Kompetenzen beim Recruiting
Wir handeln voreingenommen, unfair und subjektiv. Selbst wenn wir nicht wollen, uns anstrengen, uns dessen bewusst sind und mittels Tools aktiv dagegen steuern. Unconscious Bias – unbewusste Vorurteile sind Stereotypen, die automatisch, unbeabsichtigt, tiefgründig, universell sind und unser Verhalten beeinflussen können. In der Bewerberauswahl und der Zusammensetzung von Teams führt dies dazu, dass wir „von Natur aus“ kaum Diversität zulassen und uns eher an dem Bekannten orientieren und mit Menschen umgeben, die uns ähnlich sind. Nach wie vor.
Sachlich und gründlich
Nun sind Chancengleichheit und Diversity nicht erst seit gestern erklärte Ziele der Politik und der Wirtschaft. Die schaffen wir vermeintlich, in dem wir uns auf Zertifikate, Abschlüsse und Noten verlassen. Stellenausschreibungen werden neutral formuliert, es wird auf Sprache, Vorurteilsfreiheit und Sachlichkeit abgezielt, wobei natürlich gleichzeitig das Besondere der Position, des Unternehmens, der Karrierechance im Vordergrund stehen soll. Im Recruiting wird mehr denn je auf Form und Vorarbeit Wert gelegt. Gründlichkeit soll unsere Unperfektheit heilen.
Was uns fehlt? Der Fokus auf den Menschen. Denn selbst die KI, die absolut wertfrei (also ebenso wertfrei wie die Menschen, die ihr die Kriterien beigebracht haben) auswählt, kann nur das beurteilen, was sie kennt.
Sicher werden wir so künftig mehr Diversität in Teams finden, aber wir werden nach wie vor nicht mit dem Unbekannten, dem Quereinsteiger, dem Querulanten umzugehen wissen. Wir werden das Unbekannte nach wie vor meiden und auch der Algorithmus der KI wird das tun, solange nicht jemand ihn mitsteuert (programmiert), der genau diese Kompetenzen wertschätzt!
Kompetenzorientiert
Und hier kommen unsere Kompetenzen ins Spiel. Was genau macht unsere Kompetenz aus? Kompetenzen erlernt und erlangt man durch Lebenserfahrung. Im Gegensatz zum aktiven Lernen in der Schule, der selbstgewählten Ausbildung, dem Studium erwerben wir Kompetenzen unbewusst, oft sogar gegen unseren Willen insbesondere durch negative Erfahrungen.
Kreativität, Präzision, Durchhaltevermögen, Teamgeist – alles keine Kompetenzen, die man im Hörsaal im Frontalunterricht lernt. Aber auch nichts, was durch ein Zertifikat belegt ist. Wo sammeln wir unsere Erfahrungen, Kompetenzen – und unsere Vorurteile?
Die vier Kompetenzdimensionen
Wer wir sind – wie wir lernen – wie wir arbeiten – was uns prägt.
1. Individuum – wer wir sind
Wie merke ich selbst, was an mir einzigartig ist? Je schneller sich die Welt dreht, desto sicher müssen wir selbst sein, dass wir kompetent sind – für den Job, für Beziehungen, für eben diese Herausforderungen der Zukunft. Innere Stärke und Kraft werden zunehmend wichtiger. Gefestigte, selbstbewusste Menschen – die werden es auch künftig leichter haben als solche, die in ihrem Leben wenig gestärkt wurden. Deren Kompetenzen nicht beachtet, nicht erkannt, nicht herausgebildet wurden. Und das sind nicht deckungsgleich Extrovertierte vs. Introvertierte.
Erste Kompetenz: Selbstwertschätzung
2. Bildung – wie wir lernen
Bildung beginnt mit der Geburt. Und damit immer auch mit einem sicheren Modell, wie erzogen wird, wie Zeit für Kinder zur Verfügung gestellt und anerkannt wird. Wenn wir in (Führungs)Positionen zunehmend selbstverständlicher von „Work Life Balance“ im Sinne einer flexiblen Zeitverteilung auf die unterschiedlichen Lebensaufgaben sprechen, sind Eltern- und Erziehungszeiten immer noch nicht gleichwertig anerkannt. Es ist allerdings genauso wenig anerkannt auf sie zu verzichten! Beides muss richtig sein dürfen – die Entscheidung ist individuell und damit fängt Kompetenzorientierung bereits hier an. Und setzt sich fort über Kita, Schule, Ausbildung und Studium.
In den „späteren“ Lernphasen (Studium und Weiterbildung) werden wir zunehmend dynamisch und kompetent. Kita und Grundschule proben zunehmend erfolgreich integrierte, inklusive und offene Lernkonzepte (ja, manchmal proben sie ein bisschen zu sehr…). Aber dazwischen klafft ein knapp 10 Jahre langes Loch sehr traditioneller und frontaler Schuldbildung. Hieran müssen wir definitiv arbeiten! Damit die kreative Kompetenz der ersten 10 Lebensjahre weiter getragen wird. Aktuell erlernen und lehren wir sie mit dem Jobeinstieg quasi wieder neu.
Zweite Kompetenz: lebenslanges Lernen
3. Unternehmen – wie wir arbeiten
Lebensläufe, Zertifikate, frühere Positionen, Titel, erbrachte Leistungen, erfolgreiche Projekte. Im besten Fall sind es diese Punkte, die auf den Wert eines Menschen im Job einzahlen. Aber wie messen wir künftig die Kompetenzen, die durch soziale Prägung, Erfahrung, Schicksal unter diesen Papierbögen (oder dem Bewerbungsformular mit Standardeingabemaske) verborgen bleiben? Legen wir dann den Liebesbrief des Partners, das Muttertagsbild der Tochter oder ein Empfehlungsschreiben des besten Freundes der Bewerbung bei? Vielleicht auch die Mitgliedschaft im Handballverein oder ein Bild des bienenfreundlichen Gartens?
Wir können so viel nicht bemessen und doch ist der Wert dieser Kompetenzen unglaublich wertvoll für die zukünftige Arbeitswelt. Denn gut rechnen kann auch die KI.
Dritte Kompetenz: Kommunikation & aktives Zuhören
4. Gesellschaft – was uns prägt
Kompetenzen zu erfragen, erfassen, aber auch zu ertragen: das macht Diversity und eine multiple Gesellschaft aus. Die brauchen wir und Social Entrepreneurship spielt in diesem Zusammenhang eine ganz große Rolle. Je mehr wir durchgehend miteinander und nicht gegeneinander agieren, je mehr der Leistungsgedanke „meines eigenen Erfolgs“ dem eines Gesamterfolgs weicht, desto eher kann eine Gesellschaft ihre Gesamtkompetenz ausspielen.
Vierte Kompetenz: Diversität & Kultur
Empathisch
Wo die technologisierte und digitalisierte Arbeitswelt immer schneller (effizienter, produktiver) wird, können wir durch Kompetenzorientierung einen Gegenpol bilden: Die gewonnene Zeit zunächst einmal wahrnehmen als solche und dann einsetzen für das Miteinander. Das werden wir brauchen und dann wirkt tech for good! KI schafft uns Freiräume für kreatives Denken, wenn wir aus den vier Dimensionen die genannten Kompetenzen ableiten, für uns individuell umsetzen und gemeinsam leben.
Wir müssen uns selbst kennen, Mut haben, neugierig sein, zuhören und verstehen.
Zukunftsorientiert
Wie genau kann dies nun im (Recruiting-)Prozess abgebildet und umgesetzt werden?
- Unconcious Bias: Die Beschäftigung hiermit muss in jeder HR Abteilung und bei allen, die im Bewerberprozess involviert sind, Pflichtprogramm sein! Wir entscheiden vor dem Hintergrund unserer gesammelten Erfahrung. Je stärker wir gemeinsam entscheiden, desto sicherer wird die Gesamtentscheidung, desto mehr gewinnen Fakten über Vorurteile.
- Wir arbeiten fast ausschließlich in Teams – also sollten wir auch so einstellen. Und zwar mit denen, die schließlich auch zusammenarbeiten. Nicht verkehrt, wenn Fachkenntnis, Bauchgefühl, Neugier und Erfahrung zusammentreffen. Das passiert selten in nur einer Person.
- Wir stellen keine Fragen im Vorstellungsgespräch, sondern lassen uns Geschichten erzählen!
- Wir bleiben authentisch und versuchen nicht alles auf einmal. Recruiting als Teamevent muss geübt werden. Und muss als ganzheitlicher Prozess in der Organisation verankert sein.
- Die schönste Candidate Journey darf nicht mit dem Jobstart enden! Individuelle Kompetenzen wertzuschätzen und zu nutzen heißt den Menschen zu betrachten. Nicht die humane Ressource. Unser Jobtitel sollte eigentlich nicht mehr oder weniger sein als unser Name. Klar, das ist überzogen, aber hilft im Hinterkopf jeden Tag wieder neu daran zu denken, dass mit dem Team viel mehr möglich ist als es die Stellenbeschreibungen vermuten lassen.
Innovativ
Eins muss absolut klar sein: Wer wenig Vorgaben macht, muss mit allem rechnen. Und Recruiting wird nicht einfacher – eine KI und unser Kompetenzansatz machen den Prozess transparenter und erhöhen die Chance, das „perfect match“ für´s Team zu finden – aber es wird aufwändiger.
Die KI kann helfen, den Unconcious Bias zu überwinden – aber sie hat kein Gespür für Risiko, Innovation und Individualität. Der Ansturm der Bewerber wird geringer? Nutzen Sie die gewonnene Zeit und investieren Sie diese in Menschen!
Hinweise und Quellen:
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Auf doppel[t]spitze.de finden Sie interessante Informationen zu den beiden Autoren Julia Collard und Sven Schnitzler. Sehr lesenswert ist auch ihr bekannter Digital Blog.
Julia Collard und Sven Schnitzer haben einige weitere Beiträge im t2informatik Blog veröffentlicht, u.a.
Julia Collard & Sven Schnitzler
Julia Collard und Sven Schnitzler sind Doppel[t]spitze. Netzwerken & Lernen sowie der persönliche und virtuelle Austausch von Wissen sind ihre Leidenschaften. Als Wissensnetzwerker machen sie Meinungen, Menschen, Unternehmen und deren Arbeit sichtbar. Innovatives Arbeiten bedeutet dabei, dass sie ohne Machtspiele & Konkurrenzdenken auskommen und die individuelle Leistung, die Anstrengungen und die Ideen im Vordergrund stehen.
Doppeltspitze heißt, dass Julia und Sven im Tandem in ihrer Agentur innovative und praktische Online-Marketing-Konzepte entwickeln und umsetzen. Eine klare Marketingstrategie ist der Schlüssel zum Erfolg. Im Mittelpunkt stehen immer Menschen und ihre Geschichten. „Teil deine Story“ kann so viel aussagen – Storys verbinden Menschen, Unternehmen und Abteilungen. Sie machen sichtbar und wirken. So leben Julia & Sven Marketing.