Auftragsklärung – das Wichtigste zuerst

Gastbeitrag von | 13.08.2020

Warum Sie Kundenanfragen nicht als Vorgabe für Ihre Auftragsklärung verstehen sollten

„Unser Service-Team soll agiler arbeiten. Wir suchen externe Unterstützung.“

Ob erfahrene Agile Coach oder Beraterin: Ihre Expertise passt zur Kundenanfrage, schnell werden Sie beauftragt. Im ersten Workshop erfahren Sie, dass letztes Jahr eine Matrix-Organisation eingeführt wurde. Dass Kolleg*innen im Service seitdem für Tätigkeiten, die sie früher eigenverantwortlich abwickelten, drei weitere Stakeholder einbeziehen müssen, was den Gesamtablauf komplexer und langsamer gemacht habe. Dass die Leute gar nicht im Team, sondern immer schon als Einzelkämpfer in Projekten arbeiten und dass agile Vorgehensweisen hier noch nie so recht funktioniert haben.

Sie brauchen das Geld, und es gelingt Ihnen in dieser Gemengelage, ein Scrumboard aufzustellen und Daily Standups einzuführen – natürlich wirkungslos. Nach fünf Wochen beendet der Kunde den Auftrag, Sie waren schon vorher frustriert. Nun können Sie in den üblichen Foren darüber lamentieren, dass der Kunde kein agiles Mindset hat. Sie können aber auch überlegen, wie Sie künftig Erstgespräche mit Kunden anders gestalten wollen und eine bessere Auftragsklärung durchführen.

Warum Lösungswege oft Irrwege sind

Im Erstgespräch werden externe Beratende selten mit konkreten Zielen konfrontiert. Eher werden sie aufgefordert, einen vom Kunden präferierten Lösungsweg („Agilität einführen!“) einzuschlagen. Passt der Lösungsweg zur eigenen Expertise, ist die Verlockung groß, die Auftragsklärung abzukürzen und den Auftrag anzunehmen. Die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns ist allerdings auch groß. Denn die Idee, wie ein Ziel zu erreichen ist, ist nur dann zielführend, wenn das Ziel zum Lösungsweg passt. Der Artikel soll helfen, Akquise-Gespräche und Auftragsklärungen so zu gestalten, dass Beratungsprojekte von Anfang an erfolgreich verlaufen können.

Dazu ist es hilfreich, die Rolle von Beratung zu verstehen: Unternehmen sind durch ihre eigenen Spielregeln gesteuerte, autonome soziale Systeme. Sie können durch externe Beratende nicht direkt gesteuert werden, und schon gar nicht mittels linearer Ursache-Wirkungs-Logiken („wenn agil, dann schneller“). Beratende können jedoch Kunden dazu verhelfen, das zu behebende Problem zu erkennen und somit auch ein geeignetes Ziel der Beratung festzulegen.

Auftragsklärung heißt das Problem für die Lösung finden

Angenommen Sie sind die Expertin für das obige Beispiel. Auch wenn Sie schon zigmal ähnliches mit Bravour vollbracht haben: Ihren Expertenstatus müssen Sie nicht verteidigen, schließlich hat man Sie eingeladen. Gehen Sie stattdessen davon aus, dass Sie kaum etwas über das Kundensystem wissen. Da Sie außerdem keine Gedanken lesen können, wissen Sie auch nicht, welche Gründe zur Wahl dieses speziellen Lösungswegs führten. Sorgen Sie dafür, im Gespräch überrascht zu werden.

1. Klären Sie den Kontext

Gar nicht selten kommt es vor, dass Ihr Gegenüber bereits mit dem ersten Satz direkt ins Thema springt. Bestehen Sie in dem Fall freundlich auf eine kurze Vorstellungsrunde, schließlich wollen Sie die Rollen des oder der Teilnehmenden im Kundensystem identifizieren, und sich und Ihre Expertise präsentieren. Fragen Sie auch, ob es Personen gibt, die aus irgendwelchen Gründen nicht im Raum sind, die aber für das Vorhaben wichtige Stakeholder sind. Wie ist die Idee zur Beratung entstanden? Welche Erfahrungen gab es mit anderen Beratenden bereits? Welche Befürchtungen gibt es? Schließlich fragen Sie Ihr Gegenüber, was ein gutes Ergebnis des heutigen Gesprächs sein kann. So legen Sie die Basis für eine erfolgreiche Auftragsklärung.

2. Fragen Sie nach der Funktion der Lösung

Sie müssen gar nicht über die Vorteile von Agilität referieren. Viel interessanter ist, dass Ihr Gegenüber nicht erwähnt hat, warum man sich dafür entschieden hat. Finden Sie heraus, für welches Problem die angestrebte Vorgehensweise die Lösung ist! Stellen Sie die Frage nach der Funktion sowohl problemorientiert: „Für welches Problem des Teams ist Agilität die Lösung?“ als auch zielorientiert: „Was wird konkret anders durch Agilität?“.

3. Sammeln und dechiffrieren Sie Erklärungen und Bewertungen

Oft erhält man auf diese Frage Ursache-Wirkungs-Erklärungen oder Bewertungen. Achten Sie darauf, welche Erklärungen und Bewertungen Ihr Gegenüber jetzt äußert. „Wenn das Team agil ist, kann es schneller Ergebnisse liefern.“ ist eine andere Erklärung als „Das Team ist gerade sehr unmotiviert, das wird sich dann ändern.“.

Verhalten Sie sich im Zuge der Auftragsklärung wie eine Forscherin, die gerade Leben auf einem anderen Planeten entdeckt. Auf eine Wenn-Dann-Aussage können Sie beispielsweise fragen: „Was konkret an agilen Vorgehensweisen meinen Sie, führt zu schnelleren Ergebnissen?“ oder auch „Wie arbeitet das Team, wenn es schneller Ergebnisse liefert? Was hat sich dann verändert?“. Auch mit der Aussage, das Team sei unmotiviert, können Sie noch nicht arbeiten. Deshalb fragen Sie „Wie verhalten sich Leute, die unmotiviert sind? Haben Sie Beispiele?“ oder lösungsorientiert: „Woran würden Sie erkennen, dass das Team wieder motiviert ist?“ usw.

Indem Sie nach dem beobachtbaren Verhalten fragen, bringen Sie Erklärungen und Bewertungen auf die Ebene von Beschreibungen. Sie werden feststellen, dass Sie jetzt mehr, konkretere Informationen erhalten und das Themenspektrum breiter wird.

4. Sammeln Sie noch mehr Informationen

Auftragsklärung ist Kommunikation, bei der stets auch drei Sinndimensionen verhandelt werden:

  • Inhalte auf der Sachdimension,
  • Beziehungen unter den Akteuren auf der Sozialdimension,
  • und zeitliche Abfolgen auf der Zeitdimension.

Fragen in die Sozialdimension helfen Informationen über die Perspektive anderer zu gewinnen. „Wie würde Ihre Kollegin aus dem Team/ die Teamleitung / Ihre Chefin etc. die Zusammenarbeit im Team beschreiben?“ oder „Würde jemand aus dem Team das genauso wie Sie beschreiben?“.

Wenn mehrere Personen am Gespräch beteiligt sind, gibt es vielleicht unterschiedliche Meinungen zum Lösungsweg: Einer findet, dass Agilität viele Probleme löst, und eine andere betont das Gegenteil. Als Beraterin ist es in dem Fall hilfreich, Allparteilichkeit zu wahren: Zeigen Sie Interesse für die eine Seite, widmen Sie das gleiche Interesse der anderen. Stellen Sie allen Anwesenden Fragen, und sei es nur „Sehen Sie das auch so wie die Kollegin?“.

Die Sachdimension haben Sie bereits bei der Frage nach der Funktion der Lösung genutzt. Greifen Sie Themen auf, die Sie im Gespräch gehört haben und packen Sie sie in geeignete Fragen. Wenn Sie mutig sind, fragen sie weiter, was passieren würde, wenn sich gar nichts änderte. Wirkungsvoll ist auch „Und was noch?“.

Fragen Sie in die Zeitdimension: „Können Sie beschreiben, wie die Leute vor der Reorganisation zusammenarbeiteten?“ oder „Haben Sie schon einmal in der Vergangenheit versucht, agile Vorgehensweisen einzuführen?“. Fragen in die Vergangenheit formulieren Sie nach Möglichkeit positiv, damit Ihr Gegenüber nicht in der Beschreibung negativ empfundener Situationen verharrt. Fragen Sie auch in die Zukunft: „Woran würden Sie erkennen, dass das Team nach unserem Projekt agil ist?“ usw.

5. Legen Sie eine Pause ein

Sie haben bereits eine große Beratungsleistung erbracht. Im Idealfall ist es Ihnen gelungen, eine vertrauensvolle Beziehung herzustellen, die es dem Kunden ermöglicht, sich mit Ihren Fragen, aber auch mit Ihren Ideen, die Sie zwischendurch eingestreut haben, konstruktiv auseinanderzusetzen. Womöglich haben Sie bei Ihrem Gegenüber eine Veränderung seiner Perspektive auf Problem und oder Lösung eingeleitet, auf jeden Fall haben Sie die Perspektive um viele Aspekte erweitert. Sie müssen jetzt nicht über den Lösungsweg diskutieren. Schlagen Sie stattdessen zehn Minuten Pause vor. Verlassen Sie den Raum. Ihr Kunde hat nun Zeit, sich zu sammeln. Und Sie haben Ruhe, um das Gespräch zu reflektieren.

6. Machen Sie aus dem Gesprächsende einen Neustart

Zurück im Raum fassen Sie das bisherige Gespräch zusammen, und beschreiben das Kundenproblem aus Ihrer Sicht. Wenn Sie der Meinung sind, dass ein ganz anderer Lösungsweg hilfreich sein kann, dann sagen Sie es jetzt. Erklären Sie, dass Sie ein wenig Zeit brauchen, um zu skizzieren, wie Sie mit den heute dazugewonnenen Informationen an das Problem herangehen würden, und dass Sie sich zügig mit einem Vorschlag zurückmelden. Möglicherweise aber führen die gewonnenen Informationen zu der Erkenntnis, dass Sie die falsche Person für den Auftrag sind. Sprechen Sie das freundlich und offen an. Sie haben dann einen Auftrag verloren, aber die Wertschätzung Ihres Gegenübers gewonnen.

Wenn keine Auftragsklärung möglich ist

Oft ist eine Auftragsklärung vor Projektbeginn nicht möglich. Sollten Sie zum Beispiel im Rahmen einer öffentlichen Ausschreibung zur Angebotsabgabe aufgefordert werden, dann halten Sie sich an die Formalitäten und gewinnen Sie die Ausschreibung. Machen Sie dann während des Projekts die Auftragsklärung zum fortlaufenden Inhalt Ihrer Beratung. Wenn Sie dabei die oben beschriebene Haltung einer Forscherin einnehmen, werden Sie schnell an den Kern des Kundenproblems stoßen. Und das können Sie beispielsweise im Rahmen von Retrospektiven bearbeiten.

Fazit

Eine klare und eindeutige Auftragsklärung ist sehr wichtig für die gemeinsame Zusammenarbeit zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer. Hier finden Sie einige Empfehlungen, die sich in meiner Praxis bewährt haben:

  • Betrachten Sie den vom Kunden gewählten Lösungsweg als einen von vielen, und nicht immer als den wirksamsten.
  • Rechnen Sie damit, dass es Kunden schwerfällt, das Problem, das mit dem Lösungsweg behoben werden soll, oder das Ziel, das damit erreicht werden soll, zu benennen.
  • Fragen Sie nach der Funktion des angestrebten Lösungswegs.
  • Ein geteiltes Verständnis des Kundenproblems ist bereits wirksame Beratung. Suchen Sie deshalb während der Auftragsklärung nicht sofort nach einer besseren Lösung.
  • Lehnen Sie eine Anfrage ab, wenn es Ihnen nicht gelingt, im Gespräch Einigkeit über das Problem oder das Ziel herzustellen.

 

Hinweise:

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Literaturhinweis:

Simon, Fritz B.: Einführung in die (System-)Theorie der Beratung, Heidelberg, Carl-Auer, 2014.

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Eva Schielein
Eva Schielein

Eva Schielein, Gründerin von aestimat, ist systemische Organisationsberaterin und Coach mit Expertise in Softwareentwicklung. Ihre Marke „Positive Transformation“ vereint Theorien und Konzepte aus Systemtheorie, Positiver Psychologie und Agilität. Beratung ist für sie Kooperation unter Erwachsenen auf Augenhöhe. Zu ihren Kunden zählen Tech-Firmen, Digital Labs und Software-Dienstleister. Seit 2019 ist sie Netzwerkpartnerin bei Simon, Weber & Friends.