Der Berater – die eierlegende Wollmilchsau?
Die Ermittlung der Anforderungen, deren Dokumentation und Verwaltung ist eine überaus wichtige Tätigkeit im IT-Projekt: Der Berater sammelt die Anforderungen an das Produkt und stimmt sie mit den Beteiligten und Betroffenen ab. Nur so kann zielstrebig und effizient auf dieser Grundlage genau das richtige Ergebnis geliefert werden.
Um zu untersuchen, wer üblicherweise für das Requirements Engineering eingestellt wird, welche Aufgaben er sonst noch bekommt und welche Vorkenntnisse dafür vorausgesetzt werden, führte ich 2009 meine erste Stellenanzeigenstudie zu diesem Thema durch. Ich analysierte IT-Stellenanzeigen aus dem deutschsprachigen Raum. Daraus wurde eine Serie, indem ich die Untersuchung alle drei Jahre wiederhole. Um mit der Situation in anderen Ländern zu vergleichen, haben Kolleginnen entsprechende Studien in den Niederlanden, Kanada, Brasilien, Mexiko und China durchgeführt. Die Ergebnisse fallen weltweit recht ähnlich aus.
Berater arbeiten im Requirements Engineering
Zunächst wurde untersucht, welche Position im Titel der Stellenanzeigen angegeben war, wenn in der Tätigkeitsbeschreibung Aufgaben aus dem Bereich des Requirements Engineering genannt wurden. Obwohl es in manchen – insbesondere in größeren – Unternehmen Positionen für
- Requirements Engineers und
- Product Owner
gibt, deren Hauptaufgabe das Requirements Engineering darstellt (nur wenige Prozent der Stellen), wird diese Tätigkeit doch zumeist von
- Beratern (bzw. Analysten)
ausgeübt, aber auch von
- Entwicklern,
- Software Engineers und
- Projektleitern,
- Administratoren und
- Architekten
(in dieser Reihenfolge der Häufigkeit). Requirements Engineer ist also eher keine Position, sondern eine Rolle bzw. Tätigkeit unter vielen innerhalb eines Projektes.
Das Requirements Engineering als eine von vielen Tätigkeiten
Laut den Stellenanzeigen wird das Requirements Engineering zusätzlich zu zahlreichen weiteren Aufgaben erledigt, im Durchschnitt noch drei weitere. Am häufigsten sind hierbei
- Lösungsentwurf (60-80%) und
- Implementierung (40-70 %), dann
- Projektmanagement (30-50 %) und
- Qualitätssicherung (35-45 %).
Das kann von Vorteil sein, weil so Wissen wiederverwendet wird, doch solche Doppelrollen bringen auch Zielkonflikte mit sich. Als Requirements Engineer möchte man die Anwender glücklich machen, als Projektleiter eher Budget sparen.
Requirements-Engineering-Wissen nicht verlangt
Nur rund ein Drittel der Stellenanzeigen fordern ausdrücklich Requirements-Engineeering-Kompetenzen wie z. B. eine bestimmte Notation, Erfahrung mit einem Werkzeug oder ein Zertifikat. Wenn, dann wird zumeist pauschal „Erfahrung mit Requirements Engineering“ oder „Requirements-Engineering-Wissen“ gefordert. Die Tätigkeit im Requirements Engineering wird verstärkt auch für Berufsanfänger ausgeschrieben. Der Anteil der Stellenanzeigen, die vorherige Berufserfahrung fordern, ist von 72 % (2009) auf 48 % (2018) gesunken.
Im Gegensatz zu den unterschätzten Requirements-Engineering-Kenntnissen sind die beiden am häufigsten gewünschten Kompetenzen eine Liste von durchschnittlich fünf Softskills (ca. 90 % der Anzeigen) und technische Kenntnisse (knapp 80 %). Die fünf am häufigsten genannten Softskills sind:
- Englisch,
- Deutsch,
- Teamfähigkeit,
- Selbstorganisation und
- Kommunikationsfähigkeit.
Und in der Praxis?
Eine Stellenanzeige ist noch keine Stellenbeschreibung. In Zeiten von Fachkräftemangel macht es durchaus Sinn, in der Stellenanzeige mehr mögliche Aufgaben und weniger nötige Kompetenzen zu nennen, als später zu der Stelle dazu gehören. Untersuchungen zum Requirements Engineering in der Praxis ergeben allerdings ein ähnliches Bild wie die Stellenanzeigen, wenn auch weniger dramatisch. Mehrfachrollen sind üblich, das Requirements Engineering ist nur selten die einzige Aufgabe. Die in der Stellenanzeige nicht geforderten Fähigkeiten werden teilweise nachgeschult.
Internationaler Vergleich und Trends ab 2009
Im internationalen Vergleich mit ähnlichen Studien und auch im zeitlichen Vergleich ab 2009 zeigen sich keine eindeutigen Unterschiede oder Trends, und das obwohl das Requirements Engineering große Fortschritte gemacht und sich verändert hat: Neue Standards sind entstanden, Werkzeuge und Methoden. Eine zunehmende Professionalisierung des Requirements Engineering in der Praxis und die Ausbreitung der agilen Entwicklung sollten sich eigentlich in den Stellenanzeigen niederschlagen, was bisher noch nicht zu beobachten war. Entweder hinkt die Praxis hinter ihren Möglichkeiten her oder die Stellenanzeigen hinken hinter der Praxis her, indem frühere Texte wiederverwendet werden.
Schlussfolgerungen
Alles in allem deuten die Stellenanzeigen an, dass die Bedeutung und Schwierigkeit der Tätigkeit im Requirements Engineering in der Praxis noch immer unterschätzt wird. Der Mitarbeiter, der die Anforderungen ermittelt und verwaltet, wird vor allem nach seinen technischen Kenntnissen ausgewählt und arbeitet noch an zahlreichen weiteren Aufgaben. Als gäbe es nur eine einzige Art, Requirements Engineering zu betreiben, wird von ihm kein spezifisches Vorwissen, sondern nur pauschal Erfahrung in dieser Tätigkeit gefordert. Der Berater als eierlegende Wollmilchsau.
Vielleicht gibt es im Unternehmen ohnehin keine abgestimmte, vorgeschriebene Vorgehensweise, sondern man hofft, der Neue würde aufgrund seiner Erfahrung schon alles richtig machen. Dabei gäbe ein Hinweis auf das im Unternehmen übliche Vorgehensmodell und Requirements-Engineering-Techniken und -Werkzeuge dem Bewerber ein klares Bild von der Arbeitsweise, genauso wie die Liste der geforderten technischen Kenntnisse (Programmiersprachen und Werkzeuge) das auch tun.
Zum Weiterlesen:
Andrea Herrmann, Maya Daneva, Chong Wang, Nelly Condori-Fernandez (2020) Requirements Engineering in Job Offers. Requirements Engineering Magazine, 16. September 2020, https://re-magazine.ireb.org/articles/requirements-engineering-in-job-offers
Maya Daneva, Andrea Herrmann, Nelly Condori-Fernández, Chong Wang (2019) Understanding the Most In-demand Soft Skills in Requirements Engineering Practice: Insights from Two Focus Groups, In Proc. of the Evaluation and Assessment on Software Engineering (EASE 2019), Copenhagen, Denmark, April 15-17, ACM, pp. 284-290.
C. Wang, P. Cui, M. Daneva, M. Kassab (2018) Understanding what industry wants from requirements engineers: an exploration of RE jobs in Canada. In Proc. of 12th International Symposium on Empirical Software Engineering and Measurement (ESEM’18). ACM, Oulu, Finland, 41:1-41:10.
M. Daneva, C. Wang, P. Hoener (2017) What the Job Market Wants from Requirements Engineers? An Empirical Analysis of Online Job Ads from the Netherlands. Proceedings of ESEM.
Calazans, R. Paldês, E. Masson, I. S. Brito, K. F. Rezende, E. Braosi, N. I. Pereira (2017) Software Requirements Analyst Profile: a descriptive study of Brazil and Mexico. Requirements Engineering Conference 2017, pp. 196-204
Andrea Herrmann, Marcel Weber (2016) Requirements Engineering in German Job Advertisements. Requirements Engineering Magazine, Issue 3, https://re-magazine.ireb.org/articles/requirements-engineering-in-german-job-advertisements
Hinweise:
Interessieren Sie sich für weitere Erfahrungen aus der Praxis? Testen Sie unseren wöchentlichen Newsletter mit interessanten Beiträgen, Downloads, Empfehlungen und aktuellem Wissen.
Alles Wichtige über Requirements Engineering auf 37 Seiten jetzt als Download zum Mitnehmen.
Dr. Andrea Herrmann hat im t2informatik Blog weitere Beiträge veröffentlicht, u. a.
Dr. Andrea Herrmann
Dr. Andrea Herrmann ist seit 2012 freiberufliche Trainerin und Beraterin für Software Engineering. Sie hat mehr als 28 Berufsjahre in Praxis und Forschung.
Frau Dr. Herrmann war zuletzt als Vertretungsprofessorin an der Hochschule Dortmund tätig, sie hat mehr als 100 Fachpublikationen veröffentlicht und hält regelmäßig Konferenzvorträge. Sie ist offizielle Supporterin des IREB-Board, sowie Mitautorin von Lehrplan und Handbuch des IREB für die CPRE Advanced Level Zertifizierung in Requirements Management.