu unterschätzendes Problem.

Widersprüche der organisationalen Konzepte

Ulrich berichtet weiter: „In meiner Rolle als disziplinarischer Vorgesetzter habe ich Zielvorgaben. Diese Ziele sind gestaltbar, werden aber zunächst nicht von oder mit mir und meinen Kollegen erstellt. Das heißt, ich reiche Ziele zunächst erst einmal nur weiter an die Kollegen. Inwiefern sich diese mit den Zielen identifizieren können oder in der Lage sind, diese zu verfolgen, ist oft nicht relevant. In meiner Rolle als Agile Coach ist das anders. Hier erstellen wir im Team gemeinsam Ziele, die sich an den Unternehmenszielen orientieren, bzw. an den Zielen der Einheit (Einheit = ein Zusammenschluss aus mehreren Teams, bestehend aus 7 +/- 2 Menschen, innerhalb der Transformation der DB Systel). Als Team sammeln wir vorab alle dafür notwendigen Informationen, entwickeln Ideen, stimmen uns ab und setzen uns gemeinsam Ziele.“ (a.a.O.)

Mit diesem kleinen Einblick wird deutlich, wie widersprüchlich beide Konzepte in ihren grundlegenden Prinzipien sind und warum das duale Betriebssystem wohl kaum der propagierte Königsweg ist. Selbst dann nicht, wenn Kotters Sowohl-als-Auch irgendwie klüger klingt als ein radikal anmutendes Entweder-Oder. In hybriden Organisationen prallen Feuer und Wasser aufeinander, Pech und Schwefel oder wie auch immer wir es metaphorisch beschreiben wollen:

Widersprüche der organisationalen Konzepte
Traditionell „Old Work“ Alternativ „New Work“
Zweck: Gewinnmaximierung (Business of business is business) Individueller Zweck, eventuell in einem Purpose ausformuliert
Ziele: Effizienz und Stabilität Innovation und Agilität
Trennung Denken/Handeln, Planen/Ausführen Re-Integration Denken/Handeln, Planen/Ausführen
Topdown Selbst-/Mitbestimmung
Zentrale Steuerung Dezentrale Steuerung
Arbeitsmodus: Konkurrenz Kooperation
Menschenbild X (extrinsisch motiviert, Eigennutzenmaximierung, rationale Entscheidungsfindung, Kontrolle etc.) Menschenbild Y (intrinsisch motiviert, strebt nach Sinnkopplung, ratiional-intuitiv-emotionale Entscheidungsfindung, Vertrauen etc.)
Restriktive Informationspolitik Offene Informationspolitik (Transparenz ist Voraussetzung für Selbstorganisation)
Individuelle Vergütungsanteile (bei Erreichen der individuellen Ziele) Wenn, dann kollektive Vergütungsanteile (z. B. bei Erreichen der Gesamtunternehmensziele …)
Minimale Redundanz (Siloisierung) Maximale Redundanz (Zellen/Kreise mit allen lebenswichtigen Funktionen)

Der Fall von Andreas Ulrich illustriert den gesunden Menschenverstand: Wie sollen die Mitarbeiter*innen, egal ob in Führungsposition oder nicht in der alten Arbeitswelt und egal in welcher Rolle der neuen Arbeitswelt, diese Widersprüche in der täglichen Arbeit auflösen? So ergibt sich beispielsweise schnell die Situation, dass die Kolleg*innen eines agile Coaches diesem nur geschöntes Feedback geben, weil er gleichzeitig noch in Rolle des disziplinarischen Vorgesetzten ist: „In meiner Rolle als Agile Coach fühle ich mich als Mitglied eines Teams. Ich werde kritisiert, gelobt und mir werden Erwartungen offen mitgeteilt. In meiner Rolle als Vorgesetzter, werde ich nur wenig kritisiert. Oft nur, wenn ich direkt nach Feedback frage. Ob das dann wirklich ehrliche oder sozial erwünschte Kritik ist, ist für mich noch schwer zu unterscheiden.“ (a.a.O.)

Die Probleme agiler Konzern-Enklaven

Nun könnte man argumentieren, dass Kotter das duale Betriebssystem schließlich ganz anders gemeint hat. Da sollen schließlich agile Bereiche gebildet werden, beziehungsweise in der Sprache Kotters „Netzwerke“, in denen dann eher eine Startup-Kultur mit den entsprechenden Spielregeln (und Prinzipien) herrscht. Und genau das passiert vielfach in der Konzernwelt: Es werden Hubs gegründet und Acceleratoren; einige Auserwählte dürfen oder sollen in fancy Coworking Spaces arbeiten, in denen der Konzern gleich mehrere Workshop-Räume für ein paar Monate mietet. Schön, dann können ein paar Leute in irgendwelchen Konzern-Enklaven total agil arbeiten, während die Kolleg*innen weiterhin artig dem Topdown und allen damit assoziierten Aspekten der alten Arbeitswelt Folge leisten müssen.

Daraus folgen dann konsequenterweise eine Menge Probleme zwischen diesen diametral gegenüberliegenden Unternehmenskulturen. Beide Seiten haben an die Kollegen der jeweils anderen Arbeitswelt Anforderungen, die mit Sicherheit alles erzeugen, nur keine reibungslose, effiziente Kommunikation und Interaktion. Genau dieses Problem haben auch ganze Unternehmen, die sich konsequent transformieren, aber weiterhin mit den B2B Partnern aus der alten Welt Geschäfte machen wollen. Da wird es schnell hakelig, wenn es keinen Verkaufsleiter Süd mehr gibt oder frühere Aufgaben des Geschäftsführers auf mehrere andere Personen außerhalb der Geschäftsführung verteilt werden.

Innovationen für neue und alte Unternehmensbereiche

Des Weiteren geht es mit der Innovation und fortlaufenden Entwicklung der verschiedenen Bereiche, Abteilungen, Teams, Gruppen etc. nicht nur um die Erfindungen und Prototypenentwicklungen neuer Produkte und Dienstleistungen, die noch halbwegs sinnvoll ausgelagert werden können. Es wird darüber hinaus weiterhin Prozessinnovationen und haufenweise andere Entwicklungen in den bestehenden alten Arbeitswelten brauchen. Und wie genau soll das funktionieren, wenn dort noch all die alten Prinzipien weiter verfolgt werden? Wenn die Mitarbeiter*innen eben nicht selber denken und planen, sondern bitte nur handeln und ausführen sollen? Denn das ist ja das Zaubermittel für die gewünschte Effizienz und Stabilität.

Das Bedürfnis nach Selbstbestimmung

Als ob das nicht schon genug Probleme wären, gibt es noch einen ganz anderen Aspekt: Das menschliche Bedürfnis nach Selbstbestimmung. Natürlich sage ich nicht, dass alle Mitarbeiter*innen und Führungskräfte den unbedingten Wunsch haben, täglich selbst zu entscheiden und die Konsequenzen zu verantworten. Das wäre offensichtlicher Nonsens. Es gibt aber trotzdem einen schon lange empirisch nachgewiesenen Zusammenhang zwischen der Gesundheit von Angestellten und ihren Optionen selbst- und mitbestimmter Arbeit. Das ist auch kein Wunder. Jeder kann sich selbst fragen, was er oder sie davon halten würde, wenn der Chef nicht nur im Betrieb die Ansagen macht, sondern auch noch über das Privatleben bestimmt. Ich bin mir einigermaßen sicher, dass das nicht auf Begeisterung stoßen würde. Sprich: Die meisten Menschen gehen einfach einen Deal ein, die ansonsten vorhandenen Autonomiebedürfnisse, die jeder gesunde Mensch in einer Demokratie als sein/ihr Recht ansieht, im Betrieb gegen die Zahlung eines Gehalts aufzugeben.

Der organisationale Archetypus

Dieses seltsame Arrangement funktioniert bis heute – weil es sich um einen organisationalen Archetypus handelt. Jeder von uns kennt von der Wiege bis zur Bahre klassische Aufbau- und Ablauforganisationen, aber so gut wie keine alternative Organisations- und Arbeitsformen. Wir alle kennen das Tayloristische Prinzip der Trennung von Denken und Handeln, Planen und Ausführen. Es geht in der Familie los, in der nicht alle Kinder mit ihrem Er-Wachsen zunehmend in die familiären Entscheidungsprozesse eingebunden werden. Dann folgen Kindergarten und Schulen, beide natürlich fast immer ebenfalls mit einem klassischen Organigramm abbildbar. Und so beklagen Kinder und Jugendliche ein Defizit an Partizipation. Dann folgen Berufsausbildung oder Studium, wobei Letzteres glücklicherweise noch prima verschult wurde, so dass die Student*innen bloß keine allzugroßen Entscheidungsfreiheiten mehr haben. Und schwupps sind wir nach 20 bis 25 Jahren beim Arbeitgeber gelandet, der natürlich meistens ebenfalls in Old Work Manier strukturiert und kultiviert ist.

Wundert sich da noch irgendjemand, dass viele Menschen im Kontext ihrer Arbeit infolge andauernder Fremdbestimmung gegen Autonomie und Eigenverantwortung imprägniert sind? Mir erscheint das mehr als plausibel. Ich wüsste nicht, wie es anders sein soll, sofern nicht jemand aus biografisch zufälligen Gründen schon lange vor einer professionellen Old Work Sozialisierung auf seine Autonomie und Freiheit gepocht hat. Langer Rede, kurzer Sinn: Dieser Aspekt der Conditio Humana wird ulkigerweise immer wieder verleugnet, verdrängt oder vergessen, wenn es um hybride Organisationen respektive das Kottersche duale Betriebssystem geht. Wenn die meisten von uns mindestens zwei Jahrzehnte im Sinne althergebrachten Topdowns sozialisiert wurden, ist es wohl kaum ein schlüssiges Argument, dass die meisten Mitarbeiter*innen gar nicht die Verantwortung übernehmen wollen, oder nicht „reif“ dafür wären. Wobei das Konzept der „Reife“ ohnehin fragwürdig ist.

Problem oder Lösung?

Wenn wir die bis hierher kurz reflektierten Aspekte und Widersprüche ins Kalkül ziehen, scheint mir die hybride Organisation eher ein Problem als eine Lösung zu sein. Sie ergibt sich, wie eingangs dargestellt, automatisch aus den aktuell noch gegebenen juristischen Rahmenbedingungen. Damit werden wir solange leben müssen, bis das jeweilige nationale Gesellschaftsrecht reformiert wurde und an die Anforderungen moderner Organisations- und Arbeitsformen angepasst wurde. In der Zwischenzeit gilt es bei Transformationen die Belegschaften genau darauf vorzubereiten und einen halbwegs intelligenten Umgang damit zu entwickeln.

 

Hinweise:

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[1] Im Dialog: Transformation der DB Systel, Teil 1

Dr. Andreas Zeuch hat weitere Beiträge im t2informatik Blog veröffentlicht, u.a.:

t2informatik Blog: Intuition im Projektmanagement

Intuition im Projektmanagement

t2informatik Blog: Was ist New Work?

Was ist New Work?

t2informatik Blog: Demokratie bei strategischen Entscheidungen

Demokratie bei strategischen Entscheidungen

Dr. Andreas Zeuch
Dr. Andreas Zeuch

Dr. Andreas Zeuch ist als freiberuflicher Berater, Trainer, Speaker und Autor tätig. Er begleitet Unternehmen auf ihrem Weg zu mehr Mitbestimmung und Unternehmensdemokratie. Seine Bücher „Alle Macht für niemand. Aufbruch der Unternehmensdemokraten“ und „Feel it!: So viel Intuition verträgt Ihr Unternehmen“ sind Bestseller und liefern viele praktische Beispiele.