Führung und individuelle Resilienz
In diesem Beitrag geht es jenseits der gängigen, jedoch häufig vereinfachten Feststellung aus der Ratgeber-Literatur, dass jeder Mensch für die Verbesserung seiner individuellen Resilienz persönlich verantwortlich sei, da diese trainierbar ist, insbesondere um die Anwendbarkeit und Wirksamkeit des Konzeptes in einer mit dem VUCA-Begriff beschreibbaren Arbeits(um)welt. Konkret lautet daher eine zentrale Fragestellung: Welchen Beitrag kann ein Unternehmen aus Sicht von Führung leisten, um die Abwehr- und Anpassungskräfte von Mitarbeiter:innen angesichts wachsender psychischer Belastungen bei der Arbeit zu stärken?
Resilienz – ein vielschichtiger Begriff
Resilienz leitet sich vom englischen Begriff „resilience“ ab, was so viel bedeutet wie Spannkraft, Elastizität, Strapazierfähigkeit und stammt ursprünglich aus der Physik (Materialkunde). Dort charakterisiert er die Eigenschaft eines festen Stoffes, nach einer äußeren Einwirkung, die seine Form vorübergehend verändert, wieder seine ursprüngliche Form zurückzugewinnen.
Bezogen auf den Menschen liegen eine Vielzahl von Definitionen des Begriffs vor, die im Wesentlichen alle darauf abzielen, den Umgang mit psychischen Belastungen zu beschreiben, dabei aber unterschiedliche Aspekte betonen. So wird Resilienz zum einen als „die Fähigkeit (…) Krisen im Lebenszyklus unter Rückgriff auf persönliche oder sozial vermittelte Ressourcen zu meistern“ (Welter-Enderlin/Hildebrand 2006) verstanden. Soll eher der prozesshafte Charakter des Begriffs verdeutlicht werden, bezeichnet Resilienz zum anderen „die Aufrechterhaltung und Wiederherstellung psychischer Gesundheit während oder nach stressvollen Lebensereignissen“ (Leibniz Institut für Resilienzforschung o.J.).
Zu beachten ist hierbei, dass nicht die kritischen Lebensereignisse selbst, welche sowohl „typische biographische Veränderungen (…) oder auch traumatische Erfahrungen“ (Pschyrembel Online o.J.) sein können, eine Krise bewirken: Entscheidend ist vielmehr „wie Betroffene zum einen die Geschehnisse und zum anderen ihre Fähigkeiten, die Situation zu bewältigen, bewerten“ (Siegrist/Luitjens 2018). Wird ein Ereignis vom Betroffenen als bedrohlich eingeschätzt und erscheint eine angemessene Reaktion als nicht möglich, löst dies eine psychische Krise aus.
Resilienz zeigt sich also in der Art und Weise der Anpassung eines Menschen an eine psychische Belastung, bzw. deren negative Beanspruchungsfolgen nicht aber in einem generellen Fehlen eines Krisenerlebens.
Die Bewältigungsreaktion auf eine psychische Krise durch Menschen mit hoher Resilienz zeichnet sich dadurch aus, dass entweder die Leistungsfähigkeit schneller wieder hergestellt ist oder die Leistungsfähigkeit in einem höheren Maße erhalten bleibt und gar nicht erst so stark abfällt, wie im Normalverlauf.
Für die Messung und Erfassung von Resilienz liegen zahlreiche Skalen vor, die unterschiedliche Kriterien und häufig eine siebenstufige Likert-Skala (von 1: „Ich stimme nicht zu“ bis 7: „Ich stimme vollständig zu“) für die Beantwortung der Fragen nutzen (Rolfe 2019). Kritisch zu hinterfragen ist, inwieweit die verschiedenen Messungen geeignet sind, individuelle Resilienz vor und nach einer Krise festzustellen, wenn die Fragestellungen stark auf positive Personenmerkmale abgestellt sind.
Resilienzmodelle
In der Literatur werden unterschiedliche Resilienzmodelle verwendet, die verschiedene Faktoren heranziehen, um starke Abwehrkräfte gegenüber Stressoren und kritischen Lebensereignissen zu begründen. Das Modell 3 + 7 nach Heller (2019) greift dabei auf die klassischen Resilienzschlüssel zurück, die die kognitive Dimension, die verhaltensbezogene und die kontextuelle Dimension betreffen.
7 Resilienzschlüssel nach Heller (2012)
Diese werden um die drei Faktoren: Achtsamkeit, Ungewissheitstoleranz und Veränderungsbereitschaft erweitert, „die einen Reflexionsrahmen zur Identifizierung von Ansatzmöglichkeiten zur Resilienzstärkung“ (Heller 2019) bieten und vor dem Hintergrund der veränderten Bedingungen in einer volatilen, unsicheren, komplexen, mehrdeutigen Umwelt relevant sind. Der Wandel der Erwerbsarbeit kann in dieser Perspektive anhand der Stichworte: Digitalisierung, Beschleunigung, Wettbewerb und Subjektivierung beschrieben werden (Hurtienne/Koch 2018).
Soucek et al. (2016) haben für den Arbeitskontext ein Modell auf der Ebene von Individuen entwickelt, das zwischen personalen Ressourcen und individuellem Verhalten bei der Arbeit unterscheidet, diese aber in einer integrierten Sichtweise miteinander verbindet.
Die personalen Ressourcen Selbstwirksamkeit, Optimismus und Achtsamkeit fördern resilientes Verhalten bei der Arbeit mit den vier Facetten:
- Emotionale Bewältigung,
- positive Umdeutung,
- umfassende Planung und
- fokussierte Umsetzung
und leisten gemeinsam einen Beitrag zur Bewältigung arbeitsbezogener Herausforderungen und zu psychischer Gesundheit.
Training und Kontextualität
Unstrittig ist, dass Resilienz grundsätzlich trainierbar ist. Der Anteil individueller Resilienz, der durch die Persönlichkeit bestimmt ist und als „rohe Resilienz“ (Draht 2018) bezeichnet werden kann, die dem Individuum nur schwer zugänglich und willentlich veränderbar ist, liegt wahrscheinlich bei mindestens 30 Prozent (Gilan/Helmreich 2021). Davon abzugrenzen ist die „erarbeitete Resilienz“ (Draht 2018) als Kombination von Selbstwahrnehmung und Selbststeuerung. Eine Vielzahl von vereinfachten, zielgruppenunspezifischen Trainingsangeboten verbleiben mit einer Verheißung von Selbstoptimierung grundsätzlich auf der Ebene persönlicher Schutzfaktoren von Individuen und blenden gezielt fremdbestimmte und persönlich nicht beeinflussbare Rahmenbedingungen aus.
Um den Lebenshintergrund von Menschen als Ganzes zu erfassen, müssen auch die arbeitsbezogenen Kontextfaktoren und die davon ausgehenden psychischen Belastungen berücksichtigt werden. Psychische Faktoren der Arbeitsbelastung können grundsätzlich den vier Themenfeldern
- Arbeitsaufgabe,
- Arbeitszeit,
- technische Faktoren und
- Führung
zugeordnet werden, die zueinander in Wechselwirkung stehen. Die spezifischen Arbeitsbedingungen wirken dabei entweder als Stressoren oder Ressourcen, die kurzfristig negative (Stressoren) oder positive (Ressourcen) Wirkungen auf den arbeitenden Menschen haben und längerfristig die psychische Gesundheit beeinträchtigen oder stabilisieren.
„Die heutige Arbeitswelt ist durch hohe und wechselnde Anforderungen charakterisiert, welche die psychische Gesundheit der Beschäftigten gefährden“ (Soucek et al. 2016). Daher sind neben der Vermittlung von Wissensbeständen und persönlichen Strategien im Umgang mit Krisen auch die möglichen Stellschrauben eines Unternehmens zur Förderung der Resilienz von Mitarbeiter:innen zu betrachten. Dabei wird angenommen, dass sich die individuelle Resilienz durch organisationale Strukturen beeinflussen lässt und Veränderungen von Rahmenbedingungen, die die Erbringung von Erwerbsarbeit in Unternehmen bestimmen, die Resilienz von Mitarbeiter:innen steigern (Soucek et al. 2016). Aus organisationspsychologischer Sicht liegt eine Vielzahl von Ansatzpunkten vor, damit Beschäftigte die vorhandenen Arbeitsbelastungen und deren negative Wirkungen im Sinne einer Stärkung der individuellen Resilienz besser bewältigen können. Führung ist hier als ein zentraler Einflussfaktor für die psychische Gesundheit der Beschäftigten zu benennen.
Ein Thema von Führung
Hierzu wird diskutiert, dass die „Laissez Faire Führung“ und die „Autokratische Führung“ grundsätzlich negative Folgen auf die Gesundheit von Mitarbeiter:innen haben können, während verschiedene andere Konzepte von Führung die Resilienz der Beschäftigten stabilisieren und die Beeinträchtigung des Befindens verringern können.
Resilienzfördernde Führung wird aus der Sicht der Positiven Psychologie von mehreren Führungskonzepten beeinflusst.
Resiliente Führung beeinflussende Führungskonzepte nach Rolfe (2019)
Da Rolfe (2019) zu Recht inhaltliche Überschneidungen einzelner o.g. Führungskonzepte betont und herausstellt, dass Resilienz und Agilität aufeinander einwirken, soll hier VOPA+ „als eine adäquate Führungskultur im digitalen Zeitalter“ (Petry 2016) ergänzt werden: Führungskräfte vertrauen den Mitarbeiter:innen, schaffen Vernetzung, sind offen für Ideen, antizipieren notwendige Anpassungen, agieren flexibel und proaktiv (Agilität) und ermöglichen Teilhabe an Entscheidungsprozessen (Partizipation).
Unabhängig von einem Bezug auf einzelne Führungskonzepte ist festzustellen: „Resilienzorientierte Führung sieht den ganzen Menschen mit all seinen Stärken und Limitierungen und ist bemüht, die verschiedenen neurobiologischen Grundbedürfnisse einer Person möglichst individuell anzusprechen“ (Draht 2018). Ziel ist es, Vertrauen und Identifikation zu erzeugen und für eine nachhaltig gute Leistungsfähigkeit von Mitarbeiter:innen zu sorgen, ohne dass diese dauerhaft an ihren Grenzen agieren müssen. Führungsverhalten wirkt dann auf die Gesundheit von Mitarbeiter:innen, wenn es gelingt, deren psychologische Grundbedürfnisse nach Bindung/Zugehörigkeit, nach Orientierung/Kontrolle, nach Selbstwerterhöhung und -schutz und nach Lustgewinnung und Unlustvermeidung (Grawe 2000) angemessen zu berücksichtigen. Sind Beschäftigte resilient, wirkt sich dies schließlich sowohl positiv auf die Leistungsfähigkeit als auch auf die Gesundheit aus.
Auf Grundlage einer dynamischen Denkweise und eines entsprechenden Mindsets (Hofert 2018) kommt Führungskräften die Aufgabe zu, für das Vorhandensein derjenigen Faktoren zu sorgen, die die Resilienz der Mitarbeiter:innen stärken. Die Handlungsmöglichkeiten, die hier aufgezeigt werden, sind unabhängig von der Größe des Unternehmens oder der Branchenzugehörigkeit anzuwenden.
Konkrete Handlungsmöglichkeiten für resilienzorientierte Führungskräfte
Als Vorbild im Umgang mit eigenen Emotionen und Ressourcen agieren:
- Führungskräfte sind sich ihrer Vorbildrolle bewusst und stellen sich in Bezug auf Ihre individuelle Resilienz regelmäßig auf den Prüfstand (Reflexion).
- Sie stärken ihre Selbstführung (gedanklich und emotional) als Zusammenspiel von Selbstwahrnehmung und Selbststeuerung.
Sinn und Orientierung vermitteln:
- Führungskräfte vermitteln Orientierung und sorgen dafür, dass Handlungsoptionen verstanden werden, um die Selbstwirksamkeit von Mitarbeiter:innen zu stärken. Sie vermitteln Sinn, kommunizieren den Zweck und die Vision des Unternehmens und schaffen damit die Voraussetzung für Motivation und die emotionale Bindung von Mitarbeiter:innen.
Autonomie stärken:
- Führungskräfte stärken die Eigenverantwortung und die Selbstbestimmung der Mitarbeiter:innen durch Eigenständigkeit von Entscheidungen.
Vertrauensvolle Beziehungen stärken:
- Führungskräfte verfahren nach dem Prinzip „trust breeds trust“ („Vertrauen schafft Vertrauen“). Sie handeln zuverlässig, offen und mitfühlend, um die Beziehungen zu den Mitarbeiter:innen zu fördern.
Stärkenorientierung:
- Führungskräfte anerkennen die Vielfalt der Mitarbeiter:innen und ihrer Potenziale. Sie erkennen die individuellen Talente von Mitarbeiter:innen und nutzen deren Stärken umsichtig.
Gelungene Kommunikation:
- Führungskräfte kommunizieren auf Augenhöhe und sorgen für Transparenz. Sie kultivieren vorurteilsfreies Zuhören und sprechen eigenes Nicht-Wissen offen an und geben und nehmen regelmäßig Feedback.
Wertschätzung:
- Führungskräfte nutzen die ‚Sprache der Wertschätzung‘: Ungeteilte Aufmerksamkeit, Hilfsbereitschaft, Gesten, die berühren, kräftigende und anerkennende Worte, physical touch (aktuelle Grenzen durch Corona-Pandemie).
Fairness:
- Führungskräfte sorgen für Verteilungsgerechtigkeit (Ergebnisfairness), prozedurale Gerechtigkeit (Verfahrensfairness), informationelle Gerechtigkeit (Informationsfairness) und interpersonelle Fairness (Umgang miteinander).
Um individuelle Resilienz nachhaltig in Unternehmen zu verankern, werden neben resilienzorientierter Führung auch Strukturen und Prozesse, wie ein wirksames Betriebliches Gesundheitsmanagement, eine konstruktive Fehlerkultur und eine zukunftsorientierte Personalentwicklung benötigt, um mögliche psychische Belastungen in der Arbeit wirksam abzupuffern.
Fazit
Führungskräfte sollten aus einer kritischen Perspektive ein positiv-realistisches Verständnis von Resilienz entwickeln: Individuelle Resilienz ist zwar kein Allheilmittel für alle Menschen oder in jeder persönlichen Belastungssituation, gewinnt jedoch vor dem Hintergrund einer dynamischen und komplexen Arbeitswelt an Bedeutung.
Neben der gezielten Vermittlung resilienzfördernder Strategien ist Führung gefragt, also Leadership statt Management, um die individuelle Resilienz von Mitarbeiter:innen in Unternehmen zu stärken. Gerade in einer Zeit, in der mehr Resilienz gefordert und manchmal auch gefördert wird, sind wir wie Graefe (2019) schreibt, alle aufgefordert, „uns nicht anzupassen und abzufinden mit der Welt, in der wir leben, sondern im Gegenteil darauf zu bestehen, dass wir Sie verändern können – nicht etwa, weil wir vollständig souverän und rational oder aber ausgesetzt, ohnmächtig und unwissend wären, sondern weil wir beides sind: autonom und abhängig, verletzlich und trotzdem handlungsfähig, unwissend und vernunftbegabt“.
Hinweise:
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Stephan Pust führt zielgruppenspezifische Resilienz-Seminare für Organisationen, Wissensarbeiter:innen und deren Führungskräfte durch. Details finden Sie auf https://tbt-pust.de/.
Literatur:
Draht, Karsten (2018): Die resiliente Organisation.
Gilan, Donya, Helmreich, Isabelle (2021): Resilienz die Kunst der Widerstandskraft. Was die Wissenschaft dazu sagt.
Graefe, Stefanie (2019): Resilienz im Krisenkapitalismus. Wider das Lob der Anpassungsfähigkeit.
Gunkel, Ludwig et al. (2014): Resiliente Beschäftigte. Eine Aufgabe für Unternehmen, Führungskräfte und Beschäftigte.
Heller, Jutta (2012): Resilienz. 7 Schlüssel für mehr innere Stärke.
Heller, Jutta /Gallenmüller, Nina (2019): Resilienz-Coaching: zwischen „Händchenhalten“ für Einzelne und Kulturentwicklung von Organisationen.
In: Heller, Jutta (Hrsg.) Resilienz für die VUCA Welt. Individuelle und organisationale Resilienz entwickeln.
Hofert, Svenja (2018): Das agile Mindset. Mitarbeiter entwickeln, Zukunft der Arbeit gestalten.
Hurtienne, Jörn / Koch, Katharina (2018): Resilienz.
In: Karidi, Maria et al. (Hrsg.) Resilienz. Interdisziplinäre Perspektiven zu Wandel und Transformation.
Kals, Ursula (2020): Was sollen Führungskräfte in der Krise tun?
In FAZ: https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/buero-co/was-sollen-fuehrungskraefte-in-der-corona-krise-tun-16714466.html (Zugriff Dezember 2021)
Leibniz-Institut für Resilienzforschung Online (o.J.): Stichwort Resilienz. https://lir-mainz.de/resilienz (Zugriff Dezember 2021)
Petry, Thorsten (2016): Digital Leadership. Unternehmens- und Personalführung in der Digital Economy.
In: Petry, Thorsten (Hrsg.) Digital Leadership.
Pschyrembel Online (o.J.): Kritische Lebensereignisse. https://www.pschyrembel.de (Zugriff Dezember 2021)
Rolfe, Mirjam (2019): Positive Psychologie und organisationale Resilienz. Stürmische Zeiten besser meistern.
Siegrist, Ulrich / Luitjens, Martin (2016): Resilienz
Welter-Enderlin, Rosemarie / Hildebrand, Bruno (2006): Resilienz. Gedeihen trotz widriger Umstände.
Stephan Pust hat weitere Beiträge im t2informatik Blog veröffentlicht:
Stephan Pust
Stephan Pust war lange Zeit Führungskraft in der IT. Heute unterstützt er als freiberuflicher Trainer und Berater Führungskräfte beim organisationalen Wandel und als Impulsgeber für Veränderungen in der neuen Arbeitswelt. Dabei kommt ihm auch seine umfangreiche Erfahrung als Prozessmanager zu Gute. Außerdem ist er als Lehrbeauftragter für verschiedene Universitäten in Niedersachen tätig, um seine beruflichen und persönlichen Erfahrungen an zukünftige Fach- und Führungskräfte weiterzugeben.