Agile Washing

Gastbeitrag by | 26.08.2024

Echte Agilität erkennt man am kleinen “a”

Warum ist Agile nach so langer Zeit eigentlich immer noch ständig in aller Munde? Das häufig zitierte Agile Manifesto wurde immerhin vor über zwei Jahrzehnten veröffentlicht – nur mal, um eine grobe Einordnung zu haben.

Und dennoch fliegen einem ständig die immer selben Buzzwords um die Ohren und einschlägiges Vokabular erscheint allgegenwärtig: Kaum ein Post auf Business-Netzwerken ohne Agile Floskeln, angedichtetem Akronym aus der artverwandten “New-Work-Bubble” oder einer anderen Färbung aus dem “Agile Tuschkasten”. Doch nicht nur auf einschlägigen Social-Media-Kanälen, sondern auch in den Unternehmen selbst begegnen einem die vermeintlichen “Immer-Pass”-Begriffe.

Eigentlich greift sich so mancher Begriff nach einiger Zeit ab und wird in der Hoffnung auf neue Wirksamkeit durch andere ersetzt – Zeitgeist trifft eben nicht nur auf die Mode zum Tragen zu, sondern auch auf Management-Moden.

Agile aber hält sich hartnäckig und es entsteht vehement der Eindruck: wer heutzutage nicht längst Agile ist oder zumindest die eigene Agile Transformation gestartet hat, hat schon verloren. Doch… was eigentlich?

Wozu dient der andauernde Hype? Was ändert sich dadurch noch nach so langer Zeit? Und würde etwas passieren, wenn man es einfach ignorieren würde?

Ein adäquater Name für das Phänomen

Immer wieder werden Beiträge in Timelines der Business Social Media gespült, die vom agilen Standpunkt aus allerlei Effekte in Unternehmen beklagen, wie z.B. die Ignoranz gegenüber Werten, und dies “Agile Washing” nennen.

Das Phänomen hat also schon einen Namen, sehr gut. Und mit einem gemeinsamen Verständnis davon wird es nun besprechbar. Die Analogie zum “Green Washing” liegt zunächst auf der Hand:

💡 Unternehmen leisten in erster Linie Fassadenarbeit, ohne wirklich etwas zu verändern.

In folgendem Text soll es nun darum gehen, mit geschärftem Blick auf die Situation zu schauen und dieses Verständnis zu unterstützen. Ein Versuch, nicht nur dafür zu sensibilisieren, welche Nutzen eigentlich hinter den Praktiken des “Agile Washing” stehen können, sondern auch dafür, wie man echte Agilität bzw. den Bedarf danach überhaupt erkennen kann.

Was genau ist Agile Washing?

Die Praktiken des Agile Washing zielen in erster Linie darauf ab, ein entsprechend agiles Image aufzubauen und wenn überhaupt nachgelagert darauf, mittels Agilität einem tatsächlichen Problem zu begegnen.

Heute erlebe ich oft in Organisationen, dass sie an der Oberfläche zwar durchaus agil aussehen, sie sind es aber nicht: es lassen sich beispielsweise einschlägige Praktiken beobachten, Vokabular wird verwendet, manchmal werden gar wettbewerbstauglich Zertifikate vorgezeigt. Bei den eigentlichen Problemen jedoch hat sich nichts geändert – die Unternehmen sind nur vermeintlich agil.

Schaut man sich genauer in diesen Unternehmen um, sind auch die Versprechungen, von denen man durch Einführung agiler Praktiken vielleicht zu profitieren glaubte, nicht eingetreten und man sucht oft vergebens nach passenden Beweisen. Doch weder ist man schneller, noch (qualitativ) besser geworden. Keine Spur von der herbei gewünschten Innovation, vom erhofften Wettbewerbsvorteilen ganz zu schweigen. Kurzum:

💡 Von tatsächlicher Agilität ist abseits einer organisationalen Schauseite nichts zu entdecken.

Vorsicht, Verwechslungsgefahr!

Die aufgesetzte agile Tarnkappe verbirgt Probleme und Unzulänglichkeiten der Wertschöpfung manchmal noch besser, als dies zuvor der Fall war. So schlummert weiter im Verborgenen, was eigentlich ins Bewusstsein der Organisationen müsste, so dass sich darum gekümmert werden könnte. Dies kann problematisch sein – nicht nur für größere Unternehmen, sondern immer häufiger auch für KMU, die unter dem Deckmantel des Fachkräftemangel händeringend nach geeigneten Auswegen suchen und dabei all zu oft in die Agile Falle tappen.

Gut gemachtes Agile Washing und echte Agilität sehen sich nämlich bei oberflächlicher Betrachtung zum Verwechseln ähnlich. Schaut man jedoch genauer hin, kann man erkennen, dass sie ganz unterschiedliche Problemstellungen im Visier haben: Während echte Agilität eine Möglichkeit bieten kann, die Reaktionsfähigkeit von Teams und Unternehmen in dynamischen Umfeldern zu erhöhen, zielt gut gemachtes Agile Washing primär darauf ab, ein entsprechendes Image vorzugaukeln. Man könnte auch Etikettenschwindel dazu sagen.

Und tatsächlich gibt es sogar (mindestens) zwei Perspektiven, aus denen heraus das Vorgehen nützlich für Unternehmen sein kann:

  1. Man möchte als attraktiver Arbeitgeber wahrgenommen werden. Ein entsprechend agiles Image funktioniert besser im Arbeitsmarkt und kann ein wirksamer Versuch sein, z.B. Fachkräftemangel zu begegnen.
  2. Ein inneres Narrativ von Unternehmen wird genährt: “wir sind es auch, dieses Agile – kein Grund, dass ihr euch umschaut, liebe Mitarbeitende”.

💡 Durch die anhaltende Vergegenwärtigung agilen Vokabulars ist ein “kultureller Konformitätszwang” entstanden.

Es gehört schlicht zum guten Ton, aktuellen und künftigen Mitarbeitenden ein agiles Arbeitsumfeld zu bieten. Oder anders formuliert: Wer nicht agil (transformiert) ist, verliert an Attraktivität bei Talenten. Und dass man auch mitspielt, stellt man dann gern zur Schau.

💡 Agile Washing als “Maßnahme gegen Fachkräftemangel” und zur “Kündigungs-Prophylaxe” könnte man auch sagen.

Ganz Zeitgeist eben. Und so ist es nicht nur für den unbedarften Bewerber ein passables Ablenkungsmanöver von eigentlichen Problemstellungen, sondern stabilisiert auch Gegebenheiten innerhalb der Unternehmen und manifestiert so tendenziell den Status quo, statt frischen Wind zu bringen.

Back to basics – saubere Sprache hilft

Ist Ihnen beim Lesen der Einleitung aufgefallen, dass ich “Agile” als Hauptwort verwendet habe? Vermutlich nicht und genau das zeigt, wie selbstverständlich sich dieses “Agile” inzwischen in den Sprachgebrauch eingefügt hat. Verrückt eigentlich, oder?

Ein guter Trick ist in diesem Fall, sich nicht vom Anglizismus her zu nähern. Warum?

Weil es die ganze Bubble rund um “Agile” auf das reduzieren könnte, was es eigentlich sein sollte: ein simples Adjektiv. Kein aufgeladenes “Agile”, sondern schlicht: agil.

Die Suche nach einer Definition fördert sodann folgende Information zutage¹:

agil als Adjektiv - Echte Agilität erkennt man am kleinen "a"

Anders ausgedrückt also: flexibel sein zu können, flexibel handeln zu können. Wenn man diese Grundlage berücksichtigt, kann man passende Fragen stellen:

  • Wer oder was sollte denn flexibel sein sollte und warum eigentlich?
  • Welche Problemstellung könnte von agilen Verhaltensweisen profitieren und welche könnten das konkret sein?
  • Welchen Unzulänglichkeiten sollte mit mehr Wendigkeit begegnet werden?

Sicherlich fallen Ihnen leicht weitere Fragen ein.

Echte Agilität (er)kennen lernen

Echte Agilität kann nicht eingeführt oder gemacht werden. Flexibles Handeln zeigt sich fast automatisch, wenn es helfen kann: oft in Gegenwart dynamischer Problemstellungen und umso wahrscheinlicher, je besser der unmittelbare Kontext dynamiksensibel reagiert und Bedingungen bereit hält, die förderlich sein können, beispielsweise kompatible Entscheidungsrahmen.

Anmerkung: Dies erhöht nur die Wahrscheinlichkeit und ist nicht kausal zu verstehen. Flexibilität ist nicht machbar, sondern stets als Reaktion auf Dynamik zu beobachten. Die Kapazitäten, die entsprechende Verhaltensweisen wahrscheinlicher machen, können mehr oder weniger nachhaltig organisational vorgehalten und/oder erlernt werden.

💡 “Funktioniert” Agilität augenscheinlich nicht, ist dies also eher ein Spiegel dysfunktionaler Management-Instrumentarien als unwilliger Mitarbeitender oder deren Mindset.

Dass man auf dem Holzweg ist, kann man häufig relativ schnell entlarven:

Wird Agilität als Fremdkörper wahrgenommen, als etwas, das die Wertschöpfung bedroht, statt zu verbessern, entwickeln sich typischerweise Kompensationsmechanismen, die man auch Anti-Pattern nennen könnte. Einige davon treten bereits in der Anbahnung von Vorhaben auf, die von flexiblen Ansätzen profitieren würden:

  • Vorbereitungsphasen (z.B. Sprint Null)
  • Staffing-Entscheidungen (Rolle XY wird nur davor / erst danach benötigt)
  • Funktionale Entzerrungen (die Arbeitsweise von Disziplin XY ist nicht kompatibel mit dem Vorgehen)
  • (Lokale) Optimierungen aus Effizienzanspruch
  • Vordefinierte Definition of Done
  • Pseudo-Entscheidungen und Appelle

Gepaart mit einer Prise Rückschaufehler (hindsight bias) und Bestätigungsfehler (confirmation bias) begünstigt dies einen idealen Nährboden für richtig gutes Theater.

Einige typische Indikatoren für agiles Handeln

Die Chance auf ein neues dysfunktionales Setup ist also groß. Zumindest, wenn nicht genauer hingeschaut wird. Doch wo ist agiles Handeln eigentlich passend und wie lässt es sich dann beobachten?

Die Fähigkeit, flexibel zu reagieren, ist überwiegend da hilfreich, wo (noch) kein Wissen vorhanden oder mit kontinuierlichen Veränderungen zu rechnen ist. Auf unbekanntem Terrain sozusagen. Ist dies gegeben, lassen sich – typischerweise – folgende Verhaltensweisen beobachten:

  • Nähe des/der Teams zum Markt sowie zu Nutzern der Arbeitsergebnisse (beziehungsweise der Wunsch danach) – der Einsatz einer Methode oder eines Labels qualifiziert nicht
  • Ausbalancieren interner Anforderungen und externer Bedarfe im Bestreben, sowohl die gebotene Stabilität als auch Dynamik konstruktiv zu nutzen
  • Häufiges, insbesondere bewusstes Umpriorisieren aufgrund veränderter Parameter oder Erkenntnissen, die in erster Linie externen Ursprungs sind – also Markt und/oder Nutzer repräsentieren
  • Generell bewusster Umgang mit Veränderungen, regelmäßiges Hinterfragen und Überprüfung der Wirksamkeit
  • Kein universeller Anspruch an fertig, final oder irgendeine andere Form von Vollständigkeit bezüglich des Arbeitsergebnisses, um anhaltender Dynamik Rechnung tragen zu können

Natürlich ist diese Auflistung unvollständig und im Detail interpretierbar, dennoch eignet sie sich als passable erste Navigationshilfe.

Und wozu das alles?

Weiß man nicht, wie man echte Agilität erkennen kann, passt man vielleicht versehentlich auf Methoden oder Rituale auf – und stabilisiert so Dysfunktion oder erliegt gar Skalierungsbestrebungen. Es ist hilfreich, den Blick zu schulen, um Zusammenhänge zwischen den Geschehnissen und Informationen zum Kontext sehen und einordnen zu können.

💡 Erst wenn echte Agilität erkannt wird, kann sie auch beschützt werden und weiterhin die Probleme lösen, für die sie auch eine Lösung sein kann.

Dann, und nur dann – wenn die Lösung auch zum Problem passen kann – stellen sich die Versprechungen und damit verbundenen Effekte ein.

 

Hinweise:

Haben Sie weiteres Interesse an diesem oder weiteren Organisationsthemen? Thomas Rühl freut sich auf einen Austausch! Über LinkedIn ist er leicht zu erreichen.

[1] Duden: agil

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Thomas Rühl
Thomas Rühl

Thomas Rühl war viele Jahre als Entwickler tätig, bevor er sein Faible für Beratung und Agilität entdeckte.

Heute arbeitet er bei der AOE GmbH und berät agile Teams und Unternehmen als Organisationsdesigner. Dabei fungiert er auch als Sparring-Partner für Fragestellungen rund um Leadership und moderne Unternehmensführung. Zudem teilt er als Autor Erkenntnisse aus Beratungsmandaten und macht auf typische Fallstricke aufmerksam.