Delete-Strategie: Entlastung statt Überlastung

Gastbeitrag von | 09.09.2024

Menschen entlasten für gesunde Arbeit mit der Delete-Strategie

Überlastung im Beruf, das höre ich immer häufiger in Gesprächen. Geht es Ihnen auch so? Immer mehr Aufgaben, Anforderungen, Tools, digitale Plattformen, Gesetze, Produkte und Prozesse kommen im Arbeitsalltag hinzu. Es ist ein Zu-viel-von-allem. Auch gute Tools und Methoden zur Effizienz und Optimierung können zu viel des Guten sein. Zu viel ist zu viel. Das Zu-viel-von-allem wird auch nicht weniger durch mehr Zeitmanagement oder mehr Selbstoptimierung.

Die Auswirkungen sind messbar: Der Krankenstand stieg 2022 und lag 2023 auf einem neuen Höchststand. [1] Immer mehr Menschen leiden unter Burn-out. Das ist einfach zu viel Leid, und es sind zu hohe Kosten für Unternehmen und unsere Gesellschaft. Anfang 2024 lautete eine Schlagzeile: “Ohne den hohen Krankenstand wäre die deutsche Wirtschaft 2023 offenbar gewachsen und nicht geschrumpft.” [2]

Ist ein hoher Krankenstand vermeidbar?

Wie wir arbeiten ist kein Naturgesetz

Wir produzieren ungesunde Arbeit im Überfluss. Das ist kein Unfall oder das Werk einer höheren Macht. Arbeitsbedingungen werden von uns erfunden und umgesetzt, daher sind sie jederzeit änderbar. Krankheiten, die durch ungesunde Arbeit entstehen, sollten wir uns nicht mehr leisten.

Alles, was Gesundheit im Weg steht, sollten wir löschen. Schaffen wir Platz für die nächste, bessere Version gesunder und smarter Arbeit. Die Kernfrage lautet: Was können wir weglassen? Welche Verschwendung wollen wir uns nicht mehr leisten?

Statt mehr Zeitmanagement, mehr Effizienz und mehr Selbstoptimierung schlage ich eine andere Denkweise vor: ZUERST löschen, entmüllen, streichen und weglassen. Nicht mehr Aufgaben und mehr Projekte, sondern: Was lassen wir weg? Löschen für gesunde Arbeit. Entlastete Arbeit entlastet Menschen und verbessert die Arbeit.

Was lassen wir weg, um zu entlasten?

Wir können smart arbeiten und weniger machen, indem wir überflüssige, teure und wertlose Aufgaben löschen. Fokus setzt Ressourcen frei. Entlastung verbessert den Service und Umsatz.

In einer Steuerkanzlei gibt es “Stille Stunden”, das sind drei Stunden pro Tag, in denen kein Telefon klingelt. Die Kunden wissen Bescheid. Außerdem sind die Server so eingestellt, dass E-Mails intern nur zweimal pro Tag zugestellt werden. Statt vom Team zu erwarten, sich nicht von jeder E-Mail ablenken zu lassen, wird die Struktur für alle angepasst. In 34 Stunden schaffen die Mitarbeitenden jetzt stressfreier mehr Arbeit als zuvor in 40 Stunden. Und der Umsatz ist gestiegen.

Ein Hotel hat die Arbeitszeit von 40 auf 36 Stunden reduziert bei vollem Lohn. Das Hotel forderte nicht mehr Leistung, sondern ging in Vorleistung und entlastete die Crew. Die jährlich 1.400 Online-Bewertungen von Gästen sind jetzt deutlich besser als vorher. Erholte Menschen sind entspannter. Die Gäste erleben einen besseren Service und schreiben bessere Bewertungen. Das bringt dem Hotel mehr Gäste, mehr Umsatz und mehr Bewerbungen. Attraktive Arbeitsbedingungen ziehen an.

Ein Arbeitsbeginn um 3 Uhr ist für viele Menschen unattraktiv. Muss ein Bäcker nachts mit dem Backen anfangen? Bäckermeister Till Gurka bricht mit traditionellen Strukturen und trotzt dem Fachkräftemangel. Seine Bäckerei “Till und Brot” öffnet um 11 Uhr vormittags, gebacken wird ab 6 oder 7 Uhr. Er stellt fest: “Ich bekomme mehr Bewerbungen als ich einstellen kann.” [3] Und seinem Beispiel folgen immer mehr Bäckereien in Deutschland. Es geht!

Wer einen Mangel an Fachkräften hat – besonders aktuell beim absoluten Rekord an Erwerbstätigen in Deutschland mit 46 Millionen Erwerbstätigen [4] – sollte sein Angebot ändern. Streichen alter Annahmen, Löschen gewohnter Standards, Entmüllen wertloser Tätigkeiten, Ausmisten von Bürokratie. All das schafft große Freiräume!

Nutzen wir Arbeitszeit weise?

Die Zahl der Erzieherinnen und Erzieher hat sich in den letzten 10 Jahren fast verdoppelt in Deutschland. Sogar die Zahl der Pflegekräfte steigt kontinuierlich an. 1,69 Millionen Pflegekräfte arbeiteten 2023 in Deutschland [5] und die Zahlen steigen schon viele Jahre kontinuierlich, plus 18 Prozent in Kliniken seit 2011 [6] und plus 40 Prozent in ambulanten Diensten und Heimen seit 2009.

Das Problem ist die unfassbar große Zeitverschwendung durch Bürokratie. Bereits 2015 berichtete das Ärzteblatt, dass Klinikärzte 44 Prozent ihrer Zeit für das Dokumentieren aufwenden müssten. Pflegekräfte verbringen laut Ärztezeitung mehr als 30 Prozent ihrer Arbeitszeit mit Dokumentation. [7]

Haben wir zu wenig Pflegekräfte oder verschwenden wir Milliarden Stunden wertvolle Arbeit? Das ist völlig irre! Mit halbierter Bürokratie wären ad hoc 100.000 Menschen mehr in Vollzeit in der Pflege tätig. Diese Menschen sind bereits da und arbeiten in dem Beruf. Wir vergeuden ihre Arbeitszeit und rufen “Fachkräftemangel”. “Wir haben in Deutschland nicht zu wenig Pfleger. Das Problem ist, dass das vorhandene Personal kaum zum Pflegen kommt”, so der Vorsitzende des Hartmannbunds, Dr. Thomas Lipp. [8]

Zu wenig Fachkräfte oder zu viel Zeit verschwendet? Statt das Entmüllen voranzutreiben, schieben etliche Politiker und Verbandsvorsitzende den Schwarzen Peter der Bevölkerung zu. Sie beschweren sich öffentlich über Faulheit der Menschen im “Freizeitpark Deutschland”. [9]

Was sagen die Fakten 2024?

Seit 30 Jahren ist die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland kontinuierlich gestiegen. [10] Zudem ist der Anteil Erwerbstätiger an der Gesamtbevölkerung in Deutschland sehr hoch im Vergleich zu anderen europäischen Ländern. Das bringt uns einen vierfachen Rekord:

  1. Eine sehr hohe Erwerbsquote – Platz 6 in Europa. [11]
  2. Eine der niedrigsten Arbeitslosenquoten – fünftletzter Platz. [12]
  3. 45,9 Millionen Erwerbstätige 2023, ein absoluter Rekord in Deutschland. [13]
  4. Insgesamt werden in Deutschland mehr Stunden denn je gearbeitet. [14]

Warum wird darüber so wenig berichtet? Das sind richtig gute Nachrichten. Wir könnten das feiern. Und es kommt noch besser: Platz 2 bei Patenten!
Haben Sie mitbekommen, dass 2023 beim Europäischen Patentamt so viele Anmeldungen eingegangen sind wie nie zuvor: 199.275. Das sind 2,9 Prozent mehr als 2022. Aus Deutschland kommen 24.966 Patente, 1,4 Prozent mehr (MEHR!) als 2022. Deutschland steht damit auf Platz 2 beim Europäischen Patentamt. [15] Besonders im Kampf gegen Krebs ist Deutschland bei Patentanmeldungen führend in Europa.

Meinungen basieren auf Geschichten, die massentauglich weitererzählt werden. Reißerische Schlagzeilen wie “Fachkräftemangel” und “Freizeitpark” verkaufen sich besser als ein Rekord bei Erwerbstätigen und Patenten. Löschen Sie reißerische Schlagzeilen in Ihrer Wahrnehmung und schauen Sie regelmäßig in seriöse Daten und Quellen wie beim Statistischen Bundesamt.

Wählen Sie weise, was Sie tun und lassen

Natürlich suchen viele Betriebe händeringend Mitarbeitende. Doch die 46 Millionen Erwerbstätigen haben sich einen Arbeitgeber ausgewählt. Wer zieht an? Löschen wir zunächst das Märchen vom Niedergang des Arbeitsmarktes. Und schaffen wir Freiräume für attraktive, gesunde Arbeit und Innovation.

Stellen Sie sich vor jeder neuen Aufgabe und jedem neuen Projekt folgende Frage: Welche alte Aufgabe, Anforderung, welches Tool oder Projekt lassen wir dafür weg? Machen Sie diese Frage zur gesunden Routine. Vor einer neuen Aufgabe wird zuerst eine wertlos gewordene Aufgabe ausgemistet.

Füllen Sie zusätzlich eine Liste mit Überlastungen und unnötigen Bremsklötzen, um sie dann aus dem Weg zu räumen. Stoppen Sie Überlastung mit immer mehr Aufgaben und noch mehr Verpflichtungen. Lassen Sie weg, löschen und entmüllen Sie, entlasten und fokussieren Sie sich. Raus aus diesem Zu-viel-von-allem kommt man mit Ausmisten und Wegstreichen.

Regelmäßig Platz zu schaffen, macht uns die Haut vor.

Aufgaben professionell entmüllen wie die Haut

Die Haut ist unser größtes Organ. Beim Berühren wirkt sie fest und glatt. Dabei verliert jeder Mensch pro Minute 30.000 bis 40.000 Hautzellen, das sind Millionen Zellen pro Tag. Wir bemerken den Verlust gar nicht. Unsere Haut schafft täglich Platz für frische Hautzellen, die nachwachsen. So erneuert sie sich etwa alle 28 Tage. Das setzt voraus, dass der Müll vorher entsorgt wurde. Wir können alte Haut nicht festhalten. Sonst würden wir nach zehn Jahren 120 Häute übereinander tragen. Das will keiner.

Entmüllen Sie die Arbeit so strukturiert und kontinuierlich, wie sich die Zellen unserer Haut erneuern. Anders als bei der Haut muss nicht jede alte Aufgabe aussortiert werden. Es gibt bewährte Gewohnheiten, die weiterhin wertvoll sein können. Dann bleiben sie. Fragen Sie sich und das Team regelmäßig: Was brauchen wir? Was lassen wir weg? Gestalten Sie den Wandel der Arbeit wie den natürlichen Prozess der Haut.

Die Firma Shopify hat für ihre 11.000 Angestellten eine Google-Chrome-Erweiterung entwickelt, die im Kalender aller Mitarbeitenden die Höhe der Meeting-Kosten zeigt. “Niemand bei Shopify würde für ein Abendessen 500 Dollar ausgeben. Trotzdem geben sehr viele in Meetings viel mehr Geld aus.” [16] Die Lösung: Die Kosten zu sehen, veränderte den Meetingwahn. 322.000 Stunden werden nun effektiver genutzt. Wir bestimmen die Spielregeln beim Meeting.

Am wirksamsten ist Entlastung, wenn Aufgaben und Prozesse für alle Mitarbeitenden ausgemistet werden. Dann ist die ganze Firma aufgeräumt und leistungsfähig. Überlastung braucht Entlastung. Gute, gesunde Arbeit ist entmüllte, entlastete Arbeit.

 

Hinweise:

Wollen Sie mehr über die Delete-Strategie erfahren? Sehr gerne empfehlen wir Ihnen das neue Buch von Marin Gaedt: SMART ARBEITEN MIT DER DELETE-STRATEGIE. Überflüssiges streichen, Produktivität steigern, kreatives Potenzial freisetzen.

Smart arbeiten mit der Delete-Strategie

[1] IHK: Krankenstand 2023 auf neuem Höchststand
[2] Tagesschau: Drückte Krankenstand in Rezession?
[3] Focus: Gen-Z-Bäckerei öffnet erst um 11 Uhr – ihrem Chef rennen Azubis jetzt die Bude ein
[4] Tagesschau: Historischer Höchststand: Erstmals mehr als 46 Millionen Erwerbstätige
[5] Bundesagentur für Arbeit: Arbeitsmarktsituation im Pflegebereich
[6] Statistisches Bundesamt: Zahl der Beschäftigen im Pflegedienst in Kliniken binnen zehn Jahren um 18 % gestiegen
[7] [8] Ärztezeitung: Ärztezeitung: Genug Pfleger, aber zu viel Dokumentation
[9] Welt: „Freizeitpark Deutschland“?
[10] Soziale Situation in Deutschland: Erwerbstätigkeit
[11] Statista: Europäische Union: Erwerbstätigenquoten in den Mitgliedstaaten im 1. Quartal 2024
[12] Statistisches Bundesamt: EU-weite Erwerbslosigkeit liegt im Juli bei 6,0 %. Deutschland mit niedrigster Jugenderwerbslosenquote der EU
[13] ZDF: Arbeitsmarkt in Deutschland: Zahl der Erwerbstätigen auf Rekordhöhe
[14] Augsburger Allgemeine: Arbeitsforscher: „Deutschland ist nicht faul geworden“
[15] Munich Startup: Europäischer Patent Index 2023: Gute & weniger gute Ergebnisse
[16] Capital: Arbeitsalltag: Ineffizient und teuer: Die wahren Kosten eines Meetings

Wenn Ihnen der Beitrag gefällt oder Sie darüber diskutieren wollen, teilen Sie ihn gerne in Ihrem Netzwerk. Und falls Sie sich für weitere Tipps aus der Praxis interessieren, dann testen Sie gerne unseren wöchentlichen Newsletter mit neuen Beiträgen, Downloads, Empfehlungen und aktuellem Wissen. Vielleicht wird er auch Ihr Lieblings-Newsletter

Martin Gaedt hat zwei weitere Beiträge im t2informatik Blog veröffentlicht:

t2informatik Blog: Befreien Sie die Welt von langweiligen Vorträgen! Provotainen Sie!

Befreien Sie die Welt von langweiligen Vorträgen! Provotainen Sie!

t2informatik Blog: Die 4-Tage-Woche bringt die 3-Tage-Freizeit

Die 4-Tage-Woche bringt die 3-Tage-Freizeit

Martin Gaedt
Martin Gaedt

Martin Gaedt ist Autor der Bücher „4 Tage Woche“ (2023) „Rock Your Work“ (2022), „Rock Your Idea“ (2016), „Mythos Fachkräftemangel“ (2014). Seit 2014 hat er in rund 650 Keynotes und Workshops mehr als 100.000 Menschen provotaint. Seit 1999 ist er Unternehmer, gründet selbst und war 61-mal Arbeitgeber.