Von hackenden Hühnern und schwarzen Schafen

Gastbeitrag von | 08.11.2018

Psychische Beanspruchung und Resilienzförderung.

Im Gespräch mit der Führungskraft einer Pflegeeinrichtung tauchte kürzlich die Frage auf, woher das Phänomen käme, dass Mitarbeiter anfangen, sich gegenseitig zu beschuldigen und für Fehler verantwortlich zu machen. Da wird in schwierigen Situationen prompt ein Verantwortlicher benannt, der oder die irgendwas getan oder unterlassen hat. Melden sich Mitarbeiter arbeitsunfähig, sind das häufig immer wieder die gleichen. Ebenfalls die gleichen Mitarbeiter übernehmen vor Ort höflich schweigend die Mehrarbeit, denn wenn jemand krank ist, darf man nichts Schlechtes über ihn oder sie sagen. Der wieder genesene Kollege spürt beim Wiedereinstieg noch die Kühle, hört die eine oder andere spitze Bemerkung wie: „ … na? Auch mal wieder da?“

Wenn das Klima eisig wird, werden anscheinend Sündenböcke benötigt. Auf dem vermeintlich Schwächsten im System wird herumgehackt, so dass die Beanspruchung im Arbeitssystem zur Belastung ausartet. Es kann eine Tendenz entstehen, bei der die Welle der Krankmeldungen nicht abreißt. Der nächste Mitarbeiter fällt aus, sobald ein anderer die Arbeit wieder aufgenommen hat ist. Was lässt sich dagegen tun und wo finden Betroffene Hilfe und Unterstützung?

Konflikte sind menschlich

Bereits im Alten Testament waren Sündenböcke nötig, um schuldhafte Versäumnisse und ungeklärte Spannungen durch Steinwürfe zu entladen und zu einem geregelten Alltag zurückkehren zu können. Geblieben ist den Menschen wohl der Wunsch, für verschiedene Formen von Unbehagen, eine prompte Erklärung zu finden und dieses zügig abzuleiten. Das trifft vor allem dort zu, wo vieles unausgesprochen und vermeintlich empathisch abläuft, wo Abgrenzung mit fehlender Teamfähigkeit gleichgesetzt wird.

Was tun mit hackenden Hühnern und schwarzen Schafen?

Schafzucht erweist sich in Unternehmen unserer Zeit als schwierig, Sündenböcke zu finden ist etwas einfacher. Und es gibt inzwischen für die Haltung von Hühnern gesetzliche Vorgaben, genauso, wie für Mitarbeiter. Seit 1996 gilt für Betriebe das Arbeitsschutzgesetz. Es sagt unter anderem, dass Ursachenforschung betrieben werden soll und ein funktionierendes Schutzsystem vorzuhalten ist. 2013 wurde es um den Faktor „Psychische Belastung“ ergänzt. Die Beratungs- und Bildungsangebote, die daraus entstanden sind, halten nicht immer, was sie versprechen. Häufig bleibt die Frage offen: „Woran erkenne ich denn nun, ob meine Mitarbeiter psychisch belastet sind und wie mache ich den Faktor messbar, meine Maßnahmen steuerbar?“

Die gesetzlichen Unfallversicherungen geben wertvolle, kostengünstige Strukturhilfen, mit denen Führungskräfte auf verschiedenen Ebenen intervenieren können, … bevor gehackt oder mit Steinen geworfen wird. Das einfache Strukturmodell, das in die Ebenen „technisch“, „organisatorisch“ und „personell“ unterteilt, verhilft zu einem ersten systemischen Einblick.

Die technische Ebene

Auf der technischen Ebene kann mit folgenden Fragestellungen gearbeitet werden:

  • Wie sind die Arbeitsplätze und -räume ausgestattet?
  • Gibt es die Möglichkeit, sich für Pausen an einen angemessenen Ort zurückzuziehen?
  • Wie verhält es sich mit der Raumtemperatur, dem Lärmpegel, der Beleuchtung?
  • Sind die Arbeitsmittel qualitativ gut, ausreichend vorhanden und in gewartetem Zustand?
  • Wie verhält es sich mit der Ausstattung für Erstmaßnahmen bei Bränden oder Unfällen?

Die organisatorische Ebene

Auf der organisatorischen Ebene gelingt der Einstieg mit folgenden Überlegungen:

  • Wann treten Belastungsspitzen auf, zum Beispiel, weil sich zu viele Mitarbeiter gleichzeitig in einem Raum, gegenseitig in ihren Handlungen begrenzen (müssen)?
  • Sind Zuständigkeiten klar und verbindlich definiert?
  • (Wie) wird einer ungleichen Aufgabenverteilung begegnet: Personalunion versus „Drückebergerei“?
  • Was passiert, wenn was passiert? Gibt es verbindlich benannte Ansprechpersonen, zum Beispiel „kollegiale Ansprechpartner“, damit Hinweise von Mitarbeitern frühzeitig aufgegriffen werden können?

Die personelle Ebene

Die personelle Ebene ist die arbeitsreichste und gleichzeitig am wenigsten nachhaltige, einfach deshalb, weil Menschen vergesslich sind. Kriterien zur Beobachtung und Einschätzung können sein:

  • Wie wird mit Abgrenzung umgegangen, wenn Mitarbeiter „nein“ sagen?
  • Bestehen angemessene Handlungsspielräume und die Möglichkeit zur Weiterentwicklung für alle?
  • Gibt es Zeiten und vor allem Räume für kollegialen Austausch und Gespräche mit den Leitungskräften?
  • Ist die gesamte Unternehmenskultur eher problem- oder lösungsorientiert ausgerichtet?
  • Haben Führungskräfte und Mitarbeiter den Mut, Auseinandersetzungen offen und konstruktiv zu anzusprechen oder werden diese aus Angst vor Emotionen vermieden?

Wenn psychische Belastung extrem wird

Psychische Beanspruchung entsteht in der Regel aus der Summe aller Belastungen und tritt nur ganz selten isoliert auf. Systeme dekompensieren scheinbar unerwartet, an ihrer schwächsten Stelle. Besonderes Augenmerk ist in Übergangssituationen und bei Belastungsspitzen geboten, in Zeiten, in denen keiner besonders aufmerksam ist, weil ihn das Tagesgeschäft vollständig beansprucht. Ein funktionierendes System zum Schutz der Mitarbeiter kommt dann auf den Prüfstand, wenn eine Notfallsituation eintritt. Dazu gehören z.B. Erste-Hilfe-Maßnahmen, Brände, Evakuierungen und Eskalationen.

Posttraumatische Belastungssymptome zeigen sich erst Monate später, wenn der betroffene Betrieb längst zur Tagesordnung übergegangen ist. Es ist richtig und wichtig, nach Extremereignissen, so viel Normalität und Alltag wie möglich wieder aufzunehmen. Gleichzeitig muss in den Folgemonaten mit Veränderungen von Dynamiken in den Teams, einem Ansteigen der krankheitsbedingten Ausfallquote und der Fluktuation gerechnet werden. Alte Konflikte, auch bereits gelöste, sind wieder neu präsent. Das Sündenbockprinzip und die Hackordnung kann eine neue Dynamik bekommen. Bestehende Belastungen werden durch eine zusätzliche verstärkt.

Bindung und Anbindung stärken

Nicht nur offensichtlich hilfsbedürftige Kollegen, sondern vor allem Mitarbeiter, die eine Extremsituation sachlich und professionell mitgetragen haben, benötigen in der Folgezeit sichere Rückkopplung durch das Unternehmen, in dem Sie Gehör für ihre Belange bei ihren Führungskräften finden. Zusätzlich halten die gesetzlichen Unfallversicherungen Hilfestellungen vor, zum Beispiel Hotlines, durch die ähnlich der regulären Notrufnummern eine „psychosoziale Rettungskette“ aktiviert werden kann.

Im Betrieb sollte die Situation von Mitarbeitern, die in ein Extremereignis involviert waren, unverzüglich im Verbandbuch dokumentiert werden, weil auch die seelische Verdrängung eines solchen Ereignisses sofort einsetzt. Sucht ein Mitarbeiter in Folge des Extremereignisses den Hausarzt auf, um sich arbeitsunfähig schreiben zu lassen, wird dieser bestenfalls an einen Durchgangsarzt, (kurz „D-Arzt“) verweisen. Dieser ist die erste Verbindungsperson zur Unfallversicherung, die weitere Schritte und Maßnahmen veranlasst.

Mitarbeiter sollten in den jährlichen Pflichtschulungen darüber informiert werden, dass Belastungsreaktionen nach einem betrieblichen Extremereignis ein Fall für den D-Arzt sind, nicht für den Hausarzt. Bei mehr als drei Tagen Arbeitsausfall in Folge des Ereignisses, müssen Führungskräfte eine Unfallmeldung an die gesetzliche Unfallversicherung richten. Wurde der betroffene Mitarbeiter mit dem System der gesetzlichen Unfallversicherung in Kontakt gebracht, erhält er unverzüglich und unbürokratisch professionelle Unterstützung.

Fazit

Die vorab beschriebenen Impulse sind wichtige Hinweise zur Spurensuche. Die Maßnahmenplanung sollte stets systemisch, möglichst unter der Berücksichtigung ALLER Belastungen erfolgen. Die wichtigste Ressource in der Zusammenarbeit von Menschen ist die Bindungsfähigkeit. Sie anzuerkennen, ihr Raum zu geben, sie zu fördern und zu stärken ist der Schlüssel für stabile Arbeitsbeziehungen.

 

Hinweise:

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Weiterführende Literatur: Fach-Information Psychosoziale Notfallversorgung der BGHM: https://www.bghm.de/fileadmin/user_upload/Arbeitsschuetzer/Fachinformationen/Fachinformationen/FI-0027_Psychosoziale-Notfallversorgung.pdf (Stand 07/2018)
Hanne Sha und Thomas Weber: Trauer und Trauma. Die Hilflosigkeit der Betroffenen und der Helfer und warum es so schwer ist, die jeweils andere Seite zu verstehen. Asanger-Verlag , 2015

Ina Maria Tristl
Ina Maria Tristl

Ina Maria Tristl, Jahrgang 1971, arbeitet seit 30 Jahren mit Menschen. Seit 2015 berät und beschreibt sie als Fachwirtin im Gesundheitswesen und Fachkraft für Arbeitssicherheit kleine und mittelständische Betriebe im Gesundheitswesen. Sie unterrichtet an Berufsfachschulen und freien Bildungsträgern, und berät Lehrkräfte und Leitungspersonen. Darüber hinaus ist sie auch ehrenamtliche Kriseninterventionshelferin beim Roten Kreuz.