Das Zwischen in Transformationen

Gastbeitrag von | 06.10.2025

Nach der Strategie mit dem Hammer und der Stille einer Transformation: Ein Ort, an dem Sie längst angekommen sind

Es gibt einen Ort in jeder Organisation, gefährlicher als das offene Scheitern, lähmender als die komplette Unwissenheit. Einen Ort, den jeder kennt, aber niemand benennt. Willkommen im Zwischen.

Sie kennen ihn. Diesen merkwürdigen Zustand, wenn die Analyse abgeschlossen ist, die Lösung auf dem Tisch liegt, alle nicken und dann passiert… nichts. „Wir wissen genau, was zu tun ist, aber…“ Dieses „Aber“ ist der Türsteher zum Zwischen. Und die meisten IT-Projekte checken dort ein wie in ein Hotel, aus dem sie nie wieder auschecken.

Die Anatomie organisationaler Phantomschmerzen

Das Zwischen ist der Raum zwischen Erkenntnis und Umsetzung. Zwischen dem PowerPoint-Slide „So wird unsere Zukunft“ und der Realität, die hartnäckig Gegenwart bleibt. Es ist weder das Vorher noch das Nachher, sondern das ewige Dazwischen.

In der IT manifestiert sich der Zustand besonders perfide:

  • Die Migration, die seit 18 Monaten „zu 80 % fertig“ ist.
  • Das agile Transformationsprojekt, das in Sprint 47 immer noch „die Grundlagen schafft“.
  • Die KI-Strategie, die seit zwei Jahren „kurz vor dem Rollout“ steht.
  • Der digitale Wandel, der sich in Pilotprojekten erschöpft, die niemals erwachsen werden.

Das Zwischen tarnt sich als Fortschritt. Es produziert Artefakte: Roadmaps, Steering Committees, Status-Reports. Alles sieht nach Bewegung aus. Aber es ist nur Bewegungssimulation, wie ein Hamsterrad mit PowerBI-Dashboard.

Die Sprache der Zwischen-Bewohner und die Ökonomie der ewigen Vorbereitung

Hören Sie genau hin in Ihrem nächsten Steering Committee. Die Sprache verrät alles:

  • „Wir könnten die Legacy-Systeme ablösen…“
  • „Man müsste mal die Prozesse standardisieren…“
  • „Eigentlich sollten wir schon längst…“
  • „Es wäre sinnvoll, wenn…“

 

Die Sprache verrät alles

Abbildung 1: Die Sprache verrät alles

Der Konjunktiv ist die Muttersprache des Zwischen. Eine ganze Grammatik ohne Gegenwart, ohne Indikativ, ohne Tatsachen. Aus Entscheidungen werden Optionen. Aus Schritten werden Szenarien. Es ist die perfekte Sprache für die, die sich bewegen wollen, ohne einen Fuß zu heben.

Das Zwischen ist kein Unfall. Es ist ein Ökosystem, das sich selbst erhält. Für jeden, der in diesem Zustand feststeckt, gibt es drei, die davon leben:

  • Der Interim-CTO, der schon im dritten Jahr „übergangsweise“ die Transformation leitet.
  • Die Beratungsfirma, die immer neue Analysen braucht, bevor die Umsetzung beginnen kann.
  • Das PMO, das Statusberichte über Statusberichte produziert, während der Status sich nie ändert.

Die Brücke zur Zukunft wird immer länger, nur ankommen tut sie nie. Warum auch? Auf der anderen Seite wartet die Arbeitslosigkeit für alle Brückenbauer.

Die perfekte Temperatur des Stillstands und die versteckten Kosten des Zwischen

Das Tückische am Zwischen: Es ist komfortabel. Die alte Welt drückt nicht mehr – Sie haben das Problem ja „erkannt“. Die neue Welt fordert noch nicht – Sie sind ja „auf dem Weg“.

Es ist wie die Geschichte vom Frosch im Kochtopf, nur dass das Wasser nie kocht. Es bleibt bei dieser einen, perfekten Temperatur. Genau einen Grad über dem Unbehagen. Genau einen Grad unter der Panik. Warm genug, um sich nicht zu bewegen. Kühl genug, um nicht in Panik zu geraten.

Diese Komfortzone hat einen Preis:

  • Während Sie im Zwischen verharren, definieren andere die Zukunft.
  • Während Sie Ihre Cloud-Migration planen, haben Ihre Wettbewerber sie längst vollzogen.
  • Während Sie über KI diskutieren, automatisieren andere bereits ihre Kernprozesse.

Was kostet das Zwischen wirklich? Nicht nur die offensichtlichen Kosten – die Berater, die Tools, die verlorene Zeit. Die wahren Kosten sind unsichtbar:

Der Talentverlust: Die Besten gehen zuerst. Sie wittern den Stillstand unter der Bewegungssimulation und suchen sich Organisationen, die wirklich transformieren, nicht nur darüber reden.

Die Innovationslähmung: Während Sie im Zwischen debattieren, verpassen Sie die nächste Welle. Aus First Movern werden Fast Follower, aus Fast Followern werden Dinosaurier.

Die kulturelle Erosion: Jeder Tag in dem Zustand normalisiert die Nicht-Bewegung. „Das haben wir schon versucht“ wird zum Mantra. „So einfach ist das nicht“ zur Standardantwort.

Die Zeitrechnung des Zwischen

Fragen Sie sich mal selbst:

  • Wie lange ist Ihre „Übergangsphase“ schon übergangsweise?
  • Seit wann ist das Projekt „fast fertig“?
  • Wann wurde aus „Quick Win“ ein „Long Term Initiative“?
  • In welchem Jahr wurde die „temporäre Lösung“ implementiert?

Das Zwischen hat seine eigene Zeitrechnung. „Kurzer Sprint“ wird zu drei Quartalen. „Bis Ende des Jahres“ – welches Jahr? Die Zeit dehnt sich wie Kaugummi, bis sie jeden Geschmack verliert.

Ich kenne Organisationen, die seit fünf Jahren in der „Transformationsphase“ sind. Pilotprojekte, die längst volljährig geworden sind. Interim-Lösungen, die ihre eigenen Legacy-Probleme entwickelt haben.

Die unbequeme Wahrheit und der erste Schritt

Wenn Sie bis hierher gelesen haben, erkennen Sie sich und Ihre Organisation vielleicht wieder. Das ist gut. Und gleichzeitig die Falle: Jetzt haben Sie das Zwischen erkannt. Sie verstehen das Problem. Sie nicken wissend.

Und genau das ist die Gefahr: Aus der Diagnose „Wir sind im Zwischen“ wird schnell „Wir müssten aus dem Zustand raus“. Aus dem „Müssten“ wird ein „Sollten“. Aus dem „Sollten“ ein „Könnten“. Und schwupps – Sie haben das Zwischen nur um eine Meta-Ebene erweitert.

Das Zwischen ist keine externe Kraft, die Ihre Organisation befallen hat. Es ist die Summe tausender kleiner Feigheiten. Jedes „Lass uns das nochmal durchdenken“. Jedes „Wir brauchen mehr Daten“. Jedes „Das ist politisch schwierig“.

Organisationen im Zwischen haben nicht zu wenig Information. Sie haben zu wenig Mut. Nicht zu wenige Optionen, sondern zu wenig Entscheidungswille. Nicht zu wenig Ressourcen, sondern zu wenig Risikobereitschaft.

Was jetzt?

Ich könnte Ihnen jetzt einen 5-Punkte-Plan präsentieren. „So kommen Sie raus aus dem Zustand“. Mit Canvas und Framework und Methodik. Aber das wäre nur eine weitere Landkarte für einen Ort, den Sie nie besuchen werden.

Stattdessen ein Vorschlag: Benennen Sie es. In Ihrem nächsten Meeting, wenn wieder jemand sagt „Wir müssten mal…“, fragen Sie: „Sind wir gerade im Zwischen?“ Machen Sie das Unsichtbare sichtbar. Geben Sie dem Phantom einen Namen.

Denn das Zwischen kann Sie nur gefangen halten, solange Sie nicht wissen, dass Sie gefangen sind.

Die erste Transformation ist die der Wahrnehmung. Alles andere kommt danach. Oder auch nicht. Aber wenigstens wissen Sie dann, wo Sie sind:
Im Zwischen. Und das ist, bei aller Tragik, immerhin ein Anfang.

 

Hinweise:

Constantin Melchers ist der Komplize Ihrer Transformation und Gründer von tantin Consulting. Er hat selbst Jahre im Zwischen verbracht und weiß, wie schwer es ist, den Konjunktiv abzulegen. Mit dem Resonanzraum-Workshop hilft er Organisationen, ihre eigenen Zustände zu erkennen und zu überwinden. Manchmal reichen sechs Stunden radikaler Ehrlichkeit, um Jahre der Stagnation zu durchbrechen.

Wollen Sie als Meinungsmacherin oder Kommunikator über das Zwischen in Transformationen  diskutieren? Dann teilen Sie den Beitrag gerne in Ihrem Netzwerk. 

Constantin Melchers hat zwei weitere Beiträge im t2informatik Blog veröffentlicht:

t2informatik Blog: Strategie mit dem Hammer

Strategie mit dem Hammer

t2informatik Blog: Die Stille in einer Transformation

Die Stille in einer Transformation

Constantin Melchers
Constantin Melchers

Constantin Melchers begleitet Führungskräfte und Top-Entscheider:innen seit über 20 Jahren an strategischen Wendepunkten. Als Berater, ehemaliger Führungsverantwortlicher in verschiedenen Organisationen und Hochschuldozent verbindet er praktische Erfahrung mit konzeptioneller Tiefe.

Sein Ansatz ist distinkt: Strategie beginnt nicht mit Planung, sondern mit der Bereitschaft, etablierte Denkmuster zu hinterfragen. „Viele Organisationen scheitern nicht an Methoden – sondern daran, sich selbst aus Gewohnheit zu imitieren.“

Er versteht Transformation als kulturellen Akt der Selbstüberwindung, nicht als Management-Routine. Mit tantin Consulting hat er einen Think-&-Do-Tank geschaffen, der selektiv mit mittelständischen Unternehmen und Organisationen arbeitet, die zu echtem Wandel bereit sind. Statt Standardrezepte zu liefern, eröffnet er Resonanzräume für nachhaltige Veränderung.

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