Der Gestaltungswunsch von Führungskräften

Gastbeitrag von | 26.06.2023

„Was motiviert Sie, Führungskraft sein zu wollen?“

Diese Frage stelle ich gerne zu Beginn meiner Workshops mit Führungskräften.

In den vergangenen drei Jahren habe ich viele Workshops mit Menschen aus unterschiedlichsten Branchen durchgeführt. In der einen oder anderen Form drehte es sich dabei immer um agile Transformation, wie sie gestaltet werden kann, und welche Rolle das Management innerhalb des Veränderungsprozesses einnehmen könnte oder sollte.

Natürlich wissen die Teilnehmer meiner Workshops, dass wir uns über Agilität austauschen, und die meisten haben zumindest eine vage Vorstellung davon, was Führung im agilen Kontext bedeutet. Die Antworten auf meine Frage sind damit sicherlich durch das Setting und den Kontext beeinflusst. Stärker noch als dieser Bias, dürfte zudem die soziale Kontrolle sein, die wir uns selbst auferlegen. Niemand mag offen zugeben, dass man Führungskraft sein möchte, um Macht über andere Menschen auszuüben. Tatsächlich habe ich eine solche Antwort auch noch nie erhalten.

Es gab und gibt jedoch eine Antwort, die – in der einen oder anderen Variante – wirklich signifikant häufig gegeben wird. Vielleicht halten Sie kurz inne und reflektieren die Frage „Was motiviert mich, Führungskraft sein zu wollen“, bevor Sie weiterlesen… 

Die Antwort, die ich am häufigsten erhalte, lautet: „Ich möchte gestalten“.

Der Gestaltungswunsch und die Hierarchiepyramide

Hinterfragen wir „Ich möchte gestalten“ als Motivation, eine Führungskraft oder ein Manager sein zu wollen, so stellen wir fest, dass diese einiges über das Organisationssystem aussagt, innerhalb dessen meine Workshop-Teilnehmer typischerweise agieren.

Nehmen wir zunächst die Mitarbeiterperspektive ein: Offensichtlich ist es in den Organisationen nötig, Führungskraft zu werden, um gestalten zu können. Folglich können Mitarbeiter weniger oder gar nicht gestalten und dienen ihrer Führungskraft bei der Ausübung ihres Gestaltungswillens und ihrer Gestaltungsspielräume.

Die Perspektive der Führungskraft verhält sich spiegelbildlich: Einmal mit diesem Status versehen, kann sie gestalten, zumindest graduell mehr als die Mitarbeiter, die ihr anvertraut sind. Sie werden benutzt, um den Gestaltungswillen der Führungskraft ausleben zu können.

Denken wir das System in der Hierarchie bis zur Spitze: Auf jeder Ebene finden sich Menschen mit Gestaltungswillen, aber lediglich eingeschränkten Möglichkeiten zur Gestaltung. Die Einschränkungen nehmen mit jeder Hierarchieebene ab, die Führungskräfte näher an die Unternehmensführung heranrücken.

Auf den jeweiligen Hierarchieebenen, abgesehen von der untersten, habe ich also Menschen, die dort sind, weil sie ihren Gestaltungswillen ausleben möchten. Solange sie noch nicht an der Spitze der Hierarchiepyramide stehen, bleiben sie eingeschränkt – nicht nur durch die Führungskraft über ihnen, sondern auch durch die Führungskräfte auf derselben Ebene, die ja über gleichwertige Gestaltungsrechte verfügen.

Interessant ist noch die Fragestellung, wie in einer solchen Organisation die Entscheidung gefällt wird, wer mehr oder weniger gestalten darf, oder in Übersetzung auf die Systemlogik, wer höher oder niedriger in der Hierarchie steht. Offensichtlich ist es für den Aufstieg nötig, dass der einzelne Mitarbeiter auf seiner Hierarchieebene heraussticht in der Umsetzung seiner Gestaltungskompetenz in dem ihm gesteckten Rahmen, was ihn dann letztlich dazu adelt, mehr Spielräume zu erhalten.

Die Wirkung des Gestaltungsprinzips

Die Darstellung ist zugegebenermaßen so zugespitzt, dass es unwahrscheinlich erscheint, dass ein Workshop-Teilnehmer, einmal mit dieser Analyse konfrontiert, seinen Gestaltungswunsch wirklich so verstanden haben möchte.

Ich behaupte, dass es aber dennoch den tatsächlichen Umständen sehr nahe kommt. Dies wird deutlich, wenn wir uns die organisationelle Realität vor Augen führen, der wir häufig in unserem Alltag begegnen:

Das Gestaltungsprinzip wird in typischen Konflikten auf allen Ebenen sichtbar. Es beschränkt den Mitarbeiter, der dem Gestaltungswillen anderer ausgesetzt ist und trägt so, sofern der Mitarbeiter ambitioniert ist, zu Unzufriedenheiten bei. Auf allen Führungsebenen ist es ein Treiber des Stakeholdertums: Der Manager möchte seinen Gestaltungsraum nicht hergeben und insbesondere auch niemand anderen in seinem Gestaltungsraum wirken lassen. Er ist ja gerade Vorgesetzter geworden, um diesen Gestaltungsraum zu haben.

„Gestalten“ hat in diesem Sinne auch nie etwas mit Menschen zu tun, was das generelle Phänomen plausibilisiert, dass in der Regel eher fachliche Exzellenz der Treiber für hierarchischen Aufstieg ist als zwischenmenschliche Kompetenz. Letztere – und auch das entspricht der gängigen Erfahrung in konventionellen Organisationen – ist eher von Bedeutung, um die eigene Leistung im rechten Licht erscheinen zu lassen (und damit die persönliche Gestaltungsfähigkeit) und weniger, um tatsächliche Führung auszuüben. In der Führung der Mitarbeiter kann eine eventuell bestehende soziale Kompetenz durchaus eine Rolle spielen, sie wirkt aber immer, da es ja um Gestaltung geht, bestenfalls als Mittel zum Zweck und in ihrer Ausübung nicht als Selbstzweck in der Führungsaufgabe.

Letztlich besteht eine maßgebliche Schwierigkeit des Gestaltungsprinzips in der individualistischen Komponente, die es in sich trägt. Die aufstrebende Führungskraft möchte ihren persönlichen Gestaltungsvorstellungen entsprechen, die häufig genug nicht im Einklang mit den Unternehmenszielen stehen, sondern geprägt sind von Individualinteressen. Haben Sie sich schon mal, warum es so wenige funktionierende Managementteams gibt? Dies mag einer der Gründe dafür sein. Tom DeMarco und Timothy Lister haben bereits in den achtziger Jahren hierzu – wenn auch nicht weiter begründet – einen Erfahrungswert geteilt:

“For all talk about management teams, there really is no such thing … „¹

Mit steigender Hierarchie mehr Gestaltungsspielraum für Führungskräfte?

Wenden wir uns der Frage zu, ob in einer gelebten Realität, in der das Gestaltungsprinzip das führende Motiv der Führungskräfte ist, es sich tatsächlich so darstellt, dass der Gestaltungsspielraum mit hierarchischem Aufstieg größer wird.

Stellen wir uns eine Gruppe von Führungskräften auf einer Hierarchieebene vor, die davon getrieben sind, möglichst viel individuell gestalten zu können. Überlassen wir diese Gruppe dem freien Spiel der Kräfte, so wird sich ganz von alleine eine Wettbewerbssituation einstellen – denn der Gestaltungsspielraum des einen, begrent den Spielraum der anderen.

Je mehr die Handelnden der Gruppe in den unter ihnen herrschenden Wettbewerb investieren müssen, desto eher werden sie diesen aber als echte Einschränkung ihres Gestaltungsspielraums wahrnehmen. Jeder Aufwand, ob zeitlich oder intellektuell, der in die Verteidigung des Gestaltungsspielraums fließt, steht letztlich zur Nutzung desselben nicht mehr zur Verfügung. Ab einer gewissen Intensität des Wettbewerbs bindet dieser so viele Kräfte, dass es die einzelne Führungskraft sogar so empfinden muss, dass sie faktisch einen geringeren Spielraum nutzen kann, als es ihr vor der Beförderung möglich war.

Der Wettbewerb als solcher kann durch unterschiedliche Führungsmuster des Vorgesetzten der Gruppe beeinflusst werden. Im Kern reicht es bereits, dass er der Tatsache, dass ein Wettbewerb zwischen seinen Untergebenen tobt, schlichtweg gleichgültig gegenübersteht. Er kann den Wettbewerb aber auch gutheißen und gezielt befeuern, so z. B. durch erratische Bevorzugung des einen oder anderen, asymmetrischer Informationsverteilung oder bewusster Steuerung nach dem Prinzip „Teile und Herrsche“.

So können wir feststellen, dass ein System, das dem Gestaltungsprinzip folgt, große Gefahr läuft, sich selbst zu konterkarieren. Die durch den Gestaltungswunsch getriebenen Führungskräfte fahren sich auf der mittleren Managementebene gegenseitig fest. Erleichterung entsteht erst dann, wenn die Person die Lehrschicht durchdringt und solange in der Hierarchie aufsteigt, bis Sie ganz an der Spitze der Organisation landet.

Etwas für normal halten, was nicht normal sein sollte

Hätte man mich vor 20 Jahren gefragt, was mich in meiner Rolle als Führungskraft motiviert, so hätte ich die Frage ebenfalls mit „Ich will gestalten“ beantwortet. Ich war getrieben von dem Bild, dass der hierarchische Aufstieg mir automatisch mehr Handlungsspielräume eröffnen würde.

So erlebte ich das, was ich soeben theoretisch abgeleitet habe, am Höhepunkt meiner Karriere als Angestellter in der Praxis. Als Mitglied einer elfköpfigen Geschäftsleitung, der dreiköpfige Vorstand war Teil dieser Gruppe, zerfleischten wir uns im Kampf um unsere Pfründe systematisch gegenseitig. Der Vorstand war zwar hervorgehoben und letztlich final entscheidend, zeigte jedoch ein Verhalten, dass – wie zuvor beschrieben – den Wettbewerb eher verschärfte als beruhigte. Wenn er sich nicht gerade selbst mit einem inneren Wettbewerb ausbremste und die anderen Geschäftsleitungsmitglieder sich selbst überließ, befeuerte er den Wettbewerb noch durch eine fatale Mischung aus Klientelwirtschaft und Gleichgültigkeit.

Erstaunlich dabei ist, dass Menschen, die motiviert sind und gestalten wollen, sich in einer solchen Falle verstricken und es noch nicht einmal bemerken. Bei mir stellte sich ein Fatalismus ein, gegründet auf dem festen Glauben, dass es offensichtlich genau so sein müsste, obwohl es nur geringer Anstrengung bedurft hätte, zu erkennen, dass das eigene Handeln vollständig unproduktiv und somit faktisch geschäftsschädigend ist.

Wenn die Führungskraft in dieser Situation das politische Ränkespiel genießt, dann mag sie darin sogar Erfüllung finden. Der Gestaltungswille wird damit auf eine persönlichen Machterhaltung ausgerichtet. Ich habe darin nie Erfüllung gefunden.

Es gab auch kein Erweckungsmoment. Irgendwann realisierte ich, dass ich 80 % meiner Zeit tatsächlich in unproduktive politische Spielchen investierte. Diese Erkenntnis allein reichte jedoch nicht, um mich selbst aus dieser Situation zu befreien. Am Ende gelang es aber doch.

Ich will immer noch gestalten!

Sehen wir der Tatsache ins Auge: Eigentlich möchte ich immer noch gestalten, da bin ich mir im Kern treu geblieben. Mit den Jahren habe ich aber einen anderen Zugang gefunden, wie dies sich in meinem Führungshandeln so abbildet, dass die beschriebenen Effekte ausbleiben.

Was ich mir für mich und auch für alle Mitarbeiter wünsche, ist Autonomie. Anders als der Gestaltungsbegriff umfasst die Autonomie die Selbstregulierung und die Achtung der Regeln der Gesellschaft innerhalb derer ich mich bewege.² Nach diesem Verständnis der Autonomie ist die Bewegungsfreiheit des Einzelnen ganz automatisch durch die Bewegung der anderen eingeschränkt. Diese Rücksichtnahme kennt das individualistische Gestaltungsprinzip nicht.

Ich möchte frei sein in meinem Handeln, eingeschränkt nur durch die Regeln des Systems. Als Führungskraft setze ich mich dabei in der Welt, die ich versuche um mich herum herzustellen, nicht von den Mitarbeitern ab. Wir teilen uns alle denselben Tanzbereich.

Was mich abgrenzt ist die Tatsache, dass ich maßgeblich die Grundregeln und die äußeren Leitplanken des Systems, die Grenzen des Tanzbereichs (mit)bestimme. Dieses Recht kommt mir aber eher aufgrund meiner Eigenschaft als Unternehmer zu.

Gestalten im ursprünglichen Sinne, ganz nach dem Gestaltungsprinzip, möchte ich letztlich noch in einer Hinsicht: Ich möchte ein Umfeld gestalten, welches allen Beteiligten autonomes Handeln ermöglicht.

 

Hinweise:

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[1] DeMarco, Tom; Lister, Timothy, “Peopleware – Productive Projects and Teams”, 3rd Edition, Addison Wesley, 2013, S. 149
[2] Autonomie verstanden im Kantschen Sinne

Dr. Stefan Barth hat zwei weitere Beiträge im t2informatik Blog veröffentlicht:

t2informatik Blog: Weg mit den Budgets

Weg mit den Budgets

t2informatik Blog: Herausforderungen bei der Ablösung von IT-Altsystemen

Herausforderungen bei der Ablösung von IT-Altsystemen

Dr. Stefan Barth
Dr. Stefan Barth

Dr. Stefan Barth ist COO der Qvest Digital AG und treibt die agile Transformation der Organisation voran. Zuvor war er als Berater, Start-Up Mitgründer, Mitglied der Geschäftsleitung eines TecDAX-Unternehmens sowie Einzelunternehmer tätig. Zunächst aus der Welt der klassischen Führung kommend, veränderte er seine Haltung und erarbeitete sich über verschiedenste Mandate Erfahrungen in agilen Transformationsprozessen und der Steuerung von agilen Organisationen. Sein Know-how vermittelt er in Beratungsprojekten, Vorträgen und Artikeln.