Vorsicht vor Bewertungen
Glauben Sie, dass Ihr Bürokollege andere Kollegen lieber mag als Sie? Will Ihr Vorgesetzter Sie eigentlich immer ärgern und stellt Ihnen deswegen besonders aufwendige Aufgaben, so dass Sie noch länger im Büro arbeiten müssen? Und warum hält sich eigentlich die Nachbarabteilung nicht an Absprachen? Das ist bestimmt Absicht.
Wir Menschen bewerten alles, was um uns herum passiert: Die Kollegen, die Vorgesetzten, den Lieferanten und den Nachbarn. Alles kommt in eine Schublade, erhält einen Stempel und wird kategorisiert. Doch wie ist die Realität? Könnte es auch sein, dass Ihr Chef Ihnen besonders vertraut und weiß, dass Sie besonders sorgfältig und genau arbeiten? Vielleicht hat es also eher etwas mit Vertrauen zu tun, dass er Ihnen regelmäßig anspruchsvolle Tätigkeiten übergibt? Und die Nachabteilung hat vielleicht ein unvorhergesehenes Problem zu lösen und konnte noch nicht mit Ihnen darüber sprechen. Vielleicht spricht Ihr Bürokollege auch nur häufiger mit den Kollegen, weil sie gemeinsam eine Überraschungsparty zu Ihrem 47. Geburtstag planen. Die Frage lautet also: Wie können Sie es schaffen, nicht alles und jeden permanent zu beurteilen?
Es gibt eine Methode, die dem ständigen Bewerten entgegenwirkt. Sie besteht aus vier Schritten und nennt sich gewaltfreie Kommunikation. Der erste Schritt ist die Beobachtung. Die reine Beobachtung, die wertfrei formuliert ist, erzeugt mehr Abstand in einer konkreten Situation und zum Gesprächspartner. Es ist eine Versachlichung in Richtung Zahlen, Daten, Fakten.
Die reine Bewertung
Stellen Sie sich vor, Sie sind in einer Situation, in der Sie etwas stört. Es ist wichtig, zuerst die Bewertung in Ihrem Kopf zu erkennen. Was stört Sie?
Ein Beispiel: Ein Kunde hat eine Bestellung aufgegeben, mit den Ergebnissen ist er nie zufrieden. Ich bin ständig dabei, Änderungen vorzunehmen und dann fallen ihm noch Sachen ein, die er vorher nicht bemängelt hat. Scheinbar findet er immer etwas auszusetzen und will mich damit nerven.
In diesen Sätzen sind zahlreiche Bewertungen enthalten: nie, ständig, immer, auszusetzen, nerven.
Formulieren Sie nun für diese Störung eine objektive Beobachtung, die konkret ist und keine Verallgemeinerungen enthält: Der Kunde hat eine Bestellung aufgegeben, mit den Ergebnissen ist er nicht zufrieden. Ich bin zum zweiten Mal dabei, Änderungen vorzunehmen. Nach diesen Änderungen fallen ihm Sachen ein, die er vorher nicht bemängelt hat.
Dass der Kunde Sie nerven will, ist eine Unterstellung, denn das können Sie nicht wissen, sondern lediglich vermuten. Vielleicht stimmt es, aber es ist eher unwahrscheinlich. Die meisten Menschen sind sehr mit sich selbst beschäftigt und haben wenig Zeit für solche Aktionen.
Die Beobachtung
Ist eine 100%ige Objektivität möglich? Natürlich ist niemand von uns 100% objektiv, denn jeder bringt seine Erfahrungen und Perspektiven mit. Häufig sind wir uns gar nicht bewusst, dass wir bewerten und darum geht es im zweiten Schritt. Der Schritt der Beobachtung soll uns sensibilisieren. Was ist wirklich passiert und was findet lediglich in unserem Kopf statt? Und es geht noch weiter. Unsere Bewertungen der Situationen und Personen bleiben nicht nur in unserem Kopf, sondern beeinflussen sowohl unsere Art mit anderen Menschen umzugehen als auch unsere Sprache. Wir kommunizieren immer nonverbal und verbal. Wie können Sie nun auf die eigene Sprache achten?
Ich empfehle Ihnen eine Woche lang bewusst zu üben. Beschreiben Sie Situationen mit anderen Menschen so genau wie möglich und machen Sie sich bewusst, welche Bewertungen Ihre Beschreibungen enthalten. Nehmen Sie sich eine Woche lang jeden Tag vor, mindestens einmal am Tag den ersten Schritt der gewaltfreien Kommunikation anzuwenden. Achten Sie bei der Wortwahl auf Folgendes:
Wie oft sagen Sie „perfekt“, „super“ „gut“, „schlecht“, „falsch“ oder „richtig“? Versuchen Sie genauer zu werden und sagen Sie, was Ihnen konkret gefallen oder missfallen hat.
Neigen Sie zu Übertreibungen? Pauschalisieren Sie und sagen Sie gerne „nie“, „immer,“ „alle“, oder „keiner“? Können Sie auch hier konkreter werden und sagen, wie oft es war, dass beispielsweise der Kollege das Geschirr auf und nicht die Spülmaschine gestellt hat? Fragen Sie sich, was Ihnen bei Ihren Bewertungen auffällt. Was stört Sie? Durch die Beantwortung dieser Fragen erhalten Sie Klarheit über Ihre Trigger. Stört Sie das Aussehen anderer Leute, sind sie Ihnen zu dick, zu dünn, zu modern oder zu sexy gekleidet? Stört Sie, wie sie reden, weil sie einen Dialekt oder einen Akzent haben, sie sich wiederholen und zu laut oder zu leise reden? Wie wichtig ist Ihnen Höflichkeit? Regen Sie sich auf, wenn andere Menschen nicht genug Rücksicht nehmen? Weil sie gedankenverloren die Tür nicht aufhalten, bei Ihnen nicht anklopfen, bevor sie in Ihr Büro kommen? Weil sie denken, Sie haben immer Zeit, um auch ihre Aufgaben zu erledigen?
Nach dieser Woche haben Sie ein Gespür für Ihre Bewertungen und eine Klarheit über Ihre Triggerpunkte. Sie wissen was Sie stört und was Sie deswegen bewerten. Und Sie sind sensibilisiert und können Bewertungen zukünftig leichter weglassen.
Wertfrei im Gespräch
Wenn Sie das für sich im Stillen geübt haben, können Sie es fortan direkt in Ihren Gesprächen anwenden. Achten Sie darauf, wertfrei zu formulieren, auch in Situation, in den Sie nicht zufrieden sind. Dabei macht es durchaus Sinn, ein Gespräch erst dann zu suchen, wenn Ihr Kopf klarer und frei von Bewertungen ist. Das Gespräch fällt Ihnen bestimmt leichter. Solange Sie noch zu verärgert sind, verwenden Sie vielleicht wertfreie Formulierungen, doch Ihre Körpersprache wird etwas anderes ausdrücken. Sagen Sie Ihrem Gegenüber so konkret wie möglich, um was es genau geht, damit er auch weiß, wovon Sie sprechen.
Das Selbstbild des anderen
Wissen Sie, dass Sie mit Bewertungen oder Urteilen das Selbstbild Ihres Gesprächspartners beeinflussen können? Sagen Sie zu einem Kollegen oder Mitarbeiter regelmäßig, dass er etwas nicht kann, glaubt er es am Ende vielleicht selbst. Das hat damit zu tun, wie ausgeprägt sein oder ihr Selbstbewusstsein ist. Hören wir bestimmte Aussagen immer wieder, hinterfragen wir sie irgendwann nicht mehr und glauben Sie einfach. Vorbilder haben dabei besonders großen Einfluss auf uns. Seien es nun die Eltern, die Lehrer, die Vorgesetzten oder die Mentoren in der Firma. Worte können sehr verletzend sein, daher sollten Sie sich stets bewusst sein, was Sie mit Ihrer Sprache anrichten können. Es ist also sehr sinnvoll, die Meinung über Ihren Gegenüber zu hinterfragen, bevor Sie diese äußern.
Die Bewertung durch den anderen
Was machen Sie, wenn der andere Sie direkt im Gespräch bewertet? Auch hier empfehle ich Ihnen, sich zuerst auf die Fakten zu konzentrieren. Was wurde genau gesagt? Äußert er etwas wie „Sie sind total unzuverlässig“ oder „Sie sind ständig zu spät“ fragen Sie nach, was er konkret meint. Auf welchen Zeitraum bezieht er sich? Warum hält er Sie für unzuverlässig? So muss auch Ihr Gesprächspartner konkret werden und mit Zahlen, Daten, Fakten argumentieren. Falls diese Bewertung keine Grundlage hat, wird das hier sehr schnell klar. Und sollte es sich um einzelne Tage oder Situationen handeln, wäre zumindest klar, dass es sich nicht um ein allgemeines Urteil handelt.
Fazit
Worte und Handlungen können verletzen. Doch nicht nur Sie können so verletzt werden, auch Sie können andere verletzen. Das ist weder im Privatleben angenehm noch im beruflichen Umfeld. Durch die beschriebenen Übungen merken Sie schneller, wenn Sie etwas bewerten. Dies ist eine gute Basis, um zukünftig weniger zu bewerten. Dadurch ärgern Sie sich weniger, da Sie sich stärker auf Zahlen, Daten, Fakten konzentrieren, statt den Bewertungen in Ihrem Kopf zu viel Raum zu lassen. In der Folge werden Sie Konfliktpotentiale schneller erkennen und Streitereien schneller beilegen. Es lohnt sich also, auf gewaltfreie Kommunikation zu achten.
Hinweise:
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Susanne Lorenz bietet verschiedene Seminare zur gewaltfreien Kommunikation an:
Basis-Seminar gewaltfreie Kommunikation
Intensiv-Seminare gewaltfreie Kommunikation
Susanne Lorenz hat zwei weitere Beiträge im t2informatik Blog veröffentlicht:
Susanne Lorenz
Susanne Lorenz ist Kommunikationstrainerin mit dem Schwerpunkt Gewaltfreie Kommunikation nach Marshall B. Rosenberg. Des Weiteren ist sie als Zielfindungscoach im Einsatz. Mit dem Background ihres Linguistikstudiums, der mehrjährigen Berufserfahrung als Führungskraft und der Coachingausbildung gibt sie Seminare und Coachings, um Führungskräfte voranzubringen.