Zwischen Belastung und Gesundheit

Gastbeitrag von | 20.02.2025

Warum wir jetzt mehr Gefährdungsbeurteilungen von Arbeitsplätzen und Resilienztrainings brauchen

Die aktuelle Diskussion um die Einführung von Karenztagen im Krankheitsfall bildet den Hintergrund für diesen Beitrag, in dem ich die Auswirkungen von Erwerbsarbeit auf die Gesundheit von Arbeitnehmer:innen ebenso beleuchten möchte wie die damit verbundenen Aufgaben in der Managementpraxis von Unternehmen.

Das Job Demands-Resources Modell

Das Job Demands-Resources (JD-R) Modell ist ein Rahmenmodell, das sich auf jede Arbeitstätigkeit anwenden lässt. Die Merkmale aller Arbeitstätigkeiten können demnach in zwei Kategorien eingeteilt werden:

  • Job Demands (Arbeitsanforderungen) und
  • Job Resources (Arbeitsressourcen).

Arbeitsanforderungen sind physische, psychische, soziale und organisatorische Aspekte der Arbeit, die eine in der Regel länger andauernde physische und/oder psychische Beanspruchung erfordern. Arbeitsressourcen sind die physischen, psychischen, sozialen und organisatorischen Arbeitsbedingungen, die funktional für das Erreichen der arbeitsbezogenen Ziele sind und persönliche Entwicklung und Wachstum initiieren. Dazu zählen z.B. die Vielfältigkeit der Aufgaben, die Partizipation an Entscheidungen, Aufstiegsmöglichkeiten, Leistungsfeedback durch die Führungskraft sowie zwischenmenschliche Beziehungen zwischen Mitarbeiter:innen untereinander und zwischen Mitarbeiter:innen und Führungskraft. (vgl. Schulte et al 2021)

Jede der beiden Kategorien setzt einen eigenen Prozess in Gang. „In dem ersten Prozess führt die Konfrontation mit hohen oder schlecht gestalteten Arbeitsanforderungen längerfristig zur Entstehung von Erschöpfung.“ (…) „Im zweiten Prozess wird wegen eines Mangels an hinreichenden Arbeitsressourcen das Erreichen der Arbeitsziele erschwert oder behindert (…).“ (Demerouti/Nachreiner 2019 :121).

In diesem Zusammenhang kann auch die Resilienz eines Individuums, als Fähigkeit auf Basis interner oder sozial vermittelter Ressourcen konstruktiv mit Arbeitsanforderungen umzugehen und dabei handlungsfähig zu bleiben, benannt werden. Gefährdungsbeurteilungen können als ein Prozess verstanden werden, „in dem auf Grundlage einer Beurteilung der mit der Arbeit verbundenen Gefährdung erforderliche Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit der Beschäftigten systematisch ermittelt, umgesetzt und auf ihre Wirksamkeit hin überprüft werden.“ (Beck/Schuller 2021 :14). Bei der Gefährdungsbeurteilung sind als Arbeitsbedingungsfaktoren auch psychische Aspekte der Arbeit zu beachten, die eine potenzielle Gefährdung für Mitarbeiter:innen darstellen können.

Hier ist also eine doppelte Perspektive einzunehmen; einerseits: Aufbau und Förderung von (individuellen) Ressourcen und andererseits: Abbau von Arbeitsanforderungen, die als Stressoren Auswirkungen auf die psychische Gesundheit haben.

„Um Gesundheit zu erhalten oder zu fördern, ist es notwendig, dass es einem Individuum gelingt, externe und interne Anforderungen mit Hilfe externer und interner Ressourcen zu bewältigen (Backer 2017 zit. nach Unkrig 2021 :19).

Die Nationale Präventionskonferenz (NPK) mit ihren Trägern GKV, DGUV, SVLFG und Deutsche Rentenversicherung stellt (etwas vereinfachend) fest: „Der Erwerbsarbeit kommt ein hoher Stellenwert für die Gesundheit der Beschäftigten zu: Einerseits besitzt sie ein großes gesundheitsförderliches Potenzial, da Arbeit die persönliche Identität des Einzelnen positiv prägt, Sinn und sozialen Zusammenhalt stiftet (…).Andererseits können sich Arbeitsbedingungen auch nachteilig auf die Gesundheit der Beschäftigten auswirken.“ (NPK o.J. :o.S.)

Auswirkungen der Arbeitsbedingungen auf die Gesundheit

Der Zusammenhang zwischen (‚schlechten‘) Arbeitsbedingungen, die sich direkt oder indirekt negativ auf die Gesundheit der Beschäftigten auswirken, ist unbestritten. Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin hat im Rahmen einer wissenschaftlichen Bestandsaufnahme die Zusammenhänge von mehr als 20 Arbeitsbedingungsfaktoren mit psychischen Störungen, Muskel-Skelett-Erkrankungen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen analysiert und beschrieben. Insbesondere für die Zusammenhänge zwischen (einzelnen) Arbeitsbedingungsfaktoren und der psychischen Gesundheit konnten konsistente Zusammenhänge festgestellt werden.

Arbeitsbedingungen, die krank machen können

Abbildung 1: Grundannahmen zur Wirkung von Arbeitsfaktoren auf die psychische Gesundheit. (Rothe et al 2017: 23)

Zu den Arbeitsbedingungsfaktoren, die sich stark als Belastungsfaktoren auf die psychische Gesundheit auswirken, zählen vor allem die Arbeitsintensität, (atypische) Arbeitszeiten, Störungen/ Arbeitsunterbrechungen, Emotionsarbeit und ‚destruktive Führung‘ (gekennzeichnet durch wenig wertschätzenden Umgang mit den Beschäftigten, geringe Rücksichtnahme oder Beteiligung der Mitarbeitenden), die im Zusammenspiel mit anderen Arbeitsbedingungsfaktoren eine zentrale Rolle spielt. (vgl. Rothe et al 2017)

Körperliche Belastungen bei der Arbeit können „eine Beanspruchung des Muskel-Skelett-Systems sowie des Herz-Kreislauf-Systems bewirken. Kurz- und langfristig können diese Anforderungen zur nicht mehr kompensierbaren Beanspruchung der individuellen Voraussetzung (Überforderung) führen und damit eine Gefährdung für die Gesundheit darstellen.“ (Kittelmann et al 2023 :3).

Zu den „Risikofaktoren“ von Muskel-Skelett-Erkrankungen zählen neben den körperlichen Belastungen bei der Arbeit (spezifische physiologisch-biomechanische Beanspruchungskonstellationen) auch „Veränderungen in der Arbeitsorganisation, wie die Gestaltung von Arbeitsinhalten, psychosoziale Faktoren wie soziale Strukturen, Entwicklungsmöglichkeiten im Unternehmen sowie das Führungsverhalten“, die „die Progredienz von arbeitsbedingten MSE begünstigen“. (Holzgreve et al. 2023 :183). Seit Jahren ist auch ein eindeutiger Zusammenhang zwischen Stresserleben und Rückenschmerzen bekannt.

Was sind arbeitsbedingte Erkrankungen?

Die Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz (EU-OSHA) zählt sowohl Muskel-Skelett-Erkrankungen als auch Erkrankungen aufgrund psychischer Störungen zusammen mit arbeitsbedingten Krebserkrankungen, Hauterkrankungen und Erkrankungen durch biologische Arbeitsstoffe zu den sogenannten arbeitsbedingten Erkrankungen. (EU-OSHA o.J. :o.S).

Der Begriff der arbeitsbedingten Erkrankungen wurde in Deutschland bereits 1973, also vor mehr als 50 Jahren, vom Gesetzgeber in das Arbeitssicherheitsgesetz eingeführt. „Er trägt in besonderem Maße der kumulativen Verursachung von Erkrankungen durch berufliche Einflüsse Rechnung.“ (Arbeiterkammer des Saarlandes 2018 :2).

„Unter arbeitsbedingten Erkrankungen versteht man alle Erkrankungen, deren Auftreten mit der Arbeitstätigkeit in Verbindung stehen“ (Landesinstitut für Arbeitsschutz und Arbeitsgestaltung Nordrhein-Westfalen o.J. :o.S.) – „ohne dass hierbei eine bestimmte rechtliche Qualität erreicht werden muss. Die Verbindung muss nicht ursächlich im Rechtsinne sein.“ (Arbeiterkammer des Saarlandes 2018 :2)

„Eine arbeitsbedingte Erkrankung ist bereits dann anzunehmen, wenn Belastungs- und Gefährdungspotenziale des Arbeitsplatzes die Gesundheitsstörung beeinflusst, zum Teil verursacht oder verschlimmert haben. Es ist auch unerheblich, ob eine individuelle körperliche Veranlagung, altersbedingte Aufbrauchserscheinungen oder außerberufliche Ursachen wesentlich zur Entstehung der Erkrankung beigetragen haben.“ (Landesinstitut für Arbeitsschutz und Arbeitsgestaltung Nordrhein-Westfalen o.J. :o.S.)

Entwicklung der krankheitsbedingten Fehlzeiten

Da krankheits- oder unfallbedingte Fehlzeiten insgesamt einen zentralen Indikator für arbeitsweltbezogene Einflüsse auf die Gesundheit darstellen und das Arbeitsunfähigkeitsgeschehen von hoher gesamtwirtschaftlicher Bedeutung ist, lohnt sich ein unverstellter Blick auf den aktuellen Stand 2023 (im Vergleich zum Vor-Corona-Jahr 2019).

2019 2023
AU-Tage je Arbeitnehmer:in 17,2 21
Arbeitnehmer:innen (gesamt) 41,117 Mio. 42,163 Mio.
AU Tage gesamt 712,2 Mio. 886,2 Mio.
(Ausgefallene Erwerbsjahre) (2,0 Mio.)         (2,4 Mio.)
Davon AU-Tage: Psychische und Verhaltensstörungen       117,2 Mio. 142,1 Mio.
Davon AU-Tage: Muskel-Skelett-System 158,8 Mio. 170,8 Mio.
Produktionsausfallkosten in € 88 Mrd. 128 Mrd.
Ausfall Bruttowertschöpfung in € 149 Mrd. 221 Mrd.

Abbildung 2: Ausfallzeiten durch Arbeitsunfähigkeit 2019 und 2023 im Vergleich (nach BAuA 2020 und 2024)

Das Bundesministerium für Gesundheit gibt den Krankenstand (arbeitsunfähig erkrankte Pflichtmitglieder in % aller Pflichtmitglieder) im Jahresdurchschnitt für 2019 mit 4,35 % und für 2023 mit 6,07 % an. (vgl. Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen (2024) :2)

Für das Jahr 2024 liegen noch keine konsolidierten Zahlen vor. Da die durchschnittliche Anzahl der AU-Tage je Arbeitnehmer:in in den ersten 11 Monaten des Jahres 2024 nach Angaben der Techniker Krankenkasse für ihre Versicherten um 0,1 Tage höher lag als im Vergleichszeitraum 2023 und die Gesamtzahl der Arbeitnehmer:innen wieder leicht angestiegen ist, dürften die AU-Tage insgesamt einen Wert von 900 Mio. AU-Tagen überschritten haben.

Die Aufwendungen der Arbeitgeber:innen für Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall steigen im Zeitraum 2019 – 2023 von 64,9 Mrd. Euro auf 76,6 Mrd. Euro (um 18 %) und verdoppeln sich damit innerhalb von 14 Jahren. (vgl.: Pimpertz 2024:2)

Wer nun aber annimmt, dass der Anstieg der Aufwendungen der Arbeitgeber für die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall in erster Linie auf den Anstieg der AU-Tage zurückzuführen ist und die Einführung eines Karenztages fordert, um die Arbeitskosten nachhaltig zu senken, der irrt. Vielmehr sind drei Gründe für den Anstieg zu berücksichtigen:

1. Anstieg der Bruttolöhne

Die Bruttolöhne in Deutschland sind seit 2009-2021 mit Ausnahme von 2020 (minus 0,7%) jährlich um 3,1 – 5,1 % (und 2022 / 2023 noch einmal deutlich um 6,1 / 7,4 %) gestiegen. (vgl. Statista Research 2024:o.S.) Selbst bei konstanter AU-Quote hätte diese Entwicklung rechnerisch bereits zu einem deutlichen Anstieg der Entgeltfortzahlungskosten im Krankheitsfall geführt.

2. Anstieg der Anzahl der Arbeitnehmer:innen

Die Anzahl der Arbeitnehmer:innen (als Teilgruppe der Erwerbstätigen im Inland) ist seit 2014 um mehr als 10 % gestiegen und hatte 2023 einen Höchststand erreicht (der 2024 noch einmal übertroffen wurde) (vgl. Statistisches Bundesamt 2025 :o.S.). Auch diese Entwicklung hätte bei einer gleichbleibenden AU-Quote rechnerisch zu steigenden Entgeltzahlungskosten für die Unternehmer:innen geführt.

3. Anstieg der AU-Tage pro Mitarbeiter:in

Hier ist zu berücksichtigen, dass mit steigendem Lebensalter die durchschnittliche Anzahl der AU-Tage von Arbeitnehmer:innen (ebenfalls) ansteigt. Bei den über 60-Jährigen lag die durchschnittliche AU-Falldauer im Jahr 2023 mit 20,2 Tagen doppelt so hoch wie die durchschnittliche Falldauer über alle Altersgruppen hinweg. (vgl. Radtke 2024:o.S.). Im Vergleich zu 2009 hat sich der Anteil der Erwerbstätigen ab 60 Jahren im Jahr 2022 etwa verdoppelt (auf 5,45 Mio.), während die Zahl der 15- bis 25-Jährigen leicht gesunken ist (auf 4,49 Mio.). (vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung 2023: o.S.).

Schließlich weisen die Krankenkassen darauf hin, dass der Anstieg der AU-Tage auf einen statistischen Effekt zurückzuführen ist, da seit dem 01.07.2022 mit der verpflichtenden Einführung der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) alle „Krankschreibungen durch Ärzte“ vollständig von den Krankenkassen erfasst werden. Laut einer Studie der DAK liegt der sogenannte Meldeeffekt – je nach Diagnose – bei rund 60 Prozent und mehr. (vgl. DAK Presse 07.01.2025).

Die Annahme des Vorstandsvorsitzenden Bäte der Allianz SE über den prognostizierten Effekt (bestenfalls Halbierung der Aufwendungen der Arbeitgeber für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall) bei Einführung eines Karenztages ist mehr als zweifelhaft.

Der Wirtschaftswissenschaftler Prof. Ragnitz vom ifo-Institut führt dazu aus: „Ehrlich gesagt, diese hohe Zahl, die er da nennt, kann ich überhaupt nicht nachvollziehen. Wenn man das überschlägt, kommt man, je nachdem wie viel Leute tatsächlich krank sind und wie oft sie krank sind, auf einen Betrag in der Größenordnung von unter 10 Milliarden Euro – also weit weg von der Zahl, die er da in die Welt gesetzt hat.“ (MDR Sachsen im Interview mit Ragnitz vom 15.01.2025).

Die Frage, ob Beschäftigte vor dem Hintergrund des Einkommensverlustes im Falle eines Karenztages ‚krank zur Arbeit gehen“ könnten (Präsentismus) und die daraus resultierenden Folgen sind hier noch gar nicht berücksichtigt.

Psychische Erkrankungen – eine Detaillierung

Psychische Erkrankungen standen 2023 an dritter Stelle der Krankheitsgruppen, die die meisten Ausfalltage am Arbeitsplatz verursachten (337 AU-Tage je 100 versicherte Erwerbspersonen). Die Ausfalltage dieser Diagnosegruppe (u.a. Depressionen, Erkrankungen durch Belastungsreaktionen und Anpassungsstörungen) sind innerhalb von 10 Jahren um 52 % gestiegen. Erwerbstätige Frauen hatten im Jahr 2023 rund 60 Prozent mehr Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen als Männer (je 100 Versicherte). Die Zahl der Krankschreibungen mit einer psychischen Diagnose ist im Jahr 2023 in allen Altersgruppen gestiegen. Jüngere Erwerbstätige waren häufiger, aber kürzer aufgrund psychischer Erkrankungen krankgeschrieben. (vgl. IGES Psychoreport für DAK-Versicherte 2024)

Der Anstieg der AU-Tage pro Kopf für die Diagnosegruppe Psychische und Verhaltensstörungen im Zeitraum 2019 – 2023 betrug nach den Daten der BAuA (siehe Tabelle oben) 18,2 %. „Der Anstieg der Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen ist eine der auffälligsten Entwicklungen in Bezug auf die Krankenstandskennziffern in den letzten Jahren.“(Dehl et al 2024 :19).

„Das ist nicht erstaunlich, wenn man sich anschaut, wie die psychischen Belastungen für Arbeitnehmer in den letzten Jahren angestiegen sind.“ (Baumgart 2024)

Auch „(nach) Einschätzung von Professor Volker Nürnberg, Experte für betriebliches Gesundheitsmanagement, können unter anderem die veränderten Rahmenbedingungen in der Arbeitswelt Gründe für diesen Anstieg sein.“ (DAK Gesundheit Pressemitteilung 2024: 2)

Die BAuA stellte bereits 2017 fest. „Insgesamt [ist] von einem großen Handlungsbedarf im Bereich der psychischen Gesundheit in der Arbeitswelt auszugehen, der die Gestaltungs- und Umsetzungsdefizite auf der betrieblichen Ebene adressiert.“ (Rothe et al 2017 :119)

Aufgaben in der Managementpraxis von Unternehmen

„Die Schätzung der Produktionsausfälle (Lohnkosten) und Bruttowertschöpfungsausfälle (Verlust an Arbeitsproduktivität) durch Arbeitsunfähigkeit gibt volkswirtschaftlich gesehen ein Präventionspotenzial und mögliches Nutzenpotenzial an.“ (BAuA 2024 :1)

Das Motto von Beratern angesichts der rasant steigenden Fehlzeiten aufgrund psychischer Störungen scheint zu lauten: „Machen Sie Ihre Organisation resilienter“ (Unkrig 2021 :3). Dazu habe ich hier im t2informatik Blog einen Beitrag veröffentlicht: Führung und individuelle Resilienz.

Resilienztrainings und -Workshops für Mitarbeiter:innen mit und ohne Führungsverantwortung stellen in diesem Zusammenhang ganz unbestritten einen wichtigen Baustein zur Stärkung der psychischen Widerstandskraft und Anpassungsfähigkeit von Individuen angesichts tiefgreifender Veränderungen in der Arbeitswelt (und vor dem Hintergrund der aktuellen Polykrise) dar. Resilienz hilft, Belastungen und Herausforderungen aktiv zu bewältigen und damit die psychische Gesundheit zu schützen. Führungskräften muss in diesem Zusammenhang bewusst werden, dass sie mit ihrem Führungsverhalten entweder Teil des Problems ‚Gesundheit von Mitarbeiter:innen‘ oder seiner möglichen Lösung sind.

Allerdings ist die Idee, die Verantwortung für die Stabilisierung der psychischen Gesundheit allein den Individuen (Arbeitnehmer:innen) zuzuschreiben, mehr als bedenklich, wenn damit die Arbeitgeber aus ihrer Verantwortung für die Gesundheit der Beschäftigten entlassen würden.

Was Unternehmen jetzt brauchen, ist der Auf- und Ausbau einer gesundheitsorientierten Unternehmenskultur (Anreizsystem Gesundheit) und eine gesundheitsorientierte Form der Führung statt einer pauschalen Kultur des Misstrauens gegenüber erkrankten Mitarbeiter:innen.

Im Bereich des Arbeits- und Gesundheitsschutzes geht es in erster Linie um die vollständige und nachhaltige Umsetzung des Präventionsauftrages des Arbeitgebers. Das Arbeitsschutzgesetz verpflichtet den Arbeitgeber, die Arbeit so zu gestalten, dass Gesundheitsgefahren möglichst vermieden werden. Dabei sind auch Gefährdungen durch psychische Belastungen bei der Arbeit zu berücksichtigen.

Tatsächlich führen nur maximal 50 % der Betriebe die nach §5 Arbeitsschutzgesetz geforderte Gefährdungsbeurteilung durch. Auf die Frage nach den Gründen für die Nichteinhaltung dieser gesetzlichen Vorgabe antworten die befragten Unternehmer:innen nicht etwa mit dem Hinweis auf mögliche Umsetzungsprobleme oder den damit verbundenen Aufwand, sondern mit dem (lapidaren) Hinweis darauf, dass „kaum Gefährdungen vorliegen“ bzw. die Mitarbeiter:innen die Sicherheitsdefizite ohne Hinweise selbst erkennen würden. (Sommer 2019 :o.S.) Allerdings wird auch bei den Unternehmen, die Gefährdungsbeurteilungen durchführen, „der Umgang mit psychosozialen Risiken der Arbeit nach wie vor viel zu selten berücksichtigt.“ (Beck/Schuller 2021 :13)

Viele Arbeitgeber kommen somit auch ihrem Auftrag, die Gesundheit ihrer Mitarbeiter:innen vor psychischen Belastungen zu schützen und gemäß §3 Abs. 1 Arbeitssicherheitsgesetz die Ursachen von arbeitsbedingten Erkrankungen zu untersuchen und zu verhüten, nicht in ausreichendem Maße nach.

Aber: „Dauernde Umstrukturierungen von Unternehmensstrukturen, Teams, Aufgaben und Anforderungen stellen enorme Anforderungen an die psychische Robustheit des Einzelnen. (…). Neben ständiger Erreichbarkeit, überbordenden Arbeitsmengen, und schlechter Führungskultur, ist es vor allem das Klima ständiger Unsicherheit, das die Anfälligkeit von Beschäftigten für Erschöpfungserkrankungen erhöht.“ (Graefe 2022 :56)

Dementsprechend hat die Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie (GDA) festgestellt, dass der fortschreitende digitale Wandel in der Arbeitswelt auch zu Veränderungen der psychischen Belastungen bei der Arbeit führt und psychische Belastungen zu einem Schwerpunkt der dritten GDA-Periode 2021-2024 erklärt. Vor dem oben skizzierten Hintergrund darf man auf die Ergebnisse und deren Umsetzung in die betriebliche Praxis sicherlich mehr als gespannt sein.

 

Hinweise:

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Literatur:

Arbeitskammer des Saarlandes (2018) Arbeitsbedingte Erkrankungen und Berufskrankheiten. Saarbrücken

Baumgart (2024) Krankheitsfälle: Neuer Höchststand 2024; https://www.zdf.de/nachrichten/wirtschaft/krankheitsfall-fehlzeiten-beschaeftigte-aok-100.html

Beck/Schuller (2021) Psychosozialen Risiken wirksam begegnen mit Hilfe der Gefährdungsbeurteilung; in: DGUV-Forum 11/2021, S. 13-15

Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (Hrsg.) (2020) Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit – Berichtsjahr 2019. Dortmund

Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (2024) Volkswirtschaftliche Kosten von Arbeitsunfähigkeit 2023. Dortmund

Bundesministerium für Bildung und Forschung (2023) Erwerbstätige nach Altersgruppen und Geschlecht (Tabelle 0.25a); https://www.datenportal.bmbf.de/portal/de/K04.html

DAK Presse (2025) DAK-Analyse zeigt Ursachen für Rekordkrankenstand. https://www.dak.de/presse/bundesthemen/politik-unternehmensnachrichten/dak-analyse-zeigt-ursachen-fuer-rekordkrankenstand-_88050

Dehl et al (o.J.) Band 48 Beiträge zur Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung – Gesundheitsreport 2024- (Hrsg.: Strom – DAK-Gesundheit). Hamburg

Demerouti/Nachreiner (2019) Zum Arbeitsanforderungen-Arbeitsressourcen-Modell von Burnout und Arbeitsengagement – Stand der Forschung; in: Zeitschrift für Arbeitswissenschaft Band 73, Seiten 119-130

EU-OSHA (o.J.) Arbeitsbedingte Erkrankungen. https://osha.europa.eu/de/themes/work-related-diseases

Graefe (2022) Warum Resilienz allein nicht ausreicht (Haufe News 29.09.2022) https://www.haufe.de/personal/hr-management/warum-resilienz-allein-es-nicht-richtet_80_556976.html

Holzgreve et al (2023) Allgemeine und arbeitsplatzbezogene Risikofaktoren von Muskel-Skelett-Erkrankungen und ihre Bestimmungsmethoden; in: Zentralblatt für Arbeitsmedizin, Arbeitsschutz und Ergonomie Jahrgang 73, Seiten 182-189

IGES Institut (o.J.) Psych-Report 2024. https://www.iges.com/kunden/gesundheit/forschungsergebnisse/2024/psychreport-2024/index_ger.html

Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen (2024) Entwicklung des Krankenstandes 1970-2023. Sozialpolitik-aktuell.de pdf-Datei zum Download)

Kittelmann et al. (2023) Handbuch Gefährdungsbeurteilung Teil II (Hrsg.: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin) Dortmund.
Landesinstitut für Arbeitsschutz Nordrhein-Westfalen (o.J.) Arbeitsbedingte Erkrankungen; https://www.lia.nrw.de/themengebiete/Arbeitsschutz/Berufskrankheiten/Arbeitsbedingte-Erkrankungen/index.html

MDR Sachsen (2025) Kein Lohn am ersten Krankheitstag – Dresdner Ökonom lehnt Vorschlag ab. Interview mit Joachim Ragnitz am 15.01.2025.

Nationale Präventionskonferenz (o.J.) Gesundheit in der Arbeitswelt; https://www.npk-info.de/umsetzung/gesundheit-in-der-arbeitswelt

Pimpertz (2024) Kosten der Entgeltfortzahlung. IW-Kurzbericht 70/2024, S. 1-3

Rothe et al (2017) Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt (Hrsg.: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin) Dortmund.

Sommer (2019) Warum führen Betriebe keine Gefährdungsbeurteilungen durch? Arbeitsschutz digital; https://www.arbeitsschutzdigital.de/ce/warum-fuehren-betriebe-keine-gefaehrdungsbeurteilungen-durch-1/detail.html

Statistisches Bundesamt (2025) Zahl der Erwerbstätigen 2024 auf neuem Höchststand; https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2025/01/PD25_001_13321.html

Statista Research (2024) Veränderung der Bruttolöhne und -gehälter in Deutschland gegenüber dem Vorjahr von 1992 bis 2023;  https://de.statista.com/statistik/daten/studie/75731/umfrage/entwicklung-der-bruttoloehne-in-deutschland/

Schulte et al (2021) Ressourcen und Anforderungen in der Arbeitswelt; in: Zeitschrift für angewandte Organisationspsychologie Band 52, S. 405-415

Unkrig (2021) Resilienz im Unternehmen – den Faktor Mensch fördern. Springer Gabler Verlag Wiesbaden

Stephan Pust hat weitere Beiträge im t2informatik Blog veröffentlicht, u. a.:

t2informatik Blog: Das Konzept der integralen Führung

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Stephan Pust
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Stephan Pust war lange Zeit Führungskraft in der IT. Heute unterstützt er als freiberuflicher Trainer und Berater Führungskräfte beim organisationalen Wandel und als Impulsgeber für Veränderungen in der neuen Arbeitswelt. Dabei kommt ihm auch seine umfangreiche Erfahrung als Prozessmanager zu Gute. Außerdem ist er als Lehrbeauftragter für verschiedene Universitäten in Niedersachen tätig, um seine beruflichen und persönlichen Erfahrungen an zukünftige Fach- und Führungskräfte weiterzugeben.

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