Matrixorganisation: Die formalisierte Verantwortungslosigkeit

Gastbeitrag von | 15.08.2024

Die Matrixorganisation hat ihren Ursprung in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrtausends und gilt auch heute noch vielfach als Antwort auf die steigende Komplexität innerhalb von Organisationen. Ich habe schon Stellenanzeigen gesehen, in denen “mehrjährige Erfahrung in der Arbeit innerhalb einer Matrixorganisation” als Kompetenz für die betreffende Stelle gefordert wurde. Wenn Menschen besondere Kompetenzen benötigen, um in einer gegebenen Organisationsstruktur erfolgreich agieren zu können, macht mich das erst einmal stutzig. Schließlich sollen Strukturen das erfolgreiche Agieren leichter machen und keine Herausforderung an sich darstellen.

In meinem Beratungsalltag hat sich das Vorhandensein einer Matrixorganisation als einigermaßen verlässliches Warnzeichen für nicht passfähiges Organisationsdesign herausgestellt. Hier einige Beobachtungsbeispiele im Zusammenhang mit Matrixorganisationen, die Sie vielleicht aus Ihrem eigenen Alltag kennen:

  • das Treffen von Entscheidungen dauert sehr lange, da alle Dimensionen der Matrix sich abstimmen müssen und Entscheidungen oftmals im Konsens oder Konsent getroffen werden
  • mehr Besprechungen, E-Mails, Klausuren, Tagungen aufgrund gestiegener Abstimmungsbedarfe
  • fehlende Transparenz bei Informationen, Strategien, Entscheidungsfindungen etc.
  • Unsicherheit bei Mitarbeitenden hinsichtlich ihrer Mehrfachunterstellung
  • Zurechnungsprobleme von Erfolgen und Misserfolgen

Dieser letzte Punkt ist aus einem Wikipedia-Eintrag zur Matrixorganisation übernommen¹ und kleidet das Basisproblem ist recht harmlos klingende Worte. In der Artikelüberschrift drücke ich mich drastischer aus: die Matrixorganisation formalisiert und verankert Verantwortungslosigkeit. Und das auf mehreren Ebenen.

Matrixorganisation: Verantwortungslosigkeit auf Teamebene

Vor allem unklare und nicht überschneidungsfreie Regelungen zu Kompetenzen und Weisungsbefugnissen sowie Priorisierungskonflikte bringen Teams teils an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit. In der Konsequenz beobachten wir beispielsweise, dass Selbstorganisation aufgrund unklarer Rahmenbedingungen und Verantwortlichkeiten schlecht gelingt. Nicht selten wird diese Beobachtung auf die Mitarbeitenden attribuiert, “mit dieser Truppe klappt das eben nicht.” Diese Schlussfolgerung ist mit hoher Wahrscheinlichkeit schlicht falsch.

Wenn Handlungs- und Entscheidungsspielräume, Strategien, Risiken, Verantwortlichkeiten, etc. nicht klar genug gesteckt sind, wird die daraus resultierende Unsicherheit in der Regel zu einer abwartenden Haltung in den Teams führen. Fehlende Übernahme von Verantwortung ist also kein Charakterzug, sondern wird maßgeblich durch die Strukturen der Matrix gefördert.

Matrixorganisation: Verantwortungslosigkeit auf Managementebene

Trotz gravierender Nachteile entscheiden sich Unternehmen auch heute noch bewusst für eine Matrixorganisation. Natürlich könnte ein Grund sein, dass nach sorgfältigem Abwägen zu der Erkenntnis gelangt wurde, dass die Matrix im spezifischen Kontext der Organisation eben doch mehr Vor- als Nachteile bereithält.

Meine Hypothese geht in eine andere Richtung: Matrixorganisationen werden in der Regel dann verankert, wenn die Komplexität innerhalb der Organisation immer schwerer handhabbar wird.

Man erhofft sich durch die formale Verteilung der Verantwortung auf viele Schultern entlang des Organigramms eine Komplexitätsreduktion. Was in Wirklichkeit geschieht, ist Folgendes: bereits gelebte Verantwortungslosigkeit (oder sanfter formuliert: Mehrfachverantwortung verteilt auf unterschiedliche Dimensionen) wird schlicht formal sichtbar gemacht. An der Komplexität innerhalb der Organisation ändert sich nichts.

Die Verantwortung für den wirtschaftlichen Erfolg

Matrixorganisationen entstehen immer dann, wenn eine signifikant wichtige Entscheidung im Management nicht getroffen wird: die Entscheidung, wer am Ende für den wirtschaftlichen Erfolg oder eben Misserfolg verantwortlich ist und welche Dimension das Primat in der Steuerung innehat.

Sichtbar wird diese versäumte Entscheidung, wenn wir einen Blick auf die Steuerung der wertschöpfenden Einheiten der Organisation werfen. Eine Leitfrage, die wir uns hier stellen können, lautet bspw.: Ist anhand der wertschöpfenden Einheiten erkennbar, wie wir das Problem unserer Kunden lösen wollen und wer für die Erzielung des Kundennutzens verantwortlich ist?

Diese mit “ja” oder “nein” zu beantwortende Frage scheint zunächst trivial, sie ist es jedoch nicht. Denn ihre Beantwortung setzt vor allem voraus, dass wir radikal aus Sicht unserer Kunden denken. Wer sind unsere Kunden? Welche Probleme lösen wir für sie? Wofür sind sie wirklich bereit Geld zu zahlen?

Diese letzte Teilfrage ist entscheidend, denn ihre Beantwortung liefert das primäre Steuerungskriterium, welches Verantwortlichkeit verankert und befreit die Organisation von der Versuchung sich in die Matrix zu flüchten. Hier einige Beispiele zur Veranschaulichung:

  • Ist unsere Technologieführerschaft ein entscheidendes Kaufkriterium unserer Kunden, sollten wir unsere Wertschöpfung primär nach Technologien steuern.
  • Müssen unsere Produkte oder Services je nach Region stark individualisiert werden, um die Kundenbedürfnisse zu erfüllen, kann eine primäre Steuerung nach Regionen sinnvoll sein.
  • Liefern wir Produkte und Services für individuelle Großkunden, sollten wir über eine kunden-/accountzentrierte Steuerung nachdenken.

Egal welches Kriterium wir identifizieren, dieses dient der vorrangigen Steuerung der Wertschöpfung und formalisiert Verantwortung für den wirtschaftlichen Erfolg für Produkt und Dienstleistung. Wir schaffen durch diese Segmentierung einen klaren Rahmen für funktionierende Selbstorganisation, schnelle Entscheidungen und reduzieren den Abstimmungs- und Kommunikationsbedarf.

Ein Hinweis sei an dieser Stelle angebracht: unterschiedliche Steuerungsebenen in der Organisation können anhand unterschiedlicher Steuerungskriterien gemanagt werden. Ein Beispiel: Ein weltweiter Hersteller von Süßigkeiten kann sich auf der Ebene der Gesamtorganisation für die Steuerung der Wertschöpfung nach Produkt (also Art der Süßigkeit) entscheiden. Auf der Ebene darunter (hier: Produktebene) kann eine Steuerung nach Regionen sinnvoll sein, falls Kunden je nach Region unterschiedliche Ansprüche an die jeweilige Süßigkeit haben – Nutella schmeckt z.B. überall auf der Welt anders. In jeder Region könnte vielleicht auch nach unterschiedlichen Anwendungsgebieten gesteuert werden. Vielleicht stellt die Organisation “normales” Fruchtgummi und Fruchtgummi mit Vitaminzusatz her, die als Nahrungsergänzungsmittel genutzt und entsprechend anders gesteuert werden müssen.

Es muss also nicht die gesamte Wertschöpfung der Organisation nach nur einem Kriterium gesteuert werden. Wahrscheinlich wäre dies in vielen Fällen zu unterkomplex. Entscheidend ist, sich auf jeder Ebene für genau ein Steuerungskriterium zu entscheiden, um nicht in formalisierte Verantwortungslosigkeit abzurutschen.

Fazit

Eine eindeutige Steuerungsgröße schafft den Rahmen für gelingende Selbstorganisation und marktgerechte, schnelle Entscheidungen. Beides sehen wir in Matrixorganisationen selten gelingen, weil die bloße Existenz der Matrix oft hemmend wirkt. Die unternehmerische Entscheidung für die jeweils primäre Steuerungsgröße auf unterschiedlichen Ebenen der Organisation wird gerne umgangen, weil es sich eben um eine echte Entscheidung unter Unsicherheit handelt: Wir können – wenn überhaupt – erst mit zeitlicher Verzögerung feststellen, ob die Entscheidung “richtig” oder “falsch” war.

Dieses Risiko möchten viele Entscheider:innen nicht alleine tragen, dabei gibt es relativ einfache Tools, die den Entscheidungsraum auf ein überschaubares Maß eingrenzen. Dr. Martin Pfiffner hat in seinem Buch “Die dritte Dimension des Organisierens” aus Leitfragen, die Sie teilweise auch in diesem Artikel finden, eine Tabelle abgeleitet, die die Entscheidung für die primären Steuerungsgrößen unterstützen kann.² Ich selbst konnte dieses Instrument bereits erfolgreich anwenden.

 

Hinweise:

Haben Sie weiteres Interesse an diesem oder weiteren Organisationsthemen? Stefanie Hamann freut sich auf einen Austausch! Über LinkedIn ist sie leicht zu erreichen.

[1] Wikipedia: Matrixorganisation
[2] Martin Pfiffner: Die dritte Dimension des Organisierens; https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-658-29247-8

Wenn Ihnen der Beitrag gefällt oder Sie darüber diskutieren wollen, teilen Sie ihn gerne in Ihrem Netzwerk. Und falls Sie sich für weitere Tipps aus der Praxis interessieren, dann testen Sie gerne unseren wöchentlichen Newsletter mit neuen Beiträgen, Downloads, Empfehlungen und aktuellem Wissen. Vielleicht wird er auch Ihr Lieblings-Newsletter!

Stefanie Hamann
Stefanie Hamann

Stefanie Hamann ist Expertin für kluges Organisationsdesign und agile Methoden. Mit ihrer Leidenschaft für innovative und effektive Strukturen unterstützt sie Unternehmen dabei, widerstandsfähig und anpassungsfähig zu bleiben. Als Beraterin hat sie zahlreiche Unternehmen erfolgreich bei der Implementierung agiler Methoden wie Scrum, Kanban und SAFe begleitet. Zudem coacht sie Führungskräfte darin, ihre Leadership-Kapazitäten zu entwickeln und eine inspirierende Führungskultur zu etablieren.