Das Anschreiben – Pflicht oder Kür?
Otto verzichtet bei Bewerbungen auf das Anschreiben. Der Baur Versand und Sportscheck ebenfalls. Und die Deutsche Bahn vermeldete im Frühjahr 2019: 10 Prozent mehr Bewerber ohne Anschreiben.¹ Unternehmen tun sich schwer, neue Mitarbeiter zu finden und gehen daher neue Wege. Sie erleichtern den Bewerbungsprozess für alle Beteiligten; Bewerber werden von einer unliebsamen Aufgabe befreit und die Personalabteilungen müssen weniger Unterlagen sichten. Ist das eine Win-Win-Situation und ein Vorgehen, dass sich auf für andere Unternehmen eignet? Oder vielleicht doch eher ein Lose-Lose-Szenario, bei dem Unternehmen auf ein wesentliches Element bei der Auswahl von Kandidaten verzichten und Bewerber eine gute Gelegenheit verstreichen lassen, sich zu positionieren? Was ist das Anschreiben bei Bewerbungen: Pflicht oder Kür?
Der Wettkampf der Lebensläufe
Was passiert bei einer Bewerbung ohne Anschreiben? Die Lebensläufe der Bewerber treten miteinander in einen Wettstreit. Der beste Lebenslauf gewinnt. In vielen Fällen also derjenige, der die beindruckenderen Arbeitgeber und Rollenbezeichnungen nennt, oder mehrere Sprachen und kurze Studienzeiten ausweist. Vielleicht denken Sie jetzt, dass dies bei Ihnen im Unternehmen nicht so ist, dass bei Ihnen zwischen den Zeilen gelesen wird. Und in der Tat aus Lebensläufen lassen sich nicht nur frühere Arbeitgeber, Rollen, Tätigkeiten und Zeiträume ablesen. Auch die Frequenz der Jobwechsel, das Aufsteigen in Hierarchien, der Zuwachs an Verantwortung, etc. sind – sofern vorhanden – meist relativ leicht zu erkennen. Interessanterweise bewerten wir Menschen und Informationen über Menschen meist unmittelbar. Dazu ein Beispiel:
- Es gibt zwei externe Bewerber auf eine Stelle bei Ihnen; ein 62-jährigen und einen 42-jährigen Kandidaten.
- Bewerber A hatte fünf Arbeitsstellen in den vergangenen zwei Jahren, Bewerber B einen Arbeitgeber in den letzten 12 Jahren.
- Wer von den beiden Bewerbern ist wohl verlässlicher, wer sagt seine Meinung häufiger und wer kann sich besser anpassen?
Ich vermute, Sie würden die Fragen anders beantworten als ich. Jeder von uns hat eine eigene Perspektive, einen eigenen Lebenslauf und eine eigene Geschichte. Hinzu kommen noch der konkrete Kontext der zu besetzenden Stelle, implizite Erwartungen an den neuen Mitarbeiter und Erfahrungen mit dem eigenen Unternehmen. Das führt zu unterschiedlichen Bildern und zu verschiedenen Meinungen zu den Kandidaten. Das ist weder schlecht noch gut, es ist normal. Wir tendieren dazu, Informationen zu bewerten und einzuordnen. Und wir interpretieren Informationen. Beispiel: Wie alt ist Kandidat A: 62 oder 42 Jahre?
Das Blabla-Anschreiben
„… zunehmend steigende Komplexität in Verbindung mit den heute üblichen kurzen Produktzyklen bestimmen die gewachsenen Anforderungen an die Entwicklung Hardwareintegrierter Anwendungen. In diesem Zusammenhang erachte ich Zuverlässigkeit und Echtzeitverhalten als tragende Säulen einer gelungenen Embedded-Software-Lösung.“
Es gibt in der Praxis leider viele Beispiele für Anschreiben, die ihr Ziel verfehlen. Was ist das Ziel eines Anschreibens? Und was bezweckt eigentlich der Bewerber mit seinem Anschreiben? Wer sich nicht klar ist, warum er ein Anschreiben formuliert und was er damit erreichen will, wird (in der Regel) keine Chance auf die zu besetzende Position haben. Er weiß es nur noch nicht. Warum sollte sich ein Unternehmen für eine Einordnung „tragender Säulen in Embedded-Software-Lösungen“ interessieren? Selbst wenn sich das Unternehmen mit Embedded-Software-Lösungen beschäftigt – was in dem konkreten Fall nicht der Fall ist – welchen Mehrwert bietet eine solche Information?
Kurzum: Blabla-Anschreiben verfehlen den Zweck. Genauso wie Floskeln. Wir Menschen haben alle eine „schnelle Auffassungsgabe“ und glauben selbstredend, dass wir das Unternehmen der Wahl „verstärken“ können. Auch Wiederholungen von Informationen, die wortgleich im Lebenslauf zu finden sind, bieten keinen Mehrwert. Es ist also oftmals keine Überraschung, dass Unternehmen auf Anschreiben verzichten, den viele sind es einfach nicht wert, gelesen zu werden. Oder wie es eine Bekannte vor kurzem formulierte: „Wenn Du 100 Bewerbungen pro Tag bei Dir auf dem Schreibtisch hast, werden die Anschreiben schlicht und einfach nicht mehr gelesen.“ In gewisser Weise ist das verständlich, oder?
Das Zeugnis
Wenn Unternehmen auf Anschreiben verzichten, gibt es neben dem Lebenslauf noch eine weitere, wichtige Informationsquelle: das Arbeitszeugnis. Und für die jüngeren Bewerber: das Schul- oder Hochschulzeugnis. Wie war die Motivation des Kandidaten bei früheren Tätigkeiten, wie waren seine Teamfähigkeiten oder sein Verhalten gegenüber Vorgesetzten, Kollegen und Kunden – solche Informationen finden Sie in praktisch jedem Arbeitszeugnis (und falls nicht ist das bekanntermaßen auch eine Aussage). Wer Arbeitszeugnisse liest, achtet auf sprachliche Feinheiten, auf Universalqualifikatoren wie „stets“ und „immer“, und auf Steigerungen wie „sehr“. Längst hat sich eine Zeugnissprache entwickelt, die für den Fachmann auf einen Blick wertvolle Kenntnisse über den Kandidaten liefert. Klingt alles in allem wie eine nützliche Informationsquelle, oder? Und was denken Sie über folgende Punkte?
- Viele Mitarbeiter in kleinen, mittleren und manchmal auch großen Unternehmen schreiben ihre Arbeitszeugnisse selbst.
- Bewirbt sich ein Kandidat aus einem bestehenden Arbeitsverhältnis heraus, liegt meist gar kein aktuelles Arbeitszeugnis vor. Ältere Zeugnisse können aber leicht überholte Informationen enthalten, da sich Menschen verändern, sie Verantwortung übernehmen oder im umgekehrten Fall ihre Motivation verlieren.
- Wie wertvoll kann ein Arbeitszeugnis bei einem Kandidaten (A oder B) sein, der 12 Jahre bei einem Arbeitgeber tätig war? Offensichtlich war die Zusammenarbeit für beide Seiten so gut, dass sie 12 Jahre angehalten hat. Ist das nicht bereits eine Aussage, die wichtiger ist als das dokumentierte Verhalten gegenüber anderen?
- Warum verlassen wir uns (zumindest in Teilen) auf die Meinung bzw. Bewertung einer dritten, uns unbekannten Person?
Die Fragen verleiten mich zu einer These: Arbeitszeugnisse werden in Zukunft immer unwichtiger. In den USA gibt es bereits Konzerne, die keinerlei Zeugnisse mehr ausstellen und bei telefonischen Nachfragen zu einem Kandidaten lediglich den Zeitraum der Firmenzugehörigkeit, aber keinerlei Tätigkeiten, Fähigkeiten oder sonstige Informationen bestätigen.
Eine kleine Ergänzung zu den Zeugnissen von Schülern oder Studenten: leider werden spätestens nach der 10. Klasse keinerlei Kopfnoten – Betragen, Fleiß, Aufmerksamkeit und Ordnung – vergeben. Damit fehlen in allen Zeugnissen Aussagen über soziale Verhaltensweisen. Das finde ich schade, denn gerade die Soft Skills werden im beruflichen Miteinander immer wichtiger. Unter diesem Gesichtspunkt ist es um so verwunderlicher, dass Organisationen auf Anschreiben verzichten, oder?
Das dritte Warum
Warum bewirbt sich ein Kandidat bei einem Unternehmen? Die Frage wirkt harmlos und doch ist sie unendlich wichtig und schwierig zu beantworten. Die Antwort kann nicht lauten: „weil ich für einen Global Player oder für ein renommiertes und erfolgreiches Unternehmen möchte“. Mitarbeiter im Allgemeinen und Personaler im Speziellen wissen gemeinhin, welches Image und welche Eigenschaften ihrem Unternehmen zugeschrieben werden. Wenn einem Bewerber eine solche Antwort in den Sinn kommt, sollte er sich fragen, warum dies für ihn wichtig ist. Möchte er für einen Global Player im Ausland arbeiten? Sucht er einen sicheren Arbeitsplatz bei einem renommierten und erfolgreichen Unternehmen? Und jetzt kommt das „dritte“ Warum. Warum möchte er im Ausland arbeiten oder warum sucht er einen sicheren Arbeitsplatz? Dieses dritte Warum bzw. die Antwort darauf gehört ins Anschreiben. Sie stellt für alle Beteiligten eine sinnvolle Information dar. Die Personalabteilung kann so Motive leichter verstehen und der Kandidat entwickelt für sich eine Klarheit, die für seine weitere Bewerbung noch nützlich sein kann.
Tipps für Anschreiben
Wenn Anschreiben in Unternehmen aufgrund der Menge der Bewerbungen nicht gelesen werden, sollte man einfach auf sie verzichten? Das klingt auf den ersten Blick vielleicht logisch, ist aber auf den zweiten Blick falsch. Die richtige Antwort ist ein kurzes, kompaktes Anschreiben. Nachfolgend finden Sie einige Tipps für Anschreiben:
- In der Kürze liegt die Würze. Keine Abhandlungen, keine Allgemeinplätze, keine Wiederholungen von Informationen, die noch an anderer Stelle vorkommen. Warum will der Kandidat wirklich wirklich für das Unternehmen arbeiten?
- Positive Formulierungen verwenden. „Hier meine Bewerbung um ein Pflichtpraktikum im Rahmen meiner Umschulung zum Fachinformatiker.“ ist keine ideale Formulierung.
- Besonderheiten erläutern. Lücken oder Brüche in Lebensläufen gibt es immer wieder, die Gründe dafür verraten aber einiges über den Kandidaten.
- Wird ein Ansprechpartner genannt, sollte dieser in der Anrede adressiert werden. Alleine aus diesem Grund lohnt sich auch der Besuch der Webseite des Unternehmens und nicht nur der Besuch von Job-Portalen, die solche Informationen nicht immer anzeigen.
- Keinerlei grafischen „Schnickschnack“. Es geht beim Anschreiben um einen inhaltlichen und nicht um einen optischen Mehrwert.
- Auf die Rechtschreibung achten. Natürlich ist niemand perfekt, aber Fehler in Anschreiben oder „ungewöhnliche“ Formatierungen vermitteln kein positives Bild. Hier können ggf. Freunde behilflich sein.
- Gerne werden in Stellenanzeigen bspw. Gehaltswünsche abgefragt. Solche und ähnliche Fragen gilt es (knapp) zu beantworten.
- Was möchte der Kandidat: sich vorstellen, eingeladen werden, sich zum Kennenlernen treffen, sich über Vorstellungen und Erwartungen jenseits der Stellenanzeige austauschen. Häufig verrät die Abrede viel über den Kandidaten und sein Selbstbild.
Auch wenn vermutlich nur wenige Menschen Anschreiben gerne formulieren , so empfiehlt es sich dennoch, auf die eigene Stimmungslage zu achten. Wer keine Lust auf die Gestaltung eines Anschreibens hat, wird mit großer Wahrscheinlichkeit auch kein besonders gelungenes Anschreiben produzieren. Es könnte also bspw. Sinn ergeben, in kleineren Schritten vorzugehen oder Pausen einzulegen.
Haben Sie noch weitere Tipps für das Anschreiben?
Fazit
Sind Anschreiben Pflicht oder Kür? Häufig wird das Anschreiben als Pflicht verstanden, eigentlich handelt es sich aber um Pflicht und Kür in einem. Zur Einordnung: Pflicht und Kür sind Begriffe aus dem Sport, bei dem Übungen oder Elemente von Übungen vorgegeben sind (Pflicht) und andere Übungen bzw. Teile von Übungen durch Sportler „frei“ gestaltet und durchgeführt werden (Kür). Ein Sportler, der aber nur einen Teil – die Pflicht oder die Kür – durchführt, wird nie eine Chance auf einen Sieg haben.
Tatsächlich sind Anschreiben nicht beliebt. Um so wichtiger ist es, sich durch ein gelungenes, kompaktes Anschreiben von anderen Bewerbern abzuheben. Ein gutes Anschreiben kann die Chancen des Kandidaten deutlich verbessern, aber auf keinen Fall verschlechtern. Ergo: Hoch lebe das gelungene Anschreiben.
Hinweise:
Interessieren Sie sich für weitere Tipps aus der Praxis? Testen Sie unseren wöchentlichen Newsletter mit interessanten Beiträgen, Downloads, Empfehlungen und aktuellem Wissen.
[1] 10 Prozent mehr Bewerber ohne Anschreiben
Die Deutsche Bahn verzichtet nicht bei allen Ausschreibungen auf Anschreiben, sondern „nur“ bei Ausbildungs- und Studienplätzen. In einer Pressemitteilung heißt es: „Wir führen den deutlichen Anstieg der Bewerbungen für Ausbildungs- und Studienplätze auch auf den Wegfall des Anschreibens zurück. In Informations- und Bewerbungsgesprächen erhalten wir viel positives Feedback von den Kandidaten zu diesem Schritt.“ Ob es sich bei der Frage um einen „Confirmation Bias“ handelt, ist aus der Ferne schwer zu beurteilen.
Der Baur Versand und Sportscheck gehören zur Otto Group. Die Otto Group verzichtet zwar auf das Anschreiben, formuliert stattdessen aber zwei Motivationsfragen. In anderen Worten: sie ändert lediglich das Format, die Informationen möchte sie weiterhin erhalten.
Michael Schenkel hat im t2informatik Blog weitere Beiträge veröffentlicht, u. a.
Michael Schenkel
Leiter Marketing, t2informatik GmbH