Ökosystem Unternehmen
Inhaltsverzeichnis
Entwicklung muss messbar sein
Unternehmensentwicklung im New-Work-Zeitalter
Der Zeitgeist der zweiten industriellen Revolution
Der Rockstar und der ewige Kampf ums Überleben
Heute ist alles besser. Ach ja?
Von der Maschine zum Organismus
Nachhaltiges Wirtschaften als logische Konsequenz
Fazit
Raus aus der linearen Denkweise – wir brauchen Kreisläufe!
In meiner New-Work-Filterblase ist in jüngster Zeit immer mal wieder von „Ökosystem Unternehmen“ die Rede. Was ist denn da los? War die jahrelange Lobbyarbeit der Öko-Aktivisten etwa erfolgreich oder hat die vegane Fraktion meine Filterblase derart infiltriert, dass auf einmal Tofutiere glücklich dort grasen, wo üblicherweise gemästete Kennzahlen in Minikäfigen vor sich hinvegetieren? Was genau heißt es für die Entwicklung von Unternehmen, dass das Wort „Ökosystem“ Eingang in einen konventionellen, effizienzgetriebenen Wirtschaftskontext findet?
Entwicklung muss messbar sein
Unternehmensentwicklung ist, sehr vereinfacht gesagt, ein langfristiger Prozess der Ausdehnung innerhalb der Lebenszeit eines Unternehmens, der Fortschritte und Rückschritte aufgrund von Wettbewerb beinhaltet. Entwicklung ist nach unserem westlichen Verständnis mit einer Wertigkeit aufgeladen, d.h. sie ist immer mit einem Verständnis von Verbesserung verbunden – mit jedem Entwicklungsschritt wird das Unternehmen stärker, größer, leistungsfähiger, anpassungsfähiger. Diese Entwicklung wird im Vergleich zur Unternehmensleistung der Vergangenheit und im Vergleich mit anderen Unternehmen, die als Konkurrenz wahrgenommen werden, betrachtet und gemessen. Mehrheitlich ist dieser Vergleich eine rein quantitative Betrachtung anhand von Ertragszahlen und willkürlich gesetzten Kennzahlen. Exakte Messbarkeit ist in dieser Entwicklungslogik ein unverzichtbarer Faktor.
Unternehmensentwicklung im New-Work-Zeitalter
Unternehmensentwicklung im New-Work-Zeitalter beinhaltet eine wertschätzende Haltung dem Faktor Mensch gegenüber. Dieser rückt in den Mittelpunkt (wo auch immer dieser sich befinden mag), man agiert auf Augenhöhe (auch bei körperlichen Größenunterschieden), findet Talente (die auch außerhalb der Fachkompetenz liegen können). Mensch und Unternehmen werden als Organismus adressiert. Klingt gut, oder?
New-Work-Neulingen wird in Workshops der Gegenentwurf der „Old Work“ häufig mit dem Begriff des Taylorismus beschrieben und analog dazu die Zeit der industriellen Revolution mit Fließbandarbeit und Massenproduktion. Dass in diesem Bild mal eben rund 150 Jahre in 2 Sätzen zusammengefasst werden – geschenkt. Dass nur von „der“ industriellen Revolution die Rede ist, obwohl es mehrere gibt und dann erklärt wird, dass das Menschenbild der Old Work das einer Maschine war – geschenkt. Berater sind auch nur Menschen.
Viel interessanter ist, was nicht gesagt wird. Wie konnte es sein, dass dieses mechanistische Menschenbild so bereitwillig angenommen und umgesetzt wurde? War der Mensch nicht schon immer ein Organismus und keine Maschine? Hat sich jemand vor die Fabrikarbeiter gestellt und gesagt „Ab jetzt seid ihr Maschinen!“? Vermutlich nicht, aber diese Idee traf auf einen Zeitgeist, der dieses Bild längst gesellschaftlich-kulturell verinnerlicht hatte. Daher war es ein Leichtes, ihn in die industriellen Fabriken der Zeit zu tragen. Warum war das so?
Der Zeitgeist der zweiten industriellen Revolution
Der Zeitgeist des 18./19. Jahrhunderts. war der einer Technikverliebtheit, in der die meisten Menschen – insbesondere das Bürgertum, die neue Elite – im maschinellen Fortschritt eine goldene Zukunft sah. Mit etwas Phantasie könnten wir eine Analogie zur heutigen KI- und Silicon-Valley-Euphorie ziehen (siehe auch Andreas Zeuch in „Ab ins Silicon Valley, nieder mit der Demokratie!“). Diese Technikgläubigkeit enthielt ein Wohlstands- und Aufstiegsversprechen, welches für eine hohe Attraktivität sorgte. Vielleicht wäre das alleine nicht kritisch gewesen, aber dieses Wohlstandsversprechen ging eine unheilvolle Allianz mit der christlichen Religion ein. Dies war kein neues Phänomen, auch in früheren Zeiten sorgte die Allianz von Kapital und Kirche für ausbeuterische Praktiken jeglicher Art.
Der Rockstar und der ewige Kampf ums Überleben
Der Rockstar der Zeit war Darwin und das Narrativ der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts war die „Verbesserung des Menschen und seiner Umwelt“. „Survival of the fittest“ wurde mit „Überleben des Stärkeren“ übersetzt (in etlichen Köpfen hat sich diese Formulierung leider bis heute gehalten). Man unterstellte der Evolution damit, dass sie sich in einem linearen immerwährenden Kampf fortsetzt und aus jedem gewonnenen Kampf eine verbesserte Spezies hervortritt. Die christliche Religion passte sich – wie immer – an die veränderte Kulturlage an und empfahl, „sich die Erde untertan zu machen“ und die Natur als zu kultivierende Landschaft zu begreifen.
Ergänzend dazu propagierte die neue kapitalkräftige Elite ein religiös ausgerichtetes puritanisches körper- und lustfeindliches Leben, welches jede menschliche Eigenart, die nicht ins konservative Raster passte, strikt ablehnte und ärztlich zu reparieren versuchte. Verzicht und Selbstkasteiung machten den Menschen zu einem guten, gottgefälligen Wesen (siehe auch: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Max Weber). Achtung, mit Mensch war der Mann gemeint. Frauen waren nach wie vor höchst fehlerhafte Wesen, deren Gehirn nur sehr eingeschränkt des Denkens fähig war, deren Gebärmütter im Körper umherwanderten, wenn sie nicht regelmäßig schwanger waren (siehe Krankheitsbild Hysterie) und die Mann zu Zucht und Ordnung erziehen musste, gerne mit Gewalt. Leicht bekömmliche Bildung war nur den „höheren Töchtern“ vorbehalten und diente ausschließlich dem Zweck, den künftigen Ehemann unterhalten zu können. Vor den Universitäten hingen Schilder mit der Aufschrift: „Frauen müssen draußen bleiben.“
Zum Glück gab es etliche intelligente Frauen, die die Not zur Tugend machten und ihre Lust auf Bildung anderweitig befriedigten. Sie sahen außerdem Handlungsbedarf in Bezug auf die desolaten sozialen Zustände und veranstalteten und moderierten regelmäßige private Events – sogenannte „Salons“ – für die frustrierte Kreativbranche. Literaten, Bohemians, Intellektuelle, Philosophen, vermögende Fabrikantensöhne und -töchter, prekär lebende Künstler diskutierten dort bei klassischer Musik, Alkohol und Drogen neue Zukunftsszenarien einer friedlichen und sozialen Gesellschaft. Die Gedanken aus diesen Salons wanderten auch in die Pläne derer, die sich tatsächlich um die „soziale Frage“ der Industrialisierung kümmerten und der räuberischen Ausbeutung der Arbeiter und ihrer Familien zwar kein Ende bereiteten, sie jedoch wenigstens milderten.
Heute ist alles besser. Ach ja?
Warum erzähle ich von dieser Vergangenheit? Die ist doch vorbei, richtig? Das Patriarchat ist passé, Gleichberechtigung steht sogar im Grundgesetz und aus der Kirche sind wir längst ausgetreten, oder? Wir entscheiden weitgehend selbstbestimmt und das Ausleben der eigenen Individualität steht ganz oben auf unserer Todo-Liste der Lebensziele. Oberflächlich gesehen ist das sicherlich so. Schaue ich tiefer, sehe ich jedoch, dass Vieles aus dieser Zeit sich bis heute über Generationen hinweg in unseren Köpfen reproduziert hat – mit veränderten Rahmenbedingungen. Man und frau möge im eigenen Kopf kramen und nachsehen, welche Bilder aus der oben beschriebenen Vergangenheit sich dort wiederfinden. Oder ein Helene-Fischer-Konzert besuchen und sich dort umschauen.
Von der Maschine zum Organismus
Die zunehmende Beschäftigung mit der „sozialen Frage“ hat im Laufe des nächsten Jahrhunderts zu vielen guten Entwicklungen für angestellte ArbeitnehmerInnen in Unternehmen geführt. Hier seien nur rudimentär die gesetzlichen Regelungen wie Arbeitsschutzgesetz, Mitbestimmungsgesetz, Allgemeines Gleichstellungsgesetz erwähnt. Die soziale Frage führte seit den 2000er Jahren vom Shareholder-Value zum Stakeholder-Value.
Seitdem verflüchtigt sich auch der Maschinengedanke, das Wohlstandsversprechen bekommt Risse und die Pflanze „Organismus“ fängt vorsichtig an zu keimen. Damit einher geht die Erkenntnis, dass Mensch keine „menschliche Ressource“ ist, deren per CV dokumentierte Fertigkeiten jederzeit gewinnbringend abrufbar sind, sondern dass ein lebendiger Mensch über mehr als seine beruflichen Fähigkeiten verfügt. Man kann ihm eine Möhre vor die Nase halten und phasenweise läuft er dieser auch nach, aber oft auch eben nicht. Dann wird über Sinnhaftigkeit der eigenen Arbeit nachgedacht, über die Gestaltung der individuellen Lebensphasen und über Auszeiten vom Job.
In diesem Organismus-Modell geht es um Anpassung an Rahmenbedingungen. Rahmenbedingungen, die ein „ein gutes Leben“ ermöglichen. Und damit sind wir wieder bei Darwin. Das heutige aktuelle Verständnis des „Survival of the fittest“ ist das „Überleben derer, die sich bestmöglich anpassen“. Damit ist ein Anpassen an (sich verändernde) Rahmenbedingungen gemeint, in denen sich das Individuum, die Gruppe in seinen/ihren jeweiligen Lebensphasen befindet. Dieses Verständnis beinhaltet nicht automatisch Konkurrenz und damit Kampf, sondern kann ebenso gut in Kooperation oder Symbiose bestehen. Es geht demnach nicht um eine lineare Verbesserung, innerhalb einer isolierten Prozesslogik, sondern um eine intelligente und gesunde Anpassung an und in bestehenden Systemen, die sich in Zyklen, in Kreisläufen und in Phasen ändern.
Nachhaltiges Wirtschaften als logische Konsequenz
Das überlebensfähige Unternehmen der Zukunft ist demnach ein Ökosystem, in dem sich Organismen in einem bestimmten Raum für eine bestimmte Zeit gerne aufhalten und produktiv sind. Gleichzeitig ist es durchlässig für angrenzende Systeme, beobachtet diese und reagiert bewusst, taktisch und achtsam. Hört sich irre einfach an, oder? Genauso ist es auch, denn solche Unternehmen gibt es längst.
Es sind nicht nur die New Work Unternehmen mit ihren Selbstorganisationsmodellen und partizipativen Entscheidungsvorgängen. Seit den 1970ern wird im Zuge der Umweltschutzbewegung die Forderung nach nachhaltiger, ökologischer Entwicklung, die kritische Tendenzen einer globalisierten Wirtschaft adressiert (u.a. „Die Grenzen des Wachstums“, Meadows/Randers/Behrens, 1972) und ist spätestens seit der Energiewende Mainstream. Nicht nur eine gesamte Öko- und Biobranche schreibt sich soziale Fairness und ökologisches Handeln auf die Fahne, auch die Idee der unternehmerischen Verantwortung findet immer mehr Gehör. Seitdem klar ist, dass der Klimawandel keine Idee von Ökospinnern ist, sondern gravierende ökonomische Auswirkungen hat, ist es nur logisch, dass eine Trias aus Ökonomie, Ökologie und Sozialem flächendeckend in allem, was sich künftig Unternehmen nennen will, konsequent umgesetzt wird.
Fazit
In diesen neuen Ökosystemen brauchen die Individuen ein Bewusstsein für ihre Wirksamkeit. Dies gelingt nur, wenn sie in der Lage sind, in vielerlei Hinsicht selbstbestimmt zu agieren. D.h. jedes Element in einem Ökosystem ist ein komplexer Organismus, welcher ein implizites evtl. unbewusstes Wissen um das Ganze hat und schnell und taktisch reagieren kann, wenn Situationen und Rahmenbedingungen sich ändern, ohne umliegende Systeme zu schädigen. Das bedeutet wiederum, dass der Wirtschaftsbereich nicht nur sich selbst betrachten kann, sondern seine Wechselwirkungen in Umwelt und Gesellschaft beobachten muss. Dies bedingt einen ständigen Austausch zwischen den verschiedenen Sektoren und ihren Akteuren, um langfristig aus der linearen Monokultur Konkurrenz hinein in ein kreislauffähiges Ökosystem aus Konkurrenz, Kooperation und Symbiose zu kommen.
Hinweise:
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Bundeszentrale für politische Bildung: Grenzen des Wachstums: https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/lexikon-der-wirtschaft/19548/grenzen-des-wachstums/
Deutsche Gesellschaft Club of Rome: https://clubofrome.de/
Daniela Röcker hat drei weitere Beiträge im t2informatik Blog veröffentlicht:
Daniela Röcker
Daniela Röcker begleitet als Organisationsentwicklerin und Beraterin mit den Kultur-Komplizen Unternehmen im Kontext Digitalisierung und Nachhaltigkeit. Ihr Ziel ist es, Bedingungen zu schaffen, damit Mitarbeiter:innen, Führungspersonen und Teams eigenständig Veränderungen umsetzen können. Als Instrument dient ihr u.a. das 2019 selbst entwickelte „Culture Profiling“, dass gemeinsam mit Praxispartnern iterativ weiterentwickelt wird. Die Kultur-Komplizen engagieren sich im Kernteam der #EntrepreneursForFuture Region Stuttgart.