Chancen und Grenzen der Selbstorganisation

Gastbeitrag von | 11.05.2023

In letzter Zeit ist zu beobachten, dass immer mehr Unternehmen Interesse an Selbstorganisation zeigen. Oft wird sie zusammen mit New Work oder agiler Transformation aufgeführt. Doch was genau verbirgt sich hinter Selbstorganisation? Wann ist sie hilfreich und wann nicht? Welche Voraussetzungen gibt es und wo stößt sie an Grenzen?

Was ist Selbstorganisation?

Selbstorganisation bedeutet, dass eine Organisationseinheit seine Strukturen selbst festlegt. Sie wird also nicht von einer äußeren Instanz oder Person gesteuert. Es werden keine Anweisungen verteilt, sondern Probleme.¹ Konkret betrifft die Selbstorganisation damit zahlreiche Bereiche wie die Arbeitsteilung, den Umgang mit aufkommenden Problemen und neuen Fragestellungen, interne Regeln, die Kommunikation untereinander und nach außen, aber auch die Art und Weise wie Entscheidungen getroffen werden.

Im Arbeitsalltag entsteht so eine Vielzahl an Themen, die eigenständig bearbeitet oder geklärt werden müssen. Es bildet sich eine Art Entscheidungsvakuum. In einer klassisch hierarchischen Organisation ist die strukturelle Entscheidungskompetenz formal einer Führungskraft zugeordnet. Diese kann das Vakuum schnell durch Ansagen auflösen. Die Schlussfolgerung liegt nahe, dass dieser Weg der effizientere ist. Wo liegt also der Nutzen von Selbstorganisation? Die Antwort liegt in der Art des Problems, das es zu lösen gilt.

Anpassungsfähigkeit nach Außen

Die sehr hohe Marktdynamik, die heutzutage herrscht, erfordert es, dass Unternehmen schnell auf neue Kundenprobleme und Marktveränderungen reagieren müssen. Freiräume für Ideen und Experimente sind ausschlaggebend für langfristigen Erfolg. Das größte Potenzial von selbstorganisierten Teams liegt in der Geschwindigkeit und dem Ideenreichtum, mit denen auf solche Veränderungen reagiert werden kann. Dafür ist es notwendig, dass die selbstorganisierten Einheiten direkt mit den Kundenproblemen und der Konkurrenz am Markt konfrontiert werden. Tritt beispielsweise ein neues oder verändertes Kundenproblem auf, kann sofort gehandelt und die Probleme dort gelöst werden, wo sie auftreten. Lange Rücksprachen mit Vorgesetzten werden vermieden. Dort lauert sogar die Gefahr von schlechteren Entscheidungen, da diese häufig gar nicht die nötige konkrete operative Expertise besitzen. Die Erfahrungen, welche die Einheit am Problem macht, kann sie nutzen, um Strukturen anzupassen und neue Herangehensweisen zu etablieren. Ganz aus sich selbst heraus. Ein Unternehmen kann sich auf diese Weise einen echten Wettbewerbsvorteil verschaffen.

Klassische hierarchische Strukturen haben hier einen bedeutenden Nachteil: Entscheidungen müssen immer über die Führungskraft gehen oder in vielen Fällen mehrere Ebenen des Unternehmens durchlaufen, bevor Änderungen legitimiert und freigegeben werden. In der Zeit ist der Kunde womöglich bereits zur Konkurrenz weitergezogen.

Steuerung für Effizienz

Selbstorganisation ist jedoch nicht für alle Problemstellungen geeignet. Die Dynamik des Marktes wirkt auf nur 10 bis 40 Prozent aller Tätigkeiten eines Unternehmens.² Es ist durchaus sinnvoll, Aufgaben, für die es bereits bewährte und etablierte Lösungen gibt, mit Steuerungslogiken zu begegnen, um klare Abläufe, Regeln und Entscheidungswege sowie Kontrolle und Optimierung von Prozessen zu garantieren. Organisationsstrukturen oder Prozesse können in diesen Fällen von außen über die Hierarchie angepasst und gesteuert werden, um maximale Effizienzgewinne zu erzielen.

Ein Unternehmen steht heutzutage somit in erster Linie vor der Herausforderung zu erkennen, welche Probleme durch Steuerung und welche durch Selbstorganisation gelöst werden können und sollten.

Motivation durch Selbstorganisation

Häufig wird Selbstorganisation in Unternehmen als eine Maßnahme für mehr Motivation und Zufriedenheit der Mitarbeitenden genannt. Selbstorganisierte Teams sind jedoch nicht das geeignete Mittel, um Mitarbeitende glücklich zu machen oder ein bisschen “New Work Feeling” ins Unternehmen zu bringen.

Mitarbeitende sind besonders dann motiviert und zufrieden, wenn sie in ihrer Arbeit Wirksamkeit erleben. Wenn sie sehen, dass das, was sie tun, einen Effekt hat. Mitarbeitende empfinden Stolz, wenn sie durch ihre Arbeit das Unternehmen erfolgreich machen.

Viel Frustration entsteht unter anderem dann, wenn Mitarbeitende dort Steuerung durch eine Führungskraft erleben, wo sie selbst die Expert:innen sind und bereits eine Idee für die Lösung des Kundenproblems haben. Werden diese Ideen erst einer Vorabprüfung unterzogen, wird der Prozess nicht nur verlangsamt. Auch führt so eine Kontrolle dazu, dass Ideen nicht mehr am Kundenproblem oder am konkurrierenden Markt ausgerichtet, sondern an die Erwartung der Vorgesetzten angepasst werden. In vielen Fällen führt es sogar dazu, dass gar keine Ideen mehr vorgebracht werden. Ideen brauchen Freiräume und Unternehmen tuen klug daran, diese einzuräumen und zu schützen.

In den Tätigkeitsbereichen, in denen Steuerung und Effizienz passend sind, verhält es sich genau umgekehrt. Wenn zu wenige angemessene Strukturen und Regeln vorhanden sind, müssen wiederkehrende Probleme ständig erneut besprochen und behandelt werden. Das kann eine Organisation ebenso überfordern und die jeweils empfundene Wirksamkeit negativ beeinflussen. Denn Zufriedenheit entsteht auch dann, wenn wiederkehrende Aufgaben gut und schnell erledigt werden können. Auch hier muss die Lösung zum Problem passen.

Selbstorganisation einführen

Selbstorganisation im Unternehmenskontext braucht immer eine hierarchische Legitimation. Ihr Erfolg ist davon abhängig, ob die Führungskraft, die Geschäftsführer:in, die Eigentümer:innen sie unterstützt und gewissermaßen erlaubt. Ohne ein klares Bekenntnis hierzu gibt es keine echte Selbstorganisation und die Potenziale daraus können nicht genutzt werden können.

Selbstorganisiertes Arbeiten im Unternehmenskontext muss (wieder)erlernt werden. Die Reife der Organisation, nicht der einzelnen Personen, ist von Bedeutung. Denn Selbstorganisation als solche steckt tief in uns Menschen. Wir sind es gewohnt, uns in wechselnden Konstellationen gemeinsam abzustimmen, Ideen zu generieren und auszuhandeln, jeden Tag Entscheidungen zu treffen und Pläne auf verschiedenste Ereignisse hin anzupassen. Doch genau diese Fähigkeit wird im Unternehmenskontext oftmals erodiert. Um sie wiederzuerlangen, ist eine Begleitung durch interne oder externe Expert:innen hochgradig sinnvoll. Nicht zuletzt, um Selbstreflexion zu fördern und die Analysefähigkeiten der eigenen Strukturen und Denkmuster zu trainieren.

Ohne klaren Legitimationsrahmen, der Ausrichtung an echten Kunden- und Marktproblemen und der Möglichkeit des Ausprobierens und des Übens, kann Selbstorganisation schnell in Selbstüberlassung umschlagen.

Die Rolle der Führungskraft eines selbstorganisierten Teams ändert sich ebenfalls. Sie hat vornehmlich die Aufgabe diesen Raum der Selbstorganisation aufrechtzuerhalten und gegen äußere Einflüsse zu schützen. Sie muss beratend zur Seite stehen und das Team in aller Transparenz mit dem nötigen Wissen und Informationen versorgen. Steuernde Einflussnahme gehört jedoch nicht mehr zu den Aufgaben.

Bedrohung der Selbstorganisation

Neben den bereits erwähnten Bedrohungen sollten sogenannte Steuerungsreflexe beobachtet werden. Sie treten besonders dann auf, wenn Unsicherheiten oder Schwierigkeiten aufkommen, wenn Disruption und Krisen den Markt beeinflussen oder aber wenn einzelne Vorhaben scheitern. Dann erleben Unternehmen häufig, oft gefühlten, Kontrollverlust und reagieren mit Steuerungsreflexen. Jegliche Selbstorganisation wird als Impuls einkassiert und hierarchischen Entscheidungsstrukturen untergeordnet. Aber gerade in Situationen hoher Komplexität und Dynamik sind Freiräume für unkonventionelle Ideen und kreative Lösungen gefragt.

Obwohl der Impuls der Steuerung in schwierigen Situationen nachvollziehbar ist und sich logisch anfühlt, ist dieser häufig nicht die Antwort auf ein Problem, sondern verstärkt dieses eher noch. Gerade in diesen herausfordernden Situationen ist eine schnelle Reaktion auf die Marktdynamik und das Vertesten neuer Ideen essenziell.

Fazit

Selbstorganisation kann riesige Potenziale freisetzen – allerdings nur, wenn sie für die richtigen Probleme eingesetzt wird und unmittelbar der Wertschöpfung des Unternehmens dient. Eingeführt als Selbstzweck zur vermeintlichen Motivationssteigerung oder als falsch verstandene New Work-Maßnahme wird der Erfolg ausbleiben. Mehr Zufriedenheit kann durchaus ein Nebenprodukt von Selbstorganisation sein, aber nur wenn sie dazu dient, dass Menschen sinnvolle und wirksame Arbeit leisten können.

Die Stärke von selbstorganisierten Teams liegt in der Bewältigungskompetenz, welche sie beim direktem Kunden- und Marktkontakt entwickeln sowie der Adaptionsgeschwindigkeit bei Änderungen des Marktes. Steuerungsreflexe müssen dabei bemerkt, hinterfragt und ihnen entgegengewirkt werden. Selbstorganisation erfordert den Freiraum, ausprobieren und auch scheitern zu dürfen. Wichtig ist, daraus zu lernen. Reflexion ist dafür essenziell.

Wenn ein Unternehmen es schafft, Selbstorganisation an den richtigen Stellen einzusetzen und Steuerung dort weiter zu nutzen, wo Effizienz im Vordergrund steht, hat es gute Chancen langfristig erfolgreich zu sein. Die Grenzen müssen regelmäßig beobachtet und neu ausgelotet werden. Dann kann das volle Potenzial der Mitarbeitenden genutzt werden.

 

Hinweise:

[1] vgl. Denkzettel 4: Zentrum und Peripherie – ungewollte Struktur von Unternehmen
[2] vgl. Denkzettel 5: Steuerung und Führung – die zwei Seiten dynamikrobusten Managements

Wenn Ihnen der Beitrag gefällt oder Sie darüber diskutieren wollen, teilen Sie ihn gerne in Ihrem Netzwerk. Und falls Sie sich für weitere Tipps aus der Praxis interessieren, dann testen Sie gerne unseren wöchentlichen Newsletter mit neuen Beiträgen, Downloads und Empfehlungen.

Diesen Beitrag finden Sie auch im kostenlosen Blogpaper Selbstorganisation – Sechs Perspektiven auf Selbstorganisation.

Blogpaper Selbstorganisation Download

Jennifer Pelz hat einen weiteren Beitrag im t2informatik Blog veröffentlicht:

t2informatik Blog: Microfrontends - Konzept und Implementierung

Microfrontends – Konzept und Implementierung

Jennifer Pelz
Jennifer Pelz

Jennifer Pelz ist Full Stack Softwareentwicklerin und machte ihren Master in Internationaler Medieninformatik in Berlin. Als Autorin von Fachartikeln und Speakerin auf Konferenzen befasst sie sich neben ihrer Leidenschaft für die Frontend-Entwicklung außerdem mit Themen rund um die agile Softwareentwicklung in Großprojekten, verteilte Systeme und Architekturen sowie Selbstorganisation in Unternehmen.

Jennifer arbeitet bei der Qudosoft, einer selbstorganisierten, und hierarchiefreien Softwareentwicklungs-Firma, die seit 2018 sogar ohne operativen Geschäftsführer zurechtkommt.

Fanny Lüth
Fanny Lüth

Fanny Lüth arbeitet bei Qudosoft und unterstützt Unternehmen als Organisationsdesignerin bei der Transformation. Bereits während ihres Studiums der Erziehungswissenschaften in Chicago und Berlin reizte sie die Frage, wie Organisationen lernen.

Heute analysiert und gestaltet sie Unternehmensstrukturen und -prozesse und coacht Teams und Führungskräfte unter anderem bei der Einführung von Selbstorganisation.