Hochbegabung und Hochsensibilität in Unternehmen

Gastbeitrag von | 26.04.2021

Diversität und Vielfalt von Mitarbeitenden und Unternehmen fördern

Frau M. aus der Geschäftsführung las neugierig die Zusammenfassung der Mitarbeitenden-Umfrage der Personalabteilung. Besonders interessierten sie die Angaben, in denen die Mitarbeitenden ihre Wünsche an einen für sie zufriedenstellenden Arbeitsplatz nannten:

  • einen ruhigen Arbeitsplatz / bloß kein Großraum
  • eigenverantwortliches Arbeiten (wann mache ich was, kein ständiges Nachfragen oder Kontrolle des Vorgesetzten)
  • ein eigenes Aufgabengebiet mit vielseitigen Themen, eine ausreichende Mischung an Kreativität, Sachbearbeitung, Controlling, neue Konzepte entwickeln
  • eigenen Entscheidungsspielraum
  • klare Zuständigkeiten im Team
  • klare Kommunikation und Antworten (ja, nein)
  • ein Headset zum Telefonieren
  • gute, schnelle und funktionierende Technik
  • keinen sozialen Druck (nicht ständig Firmenevents, zu denen man hin muss, wenn man nicht ausgegrenzt werden will)
  • ausreichend Frischluftzufuhr und Helligkeit

„Wunschkonzert“ schoss ihr als erstes durch den Kopf und schämte sich sogleich dafür, denn mit viel Mut äußerten sich einige Mitarbeitende offen über ihre Träume.

Diese Angaben trafen sie allerdings nicht unvorbereitet. Sie erinnerte sich vor kurzem in einen Fachartikel ähnliches gelesen zu haben, die dort in einen Zusammenhang mit hochsensiblen Hochbegabten gestellt waren.

Die Aussagen dieser fiktiven Geschichte fußen auf realen Wünschen von Mitarbeitenden und Führungskräften aus einem Internetforum über Hochbegabung. Mit meinem Beitrag möchte ich für die komplexe Vielfalt von Hochbegabung sensibilisieren, der Fokus liegt dabei auf hochsensiblen und hochbegabten Frauen und Männern.

Im Kontext von Potenzialentwicklung, Diversität und der Förderung von Vielfalt sind die Fähigkeit Hochbegabter, Probleme zu lösen und ihre häufig ungewöhnlichen und kreativen Vorgehensweisen wertvolle Ressourcen und Chancen zur Weiterentwicklung von Unternehmen, die in einer zunehmend dynamischeren Arbeitswelt, die schnelle und flexible Lösungen fordert, letztendlich allen Beteiligten zugutekommen.

Was ist Hochbegabung und in welchem Zusammenhang steht sie zur Hochsensibilität?

Hochbegabung bezieht sich in der Regel auf eine intellektuelle Hochbegabung. Diagnostiziert in einem Intelligenztests gilt als hochbegabt, wer eine Punktzahl ab 130 Punkten erreicht (z. B. bei Mensa oder UnIQate). Eine Fülle an unterschiedlichen Ansätzen wie bspw. der “Culture Fair Test I”, die “Ravens progressive Matrizentests” oder die “Grundintelligenztests Skala I und II” hinterfragen inzwischen eine ausschließlich auf die Intelligenz abzielende Sichtweise kritisch und erweitern das allgemein gültige Konstrukt, um weitere Parameter.1

Gesamtgesellschaftlich gesehen und somit auch in Unternehmen, finden sich dabei eine Fülle an Vorurteilen und Unkenntnis über Hochbegabung bis hin zur Tabuisierung, die Menschen mit diesen angeborenen Persönlichkeitsmerkmalen beeinträchtigt. Die Ursachen liegen in der deutschen Geschichte und speziell der NS-Zeit, die den Elitegedanken tief in die Gesellschaft und das allgemeine Denken transportierte.

Statistisch gesehen sind rund 2% der Bevölkerung in Deutschland hochbegabt. Das sind etwa 1,6 Millionen Menschen. Im Vergleich dazu gibt es laut Statista über 400.000 Ärzt:innen und mehr als 770.000 Lehrer:innen in Deutschland (Stand 31.08.2020).2

Obwohl Hochbegabung eigentlich ein Massenphänomen ist, bleibt sie bei vielen unentdeckt. Oft sind erst ein Burnout oder auch Boreout im Erwachsenenalter, der zur Ursachenforschung führt und mit dieser „Diagnose“ endet. Vorausgesetzt, dass behandelnde Ärzt:innen und Therapeut:innen den entsprechenden fachlichen Hintergrund besitzen. Der damit einhergehende Erkenntnisgewinn führt oft zu einer intensiven Auseinandersetzung und Umbewertung des bisherigen Lebens.

Nicole Gerecht, die das Startup UnIQate.org Plattform für hochbegabte Erwachsenen gründete, beschreibt die Fähigkeiten Hochbegabter so:

„Hochbegabte Menschen denken schneller und vernetzter. Sie nehmen beispielsweise mehr Informationen auf, verarbeiten sie schneller und in größeren Kontexten, hinterfragen kritischer. Daher eignen sich für Hochbegabte Nischen, die andere vielleicht eher meiden. Die Eine ist unglaublich gut darin Fehler im System zu erkennen’, wohingegen andere holistisch schnell Gegebenheiten überblicken oder aber daraus querdenkend innovative Impulse setzen.“3

Ist eine der Grundlagen von Hochbegabung die schnellere und komplexere Informationsbearbeitung, liegt es nahe, dass davon auch andere Sinnesreize und die Emotionalität betroffen sein können. Inzwischen geht man davon aus, dass die Mehrheit der hochbegabten Erwachsenen auch hochsensibel sind. Die Beschäftigung mit einer Hochsensibilität ist für viele Erwachsene der Zugang zur Hochbegabung, wobei eine Hochbegabung nicht zwangsläufig mit ihr einhergeht. Der Umkehrschluss, dass alle Hochsensiblen hochbegabt sind, ist nicht zulässig.

Nach neuesten Forschungen spricht Patrice Wyrsch nicht mehr von Hochsensibilität, sondern von Neurosensitivität:

„Neurosensitivität ist ‚die Fähigkeit, Umgebungsreize zu registrieren und zu verarbeiten‘. Hochsensitivität bzw. erhöhte Neurosensitivität ist somit die erhöhte Fähigkeit, Reize zu registrieren und zu verarbeiten. Gemäß Prof. Dr. Michael Pluess basiert diese Wahrnehmungsfähigkeit auf der (unterschiedlichen) Sensitivität des zentralen Nervensystems. Daher verfügen alle Organismen mit einem Nervensystem über unterschiedliche Sensitivitätslevels.“4

Die Forschungslage zur Hochbegabung ergibt inzwischen ein ebenso differenziertes Bild. Einzig verbindendes Element aller Hochbegabten in allen ihren Facetten ist der IQ mit einem Wert ab 130 Punkten.

Die Gruppe der Hochbegabten ist divers und die Palette an Befähigungen und Talenten heterogen. Die Wahrscheinlichkeit, dass in Unternehmen entweder Sie selbst oder etliche Mitarbeitende (branchenabhängig) hochsensibel und/oder hochbegabt sind, ist rein statistisch gesehen nicht gering. Besonders häufig finden sich gerade in dieser Kombination manche der sogenannten „schwierigen“ Mitarbeitenden, welche die eingangs genannten Wünsche an den Arbeitsplatz nennen.

Grundsätzlich gilt jedoch und das ist für Unternehmen besonders interessant:

„Ganz abgesehen von den vielen verschiedenen Bereichen, in denen eine Hochbegabung auftreten kann, ist allein Intelligenz sehr facettenreich. Aktuell unterscheidet man neben der allgemeinen Intelligenz noch zahlreiche spezifischere Fähigkeiten, die darunterfallen: etwa numerische Intelligenz, verbale Intelligenz und räumliches Denken. Interessanterweise hat man festgestellt, dass sich die Performance in den verschiedenen Bereichen der Intelligenz umso stärker unterscheidet, je höher die allgemeine Intelligenz einer Person ist. Das heißt, wer hochintelligent ist, besitzt eher eine besondere Stärke – kann also bei einem insgesamt eher hohen Niveau beispielsweise noch mal deutlich besser mit Zahlen umgehen als mit Worten. Wer umgekehrt eine durchschnittliche allgemeine Intelligenz aufweist, schneidet tendenziell in verschiedenen Teilen des Intelligenztests ähnlich gut ab.“5

Wie lässt sich das Potenzial von hochbegabten Mitarbeitenden in Unternehmen nutzen?

Erhalten Hochbegabte einen frei(-eren) und selbst gestaltbaren Arbeitsplatz, steigert sich nicht nur ihre Arbeitszufriedenheit und Leistung (denn erst dann wird es für sie „richtig“ interessant), sondern es entsteht eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten.

Meiner Erfahrung nach hilft eine spielerische, von Neugier und Entdeckerfreude geprägte Haltung, sich dieser Thematik zu nähern. Hilfreiche Fragen eröffnen neue Perspektiven: Was wäre, wenn? So tun als ob? Zielführend ist eine generelle Haltung, die Kolleg:innen und Mitarbeitende, bis hin zu Vorgesetzten besser zu verstehen sucht und sie entsprechend ihrer Fähigkeiten einsetzt.

Das Thema ist sensibel, die Erkenntnis über die eigene Persönlichkeit möglicherweise nicht vorhanden. Zudem trifft eine potenzielle Hochbegabung häufig auf Abwehr, davon können viele berichten und auch ich erlebe es in meiner Coachingspraxis regelmäßig. Je nach Zugang, Erfahrungen und Vorgeschichte sowie gängigen Vorurteilen ist in den Blick zu nehmen, dass alleine die Vermutung einer Hochbegabung häufig zu einer umfassenden Neubewertung des bisherigen Lebens, insbesondere der beruflichen Tätigkeit führen kann.

Ebenso kann ein Gespräch zu großer Erleichterung führen, weil es den/die Mitarbeiter:in aus der Tabuzone holt und neue Perspektiven ermöglicht.
Dies kann auch zu einer Verbesserung der Arbeitssituation führen. Daher ist es für Führungskräfte und Personaler:innen hilfreich und bedeutsam, die Merkmale der (hochsensiblen) Hochbegabten zu kennen, um angemessen agieren zu können.

In welchen Zusammenhängen könnten Mitarbeitende angesprochen werden?

  • im Jahres- oder Mitarbeitenden-Gespräch
  • durch eine Gesprächskultur, die es ermöglicht, Wünsche von Mitarbeitenden auszuloten und näher darauf einzugehen, z. B. die Chance ein eigenes Arbeitsgebiet zu wählen
  • durch die Empfehlung fachkompetenter Coaches, damit sich die/der in Auseinandersetzung befindliche Mitarbeitende frei dem Thema im eigenen Tempo nähern kann

Jenseits des direkten Gespräches finden sich weitere Möglichkeiten:

  • interne Blogbeiträge, die offen und vorurteilsfrei Wissen vermitteln
  • Mentoring
  • Sensibilisierung und Weiterbildung zur Hochbegabung und Hochsensibilität
  • Wettbewerbe, mit Profilierungsmöglichkeiten
  • Zulassen von zielführenden, aber individuellen und ungewöhnlichen Herangehensweisen von Mitarbeitenden
  • Institutionalisierung von Denkräumen für kreative Lösungsansätze

Im Vorteil sind Unternehmen, die flache Hierarchien führen und ein gutes Miteinander pflegen und so bereit sind, neue Wege zu kreieren, die Menschen ganz im Sinne von New Work in den Mittelpunkt zu stellen, und sie entsprechend ihrer Fähigkeiten einzusetzen.

Solche Mitarbeitende

  • sind hochmotivierte Mitarbeitende, die substantielle Beiträge für das Unternehmen liefern
  • eine Fülle von soliden Ergebnissen liefern, die gut vorbereitet weiter verwertbar sind
  • entwickeln innovative Impulse
  • bringen durch den Einsatz ihrer persönlicher Stärken das Unternehmen voran

In diesem Kontext ist Hochbegabung, auch und gerade im Zusammenspiel mit Hochsensibilität, zwar eine komplexe Materie, die aber eine großartige Möglichkeit für Unternehmen darstellt, diese als Ressource wahrzunehmen und Mitarbeitenden zum Vorteil für alle Seiten hilft, ihr Potenzial einzusetzen.

 

Hinweise:

Wollen Sie über Ihre persönliche Situation sprechen und einen ersten Schritt in mehr Selbstbestimmung gehen? Dann nehmen Sie gerne Kontakt mit Christine Jung auf. Es lohnt sich bestimmt.

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Culture_Fair_Intelligence_Test
[2] Hochbegabung: Chancen und Verantwortung für Unternehmen
[3] Ungenutztes Potenzial “Hochbegabung”
[4] Dr. Patrice Wyrsch: Neurosensitivität
[5] Hochbegabung hat viele Gesichter

Zum Weiterlesen:

Brackmann, Andrea: Jenseits der Norm – hochbegabt und hoch sensibel? 2012, Klett-Cotta
Reichardt, Elaine: Hochbegabt? Potenziale erkennen und fördern. 2018, Irisiana
Reichardt, Elaine: Hochsensibel UND hochbegabt, zwei Seiten einer Medaille?
Schwiebert, Andrea: Kluge Köpfe, krumme Wege. Junfermann, 2015

Forschungsbericht: Zusammenhänge zwischen Hochbegabung und berufsbezogenen Persönlichkeitseigenschaften

Interessieren Sie sich für weitere Tipps aus der Praxis? Testen Sie unseren wöchentlichen Newsletter mit interessanten Beiträgen, Downloads, Empfehlungen und aktuellem Wissen.

Christine Jung
Christine Jung

Christine Jung ist seit 2007 freiberufliche Coachin und Prozessbegleiterin für Einzelpersonen und Unternehmen. Mit dem von ihr entwickelten spielerischen Wesenskernansatz begleitet sie Menschen mit vielen Interessen, wie z. B. Hochbegabte und Hochsensible. Ganz im Sinne von New Work, um das tun zu können, was man wirklich wirklich will.

Als späterkannte hochsensible Hochbegabte ist ihr die angesprochene Thematik wohl vertraut.