AI first – Teil 1

von | 12.06.2025

Wie Google Content Marketing und sein Geschäftsmodell retten könnte

Spüren Sie es auch? Wir sind Teil einer Zeitenwende.

Wir sind Betroffene und Nutzerinnen, wir sind Beobachter und Gestalterinnen. Wir erleben, dass vieles, was bis vor Kurzem noch vertraut war, ins Wanken gerät. Artificial Intelligence (AI) bzw. Künstliche Intelligenz (KI) hinterfragt viele Bereiche des Lebens und stellt ganze Wirtschaftsbereiche, Unternehmen und die Art wie wir arbeiten auf den Kopf. Viele spüren, dass die vergangenen zwei Jahre tiefgreifend waren. Und dass die nächsten Jahre womöglich noch tiefgreifender werden.

Dies ist der Beginn einer Beitragsserie, mit der ich verschiedene Perspektiven auf Artificial Intelligence werfen möchte. Es handelt sich nicht um eine in sich geschlossene Analyse, sondern um eine subjektive Momentaufnahme. Eine Einladung zum Mitdenken. Der Blickwinkel eines skeptischen Optimisten oder optimistischen Skeptikers. Jemand, der die Chancen sehen möchte, und dennoch mehr Fragezeichen als Antworten hat.

Wie viele Teile diese Serie haben wird, kann ich noch nicht sagen. Vielleicht sind es drei, vielleicht werden es mehr. Teil 1 dreht sich um das Thema Content Marketing und die Rolle, die Google spielen könnte, um zukünftig noch eine Rolle zu spielen.

Wirklich beeindruckend, Google!

Haben Sie diese Woche schon adidast? Oder mercedest? Wohl kaum. Vielleicht haben Sie aber schon gegoogelt?

Google hat etwas Einzigartiges geschafft. Seit 2004 steht „googeln“ als Synonym für das Suchen im Internet mit einer Suchmaschine im Duden. [1] Keine andere Marke hat das geschafft. Adidas nicht. Mercedes nicht. Auch nicht Apple, Microsoft oder SAP.

Einigen Unternehmen ist es gelungen, ihre Produkte so zu etablieren, dass sie mit ganzen Produktgattungen gleichgesetzt werden. Tempo steht für Taschentücher, Uhu für Klebstoff. „Tempo machen” hat jedoch nichts mit Naseputzen zu tun und „Uhu” ist keine Tätigkeit. „Googeln“ dagegen ist ein Verb. Es steht für eine Handlung und ist fest im aktiven Wortschatz verankert. Aber wird „googeln“ auch zukünftig in unserem beruflichen oder privaten Alltag ein fester Bestandteil sein? Ich habe Zweifel…

Im Jahr 2024 erzielte Alphabet Inc., die Muttergesellschaft von Google, einen Gesamtumsatz von rund 350 Milliarden US-Dollar. Davon entfielen etwa 264,6 Milliarden US-Dollar auf das Werbegeschäft, insbesondere Google Ads, was den mit Abstand größten Anteil am Umsatz ausmacht. [2] Hossa! Wer möchte da nicht tauschen? Aber was passiert, wenn sich das Suchverhalten grundlegend verändert und die Werbeeinnahmen einbrechen? [3]

Die Schattenseiten von Google und die wahre Motivation von Suchenden

Für viele Marketingexperten ist Google ein Mittel zum Zweck. Es ist eine Maschine, die interessierte Menschen auf die Inhalte der eigenen Website lenkt. Um dies zu erreichen, wurden Texte, Grafiken, Podcasts oder Videos erstellt, die möglichst gut für ausgewählte Keywords ranken sollten, und die Suchmaschinenoptimierung (SEO) zur heimlichen Königsdisziplin im Marketing gekrönt.

Im Laufe der Zeiten veränderte Google nicht nur kontinuierlich die Grundlagen für gute Rankings – oftmals zwar im Zuge von kleinen oder großen Updates angekündigt, aber eigentlich nie mit wirklich belastbaren Informationen oder konkreten Handlungsanleitungen unterfüttert – sondern auch sein Erscheinungsbild:

Googling stuff ... then ... now

Abbildung 1: Googling stuff … then … now [4]

Wer sich für Mode interessiert und gelegentlich ein Magazin in Händen hält, erkennt vermutlich sofort Parallelen: Erst gibt es 6 Seiten mit Werbung, bevor es mit den Inhalten losgeht. Was machen Unternehmen nicht alles, um ihre Einnahmen zu maximieren…

Für viele Content-Produzentinnen ist das ein großes Problem: Vor einigen Jahren konnten sie mit ca. 60 Prozent des Traffics pro Keyword rechnen, wenn ihr Content organisch auf Platz eins rankte. Heute sind es meist nur noch zehn Prozent und bei Platz zwei sogar nur noch etwas mehr als sechs Prozent; von 100 Menschen, die sich für eine definierte Information interessieren, landen also bestenfalls zehn Personen auf der weltbesten Seite zu diesem Thema. Autsch!

Drehen wir die Münze kurz um und werfen einen Blick auf die andere Seite: Was wollen eigentlich die Menschen, die im Internet nach Informationen suchen?

  • Entweder suchen sie eine Antwort auf eine spezifische Frage, wollen dafür aber keine 1.000 Quellen mit praktisch identischen Informationen durchforsten.
  • Oder aber sie suchen Informationen zu einem Themenbereich, meist jedoch mit einem allgemeinen, grundsätzlichen Interesse. Menschen, die sich bspw. für Fußballnachrichten interessieren, werden ein Sportportal besuchen und dort die Nachrichten konsumieren, die ihnen ins Auge springen.

Suchende gehen also zu bekannten Quellen oder sie googeln und vergessen dann meist, wo sie die Informationen gerade gefunden haben, schlicht und einfach, weil es für sie nicht wirklich wichtig ist. Ausnahmen bestätigen die Regel.

Und nun betritt Artificial Intelligence die Bühne.

Eine Welt mit vielen neuen Konkurrenten

Es klingt wie ein Treppenwitz der digitalen Geschichte: Google, das Unternehmen, das einst den Zugang zu weltweitem Wissen revolutionierte, wird nun selbst von Technologien überrollt, die es maßgeblich mitentwickelt hat. Die Rede ist von Large Language Models (LLM), den wortgewaltigen Maschinengeistern, die nicht nur Texte generieren, sondern auch Antworten liefern, bevor man überhaupt richtig gefragt hat. Und die Ironie? Google war es, das mit der Veröffentlichung des Transformer-Papers 2017 das Fundament dieser Entwicklung gelegt hat. [5] Quasi aus Versehen hat der Tech-Riese das Werkzeug für seine eigene Bedrohung geschmiedet, ein wenig wie ein Schlossbesitzer, der den Einbrechern eine Schritt-für-Schritt-Anleitung hinterlässt, inklusive Schlüsselkopie.

Während Google lange damit beschäftigt war, die Suchergebnisse pixelgenau zu optimieren und Anzeigenplätze in Mikroschritten zu monetarisieren, haben andere die Gunst der Stunde genutzt. OpenAI, Anthropic, Mistral [6] und wie sie alle heißen, schießen wie Pilze aus dem Boden, nicht zuletzt, weil sie verstanden haben, was Suchende wirklich wollen: Antworten, keine Links.

Trotz ihrer teils schmerzhaft offensichtlichen Schwächen wie Halluzinationen, veraltete oder erfundene Daten, oder eine entwaffnende Selbstsicherheit bei völliger Ahnungslosigkeit haben sich diese Systeme binnen kürzester Zeit eine beachtliche Fanbasis erarbeitet. Warum? Weil sie in einem entscheidenden Punkt liefern: Sie sind da, wenn man sie braucht. Keine Cookie-Banner, keine SEO-optimierte Scrollwüsten, keine drei Minuten Ladezeit.

Google hingegen wirkt plötzlich wie ein Riese mit schwerem Rucksack, der mühsam versucht, sein Geschäftsmodell in eine Zukunft zu retten, die es selbst beschleunigt hat. Und wie reagiert der Riese auf diese Beschleunigung? Mit einer Me-too-Strategie!

Was Google tut und warum eine Me-too-Strategie suboptimal ist

Google hat den AI-Mode eingeführt:

Googling stuff with AI answer

Abbildung 2: Googling stuff mit einer generierten AI-Antwort

Der AI-Mode ist eine neue Funktion in der Google-Suche, die das klassische Sucherlebnis grundlegend verändert. Anstelle der bisherigen Anzeige einer Liste von Links zu Webseiten liefert der AI-Mode bei jeder Frage eine generierte Antwort. Aus einer Suchmaschine wird ein dialogorientierter Assistent.

Freundlich formuliert handelt es sich um eine Me-too-Strategie, weniger freundlich formuliert kopiert der galaktische Weltmarktführer eine Idee, mit der selbst die Konkurrenz derzeit keine Gewinne erzielt. Betrachten wir drei Probleme dieser Strategie im Einzelnen:

Google halluziniert.

Der AI-Mode halluziniert genau wie andere Large Language Modells. Was bei ChatGPT schon schwer zu akzeptieren ist, wirkt bei Google deutlich gravierender. Zu Recht erwarten Nutzerinnen keine experimentellen Dialoge, sondern belastbare Informationen. Ein Unternehmen, das jahrzehntelang für verlässliche Suchergebnisse stand, liefert nun selbst ungenaue oder falsche Antworten. Aua!

Die Werbeeinnahmen brechen ein.

Der AI-Mode hat eine große Nebenwirkung: Er macht Werbung überflüssig. Wenn die Antwort direkt oben erscheint – optisch dominant, in natürlicher Sprache, ohne Kontext der Quellen – warum sollten Suchende auf bezahlte Links klicken? Laut interner Schätzungen sind Googles Werbeeinnahmen bereits jetzt um rund 15 % zurückgegangen. Und das ist erst der Anfang.

Der Traffic zu Webseiten versiegt.

Menschen suchen Informationen, Content-Kreatorinnen erzeugen Informationen und Google sorgt für die Auffindbarkeit dieser Informationen. Diese stillschweigende Vereinbarung bestand viele Jahre lang. Und wer als Website-Betreibender den Prozess beschleunigen wollte, konnte durch Einwurf von Geldstücken mehr Menschen zu seinen Inhalte führen. Ein einfaches Modell, das für die meisten Beteiligten gut funktionierte.

Durch den AI-Mode wird die Zusammenarbeit jedoch weltweit aufgekündigt. Nicht nur die Werbeeinnahmen gehen in den Keller, auch die Besuchszahlen von Websites rauschen in die Tiefe. [7] Warum sollten Informationssuchende zu den Inhalten einer Website navigieren, wenn Google die Inhalte von Webseiten für eine generierte Antwort nutzt?

Doch was könnte Google statt dieser suboptimalen Me-too-Strategie tun?

Was Google tun könnte

Für Suchmaschinenoptimierende ist die Formulierung von Meta-Beschreibungen für einzelne Inhalte nichts Neues. Diese Beschreibungen werden üblicherweise bei der Anzeige von Treffern in Suchmaschinen dargestellt. Was vermutlich nicht alle Informationssuchenden wissen: Wenn der Inhalt einer Webseite zur Suchanfrage passt, die Meta-Beschreibung aber nicht, zeigt Google anstelle der Meta-Beschreibung einen Textausschnitt der Webseite unter dem Treffer an. So erhalten Suchende einen sinnvolleren Hinweis.

Genau das könnte Google tun! Anstatt einer generischen Antwort über allen anderen Informationen zu platzieren, könnte der AI-Mode die dedizierten Inhalte einzelner Webseiten als Quelle für individuelle Informationen pro Suchanfrage und Treffer nutzen. Und wenn diese Informationen dann noch breiter als die derzeit empfohlenen ca. 920 Pixel bzw. länger als ca. 145 Zeichen sind, entsteht echter Mehrwert auf einen Blick!

Googling stuff with AI answers you really want

Abbildung 3: Googling stuff mit mehreren generierten AI-Antworten basierend auf konkreten Inhalten

Die Vorteile dieser Lösung liegen auf der Hand:

  • Das Halluzinieren entfällt, denn die Antworten werden konkret mithilfe vorhandener Informationen einzelner Webseiteninhalte erzeugt.
  • Wer weitere Informationen benötigt, kann wie gewohnt zur Originalquelle navigieren. Davon profitieren die Website-Betreibenden, genauso wie die Werbenden, die Suchenden und Google.
  • Menschen suchen Antworten und keine Links. Gleichzeitig sind Menschen an Links gewöhnt. Sie sind das verbindende Element im Internet. Ihre Anwendung muss nicht gelernt werden und die Form der Anwendung entscheidet auch nicht über die Qualität der Information, die auf einen Klick folgt.
  • Google nutzt sein umfassendes Wissen für das Ranking von Inhalten, sichert seine Investitionen in die vorhandene technische Landschaft und stärkt seinen Markenkern. [8]

Und zu guter Letzt sichert Google sein primäres Geschäftsmodell, das auf Werbeeinnahmen basiert, sowie die Disziplin Content Marketing. Ziemlich cool, oder?

Ist das Googles Nokia-Moment?

Google steht vor einer großen Herausforderung: Der Markt ändert sich. Neue Akteure  betreten das Spielfeld und definieren teilweise die Regeln des Spiels neu. Das eigene Geschäftsmodell gerät unter Druck. Was tun? Ist das Googles Nokia-Moment, über den sich Studierende in 20 Jahren austauschen und fragen werden, wie es dazu kam, dass Google als Internet-Gigant von der Bildfläche verschwand?

Eine gesicherte Antwort auf diese Frage habe ich nicht. Würde ich sie googeln, dürfte ich kaum eine sinnvolle Antwort finden. Ein Sprachmodell würde zwar eine plausibel klingende Antwort formulieren, doch wie belastbar diese ist, steht auf einem anderen Blatt. Ich glaube jedenfalls, dass Google sein eigenes Geschäftsmodell retten und weiterhin eine bedeutende Rolle im Wettbewerb und im Internet-Alltag spielen kann, indem es mehrere AI-generierte Antworten anzeigt, die auf vorhandenen Webseiten-Inhalten aufsetzen. Gleichzeitig wird dadurch die Basis für Content Marketing gesichert, denn nur wenn Inhalte zu Klicks führen, ist es für Website-Betreibende sinnvoll, Inhalte zu produzieren.

Ausblick

Dies war Teil 1 der Serie „AI first”. In Teil 2 werfe ich einen Blick auf die Auswirkungen von Artificial Intelligence auf die Arbeitswelt und unsere Jobs. Wie werden sich ausgewählte Tätigkeiten verändern, werden wir unsere Jobs behalten und welche Strategien verfolgen Unternehmen möglicherweise?

 

Hinweise:

[1] Wiktionary: googlen
[2] GoogleWatchBlog: Umsätze und Gewinne in 2024
[3] Neben Werbung generiert Google Einnahmen aus Cloud-Diensten, Abos wie YouTube Premium und eigener Hardware wie Google Pixel. Projekte wie Waymo (autonomes Fahren) oder Verily (Gesundheit) tragen derzeit nur geringfügig zum Umsatz bei.
[4] Chaz Hutton: Googling stuff … then … now
[5] Das Google-Forschungsteam „Google Brain“, veröffentlichte 2017 auf der Konferenz „Neural Information Processing Systems“ das wegweisende Paper Attention Is All You Need, in dem das Transformer-Modell erstmals vorgestellt wurde.
[6] OpenAI ist ein US-amerikanisches KI-Forschungsunternehmen, bekannt für Modelle wie GPT (ChatGPT), DALL-E und Sora. Anthropic ist ein US-amerikanisches KI-Startup, gegründet 2021 von ehemaligen OpenAI-Mitarbeitern. Anthropic ist bekannt für sein Sprachmodell Claude und wird u.a. von Investoren wie Amazon und auch Google (!) unterstützt. Mistral AI ist ein französisches KI-Unternehmen, das 2023 gegründet wurde. Mistral verfolgt einen Open-Source-Ansatz und möchte KI-Technologie demokratisieren.
[7] Interessanterweise bleibt die Anzahl der Impressionen von Websites häufig stabil; ein schöner Hinweis darauf, dass Impressionen ein Muster ohne Wert sind.
[8] Tatsächlich könnte Google dadurch auch sich widersprechende Informationen prominent darstellen und nicht nur die gleichen Inhalte in anderen Worten auf anderen Webseiten.

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Michael Schenkel
Michael Schenkel

Leiter Marketing, t2informatik GmbH

Michael Schenkel hat ein Herz für Marketing – da passt es gut, dass er bei t2informatik für das Thema Marketing zuständig ist. Er bloggt gerne, mag Perspektivwechsel und versucht in einer Zeit, in der vielfach von der sinkenden Aufmerksamkeitsspanne von Menschen gesprochen wird, nützliche Informationen – bspw. hier im Blog – anzubieten. Wenn Sie Lust haben, verabreden Sie sich mit ihm auf einen Kaffee und ein Stück Kuchen; mit Sicherheit freut er sich darauf!

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